10. Kapitel Der lange Hügelweg
Bert gelangte zur Werkstatt und belud so schnell wie möglich den Handkarren mit den Sachen, nach denen man ihn ausgesandt hatte; dann machte er sich auf den Rückweg. In der Stadt kam er recht gut voran, weil die mit Holzklötzen gepflasterten Straßen glatt und eben waren. Wäre nur der ganze Weg so gewesen, dann wäre er ihm nicht allzu schwer gefallen, wenn er auch ein recht kleiner Junge war für einen so großen Karren und eine so schwere Last. Solange er sich auf der holzgepflasterten Straße befand, war die Hauptschwierigkeit die, zu übersehen, wohin er fuhr, denn der Karren war so hoch beladen, und er war so klein. Natürlich machte es die Leiter auf dem Wagen nur noch schlimmer. Unter Anwendung großer Vorsicht gelang es ihm jedoch, gut durch die Stadt zu kommen, obschon er gerade nur eben vermied, mit einigen Fahrzeugen zusammenzustoßen, darunter zwei, drei Autos und eine Straßenbahn, und beinahe hätte er eine alte Frau umgefahren, die ein großes Wäschebündel trug. Von Zeit zu Zeit traf er andere kleine Jungen seiner Bekanntschaft, einige davon frühere Schulkameraden. Manche von ihnen schleppten schwere Lebensmittelkörbe, andere hölzerne Bretter mit Fleischkeulen darauf.
Leider hörte das Holzpflaster gerade da auf, wo der Weg zu steigen begann. Bert befand sich jetzt am Anfang einer längeren Schotterstraße, die bis zu ihrem Ende langsam und hartnäckig bergan führte. Schon viele Male hatte Bert einen Karren diese Straße hinaufgeschoben und kannte daher die beste Methode, um mit ihr fertig zu werden. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein Frontalangriff auf diese Straße misslingen musste, und so wandte er auch diesmal seine gewohnte Taktik an, diagonale Bewegungen auszuführen und die Straße wiederholt von; rechts nach links und von links nach rechts zu überqueren, wie ein Segelschiff gegen den Wind kreuzt, und etwa alle zwanzig Meter zu halten, um sich auszuruhen und Atem zu schöpfen. Die Entfernung, die er jeweils zurücklegte, war;
nicht so sehr davon bestimmt, wie weit seine Kraft reichte, als vielmehr durch verschiedene Gegenstände am Rande der Straße - die Laternen zum Beispiel. Während einer Ruhepause blickte er schon immer nach vorn und bestimmte einen Laternenpfahl oder eine Straßenecke als nächste Haltestelle, und wenn er dann weiterfuhr, machte er verzweifelt die heftigsten Anstrengungen, diesen Punkt zu erreichen.
Meistens war das Ziel, das er sich ausgesucht hatte, zu weit entfernt, denn gewöhnlich überschätzte er seine Kraft, und jedes Mal, wenn er gezwungen war nachzugeben, schob er den Karren gegen den Bordstein und stand dort, nach Atem ringend und schwer enttäuscht über sein Versagen.
Bei einer dieser Pausen wurde er sich plötzlich bewusst, dass er schon sehr lange unterwegs war; er musste sich beeilen, oder es würde Krach geben: noch nicht einmal die Hälfte der Straße hatte er zurückgelegt!
Er wählte einen entfernt stehenden Laternenpfahl aus und beschloss, erst wieder zu rasten, wenn er dort angelangt war.
Der Karren hatte eine einzige Deichsel mit einem Querholz vorn, das als Handgriff diente; diesen umklammerte Bert grimmig mit beiden Händen, stemmte die Brust dagegen, und mit heftiger Anstrengung schob er den Wagen vor sich her.
Der schien mit jedem Fußbreit Wegs schwerer zu werden. Berts ganzer Körper schmerzte entsetzlich, besonders seine Schenkel und Waden; trotzdem aber mühte er sich ab, kämpfte und sagte sich, er werde nicht nachgeben, bis er den Laternenpfahl erreicht hätte.
Da der Griff auf den Brustkasten drückte, schob er ihn zum Magen hinab; das war aber noch schmerzhafter, und so setzte er ihn wieder gegen die Brust und kämpfte sich wildentschlossen vorwärts; er rang nach Atem, und sein Herz klopfte zum Zerspringen.
Schwerer und schwerer wurde der Wagen. Nach einer Weile schien es dem Jungen, als versuchte vorn jemand, ihn den Berg wieder hinunterzustoßen. Diese Vorstellung war so komisch, dass sie ihn einen Augenblick lang zum Lachen reizte, aber das Bedürfnis verschwand fast sogleich,
nachdem es gekommen war, und wurde von der Furcht abgelöst, er werde doch nicht lange genug aushalten, um den Laternenpfahl zu erreichen. Mit zusammengebissenen Zähnen machte er noch einmal eine furchtbare Anstrengung, stolperte zwei bis drei Schritte vorwärts, und dann - hielt der Wagen. Verzweifelt kämpfte Bert einige Sekunden lang mit ihm, aber plötzlich hatte ihn alle Kraft verlassen, seine Beine waren so schwach, dass er fast zu Boden sank, und der Karren begann bergab zurückzufahren. Bert war gerade noch fähig, sich daran festzuhalten und ihn zu lenken, so dass der Wagen gegen den Bordstein stieß und dort zur Ruhe kam. Halb betäubt, sehr blass, schweißüberströmt und zitternd stand der Junge und hielt den Karren. Besonders seine Beine bebten so heftig, dass er dachte, wenn er sich nicht ein wenig hinsetzen könne, werde er hinfallen.
Vorsichtig ließ er den Griff hinunter, um nicht die Schlämmkreide aus dem Eimer zu vergießen, der an einem Haken unter dem Karren hing; dann setzte er sich auf die Bordschwelle und lehnte sich müde gegen das Rad.
Etwas weiter unten an der Straße stand eine Kirche mit einer Turmuhr. Sie zeigte fünf Minuten vor zehn. Bert nahm sich vor, wenn es zehn Uhr sei, werde er wieder aufbrechen.
Während er ruhte, kam ihm mancherlei in den Sinn. Gerade hinter der Kirche lag ein Feld mit mehreren Teichen, zu denen er mit den anderen Jungen immer Stichlinge fangen ging. Hätte er nicht den Karren gehabt, so wäre er jetzt einmal hinübergegangen, um nachzusehen, ob es dort noch immer welche gab. Er erinnerte sich, er war sehr begierig gewesen, die Schule zu verlassen und arbeiten zu gehen, aber eigentlich war es doch eine schöne Zeit gewesen.
Dann dachte er an den Tag, an dem ihn seine Mutter in Mr. Rushtons Büro brachte, um ihn zu „verpflichten". Er erinnerte sich dieses Tages sehr lebhaft: fast ein Jahr war es her. Wie aufgeregt er gewesen war! Seine Hand hatte so gezittert, dass er kaum die Feder halten konnte. Und nachdem bereits alles vorüber war, hatten sie sich beide noch immer irgendwie sehr elend gefühlt. Seine Mutter war im Büro gleichfalls sehr aufgeregt gewesen, und als
sie nach Hause kamen, weinte sie heftig, presste ihn an sich, küsste ihn, nannte ihn ihren armen kleinen vaterlosen Jungen und sagte, sie hoffe, er werde sich gut aufführen und sich bemühen, gut zu lernen. Dann weinte er ebenfalls und versprach ihr, sein Bestes zu tun. Mit Stolz überlegte er, dass er sein Versprechen, er werde sich gut betragen und zu lernen versuchen, gehalten hatte: tatsächlich verstand er bereits eine ganze Menge von seinem Handwerk - Hintertüren konnte er so gut anstreichen wie nur irgendeiner, und Geländer ebenfalls! Owen hatte ihn viele Dinge gelehrt und versprochen, einige Marmoriermuster für ihn anzufertigen, damit er sich abends zu Hause darin üben konnte, sie zu kopieren. Owen war ein feiner Kerl. Bert beschloss, ihm mitzuteilen, was Crass zu Easton gesagt hatte. Man stelle sich vor, was für eine Frechheit von einem nichtsnützigen Kerl wie Crass, zu versuchen, Owen hinauszudrängen! Eher mochte Crass selbst hinausgesetzt werden, damit Owen Vorarbeiter werden konnte.
Eine Minute vor zehn.
Schweren Herzens beobachtete Bert die Uhr. Seine Beine schmerzten noch arg. Er konnte nicht sehen, wie sich die Uhrzeiger bewegten, aber sie krochen trotzdem weiter. Jetzt war der Minutenzeiger über den Rand der Zahl hinausgelangt, und Bert begann zu überlegen, ob er nicht noch fünf Minuten ausruhen konnte? Aber er war schon so lange unterwegs, dass er den Gedanken fallenließ. Der Minutenzeiger stand jetzt senkrecht, und es war höchste Zeit weiterzugehen.
Gerade als er sich erheben wollte, sagte eine raue Stimme hinter ihm:
„Wie lange willste denn da noch sitzen?"
Schuldbewusst fuhr Bert auf und sah sich Mr. Rushton gegenüber, der ihn mit ärgerlichem Stirnrunzeln betrachtete, während dicht daneben die riesige Gestalt des feisten Sweater aufragte, dessen fettes Gesicht den Kummer widerspiegelte, den er angesichts eines so furchtbaren Beispiels jugendlicher Verworfenheit empfand.
„Was denkste dir denn bloß mit so 'nem Benehmen?" fragte Rushton entrüstet. „So was, hier zu sitzen, wo doch die Leute wahrscheinlich auf die Sachen warten!"
Puterrot vor Scham und Verwirrung schwieg der Junge.
„Du sitzt da schon lange", fuhr Rushton fort. „Ich hab dich die ganze Zeit beobachtet, wo ich die Straße runterkam!"
Bert versuchte zu sprechen, zu erklären, weshalb er sich ausgeruht hatte, aber sein Mund und seine Zunge waren vor Entsetzen wie ausgedörrt, und er konnte kein einziges Wort hervorbringen.
„Auf die Weise kommt man im Leben nicht voran, hörst du, mein Junge!" bemerkte Sweater, hob den Zeigefinger und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Mach sofort, dass du weiterkommst!" sagte Rushton grob. „Ich wundre mich über dich! Was für 'ne Idee! Dich einfach während der Zeit, wo ich dich bezahle, hinzusetzen!"
Dies stimmte. Rushton war nicht nur ärgerlich, sondern über die Kühnheit des Jungen verblüfft. Unglaublich, dass einer seiner Angestellten die Frechheit hatte und es wagte, sich während der von ihm bezahlten Zeit zu setzen!
Der Junge hob die Deichsel des Karrens auf und begann wieder, diesen den Berg hinaufzuschieben. Er schien ihm jetzt schwerer als je, aber doch kam er irgendwie vorwärts. Er blickte sich immer von neuem nach Rushton und Sweater um, die bald um die Ecke bogen und außer Sicht waren; dann schob er den Karren wieder gegen den Bordstein, um Atem zu schöpfen. Viel weiter hätte er es ohne eine Ruhepause auch nicht geschafft, selbst wenn sie ihn noch immer beobachtet hätten. Diesmal rastete er jedoch nicht länger als eine halbe Minute, weil er befürchtete, sie könnten um die Ecke nach ihm spähen.
Jetzt gab er das Laternenpfahlsystem auf und hielt in regelmäßigen, kurzen Abständen für etwa eine Minute an. So erreichte er endlich die Spitze des Berges und beglückwünschte sich mit einem Seufzer, weil die Fahrt nun so gut wie beendet war.
Kurz bevor er am Tor des Hauses anlangte, sah er, wie sich Hunter herausschlich, sein Rad bestieg und davonfuhr. Bert schob seinen Karren zum Vordereingang und begann, die Sachen ins Haus zu tragen. Während er damit beschäftigt war, bemerkte er Philpot, der vorsichtig über das Geländer lugte, und rief ihn an:
„Hilf mir mal mit dem Schlämmkreideeimer, ja, Joe?" „Aber gern, mein Sohn, mit dem größten Verdruss!" antwortete Philpot und eilte die Treppe herunter.
Während sie den Eimer hineintrugen, blinzelte Philpot Bert zu und flüsterte:
„Haste Pontius Pilatus irgendwo draußen gesehn?"
„Der ist grad auf seinem Rad fort, wie ich zum Tor reinkam."
„So? Na, Gott sei Dank! Ich wünsch ihm nichts Schlechtes", sagte Philpot mit Inbrunst, „aber hoffentlich überfahrt 'n ein Auto!"
Diesem Wunsch stimmte Bert von Herzen zu, und auch alle übrigen drückten ähnlich barmherzige Gefühle aus, sobald sie hörten, dass Elend gegangen war.
Kurz vor vier Uhr nachmittags begann Bert, die Jalousien auf den Karren zu laden, die einige Tage zuvor abgenommen worden waren.
„Möcht wissen, wer den Auftrag kriegt, die zu streichen?" bemerkte Philpot zu Newman.
„Vielleicht nehmen sie 'n paar von uns hier weg."
„Glaub ich nicht. Wir sind hier schon knapp an Leuten. Wahrscheinlich stellen sie 'n paar Neue ein. 'ne Sauarbeit, diese Schalusien, weißte: bestimmt brauchen die drei oder vier Anstriche bei dem Zustand, in dem sie sind!"
„Ja. So wird's sicher gemacht", erwiderte Newman und fügte mit unfrohem Lachen hinzu:
„Ich glaub nicht, dass sie große Schwierigkeiten haben, 'n paar Leute zu kriegen."
„Nö, da haste recht, Mann, 's laufen genug rum, für die 'ne Woche Arbeit 'n Geschenk des Himmels wär." „Wenn ich's mir recht überlege", fuhr Newman nach einer Pause fort, „ich glaub, früher hat die Firma alle Schalusien dem alten Latham in Arbeit gegeben, dem Schalusienmacher. Vielleicht geben sie ihm die hier auch."
„Wahrscheinlich", antwortete Philpot. „Ich glaub, der macht sie sogar noch billiger als wir, und das ist alles, was die Firma interessiert."
Wie weit sich ihre Vermutungen bestätigten, wird man später sehen.
Kurz nachdem Bert gegangen war, wurde es so dunkel, dass die Kerzen angezündet werden mussten, und Philpot bemerkte, obwohl er es hasse, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, sei er doch jedes Mal froh, wenn es Zeit sei Licht zu machen, denn dann dauerte es nicht mehr lange bis zum Feierabend.
Ungefähr fünf Minuten vor fünf, als alle gerade ihre Sachen für die Nacht aufhoben, erschien plötzlich Nimrod wieder im Haus. Er war in der Hoffnung gekommen einige von ihnen schon vorzeitig für den Nachhauseweg fix und fertig angezogen zu finden. Da dieses löbliche Unternehmen misslungen war, stand er einige Sekunden schweigend allein im Salon. Das war ein geräumiges, hohes Zimmer mit einem großen, halbkreisförmigen Erker. Rings um die Decke lief ein tiefes Karnies. Im Halbdunkel schien der Raum noch größer zu sein, als er tatsächlich war. Nachdem Hunter ein Weilchen dort gestanden und nachgedacht hatte, wandte er sich um und schritt zur Küche, wo die Leute sich für den Nachhauseweg umzogen. Owen nahm gerade seinen Kittel und seine Schürze ab, als der andere eintrat. Hunter sprach ihn mit einem bösartigen Knurren an:
„Sie können sich heut Abend, wenn Sie nach Hause gehen, im Büro melden."
Owens Herz schien auszusetzen. All die kleinlichen Belästigungen, die er von Hunter erlitten hatte, fielen ihm ein, zusammen mit dem, was Easton ihm am Morgen mitgeteilt hatte. Sprachlos hielt er die Schürze in der Hand und starrte den Meister an.
„Wozu?" brachte er endlich heraus. „Was ist los?" „Sie werden schon sehen, wozu Sie gewünscht werden, wenn Sie dort sind", erwiderte Hunter, ging aus dem Zimmer und verließ das Haus.
Als er gegangen war, herrschte tiefes Schweigen. Die Leute hörten auf, sich für den Heimweg vorzubereiten, und blickten einander und Owen bestürzt an. Einen Mann auf diese Weise zu entlassen, wo die Arbeit noch nicht einmal halb fertig war - und ohne sichtbaren Grund -, noch dazu an einem Montag! Es war unerhört. Sie brachen in einen Chor allgemeiner Empörung aus. Besonders Harlow und Philpot waren sehr erzürnt.
„Wenn's schon soweit ist", schrie Harlow, „verflucht noch mal. sie haben gar kein Recht dazu! Uns steht eine einstündige Kündigungsfrist zu!"
„Klar!" rief Philpot, und seine hervorquellenden Augen rollten vor Zorn. „Ich würd auch drauf bestehen, wenn ich's war. Mach, was ich dir rate, Frank: Schreib auf deinem Lohnzettel einfach bis sechs Uhr auf, dann kommste wenigstens etwas auf deine Kosten!"
Alle beteiligten sich an dem Ausbruch empörten Protestes. Das heißt alle außer Crass und Slyme. Die aber befanden sich eigentlich gar nicht in der Küche: sie standen draußen in der Spülkammer und packten ihre Sachen fort, und so kam es, dass sie nichts sagten, wohl aber bedeutsame Blicke wechselten.
Owen hatte jetzt seine Selbstbeherrschung zurückgewonnen. Er suchte alle seine Werkzeuge zusammen und packte sie mit seiner Schürze und seinem Kittel in die Werkzeugtasche, um sie heute Abend mit heimzunehmen; nach kurzer Überlegung beschloss er jedoch, dies nicht zu tun. Schließlich war es ja gar nicht absolut sicher, dass er entlassen wurde: vielleicht sandten sie ihn auch zu einer anderen Arbeitsstelle.
Die Leute gingen miteinander - einige auf dem Bürgersteig und einige auf dem Fahrweg -, bis sie in den unteren Teil der Stadt gelangten; dann trennten sie sich. Crass, Sawkins, Bundy und Philpot begaben sich zu einem Glas in die „Cricketers", Newman ging allein weiter, Slyme begleitete Easton, der mit ihm verabredet hatte, er solle heute Abend mitkommen und das Zimmer besichtigen, und Owen ging in Richtung des Büros. |
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