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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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4. Kapitel Das Plakat

Frank Owen war der Sohn eines Tischlergesellen, der an der Schwindsucht starb, als der Junge erst fünf Jahre alt war. Danach verdiente sich die Mutter spärlich ihren Lebensunterhalt als Näherin. Als Frank dreizehn war, begann er bei einem Malermeister zu arbeiten, einem Mann von einer Art, die jetzt fast verschwunden ist, denn er war nicht nur Unternehmer, sondern auch ein hochqualifizierter Fachmann.. Er war bereits alt, als Frank Owen bei ihm zu arbeiten begann. Einst hatte er ein gut gehendes Geschäft in der Stadt gehabt, und er rühmte sich immer, er habe stets Qualitätsarbeit geleistet, Freude daran gehabt und sei immer gut dafür bezahlt worden. Aber in späteren Jahren war die Anzahl seiner Kunden stark gesunken; denn eine neue Generation war herangewachsen, die nichts auf
Können oder Kunst gab, sondern nur auf billige Preise und Profit. Von diesem Mann sowie durch fleißiges Studium und durch Übung während seiner Freizeit, unterstützt von einer gewissen natürlichen Begabung, erlernte der Junge die Dekorationsmalerei und das Zeichnen, das Marmorieren und Schriftmalen.
Franks Mutter starb, als er vierundzwanzig Jahre alt war, und ein Jahr darauf heiratete er die Tochter eines Arbeitskollegen. Damals gingen die Geschäfte ziemlich gut, und obwohl für die mehr künstlerischen Arbeiten wenig Nachfrage Bestand, machte es ihm doch seine Fähigkeit, sie im Bedarfsfalle ausführen zu können, verhältnismäßig leicht, Beschäftigung zu finden. Owen und seine Frau waren sehr glücklich. Sie hatten ein Kind - einen Jungen -, und einige Jahre lang ging alles gut. Aber nach und nach änderte sich die Lage: im großen und ganzen fand der Wechsel langsam und unmerklich statt, obwohl es gelegentlich plötzliche Schwankungen gab.
Selbst im Sommer konnte Owen nicht mehr immer Arbeit finden, und im Winter war es fast unmöglich, überhaupt eine Anstellung zu erhalten. Schließlich, etwa zwölf Monate vor Beginn der Zeit, von der dieses Buch handelt, entschloss er sich, seine Frau und sein Kind zu Hause zu lassen, nach London zu fahren und zu versuchen, dort sein Glück zu machen. Sobald er Arbeit fände, wollte er sie nachkommen lassen.
Es war eine vergebliche Hoffnung. Er fand es in London eher noch schlimmer als in seiner Heimatstadt. Wo immer er auch hinging, überall sah er sich dem Schild gegenüber „Arbeiter werden nicht eingestellt". Tag für Tag lief er durch die Straßen, versetzte oder verkaufte sämtliche Kleidungsstücke bis auf die, welche er am Leibe trug, und blieb sechs Monate lang in London, war zuweilen am Verhungern und erhielt nur gelegentlich für einige Tage oder Wochen Arbeit.
Am Ende dieser Zeit war er gezwungen nachzugeben. Die erlittenen Entbehrungen, die nervöse Spannung und die schlechte Stadtluft vereint besiegten ihn. Symptome der Krankheit, die seinen Vater getötet hatte, begannen sich bemerkbar zu machen; er gab den wiederholten Bitten
seiner Frau nach und kehrte in seine Heimatstadt zurück -ein Schatten seines früheren Ichs.
Das war vor sechs Monaten gewesen, und seither hatte er für Rushton & Co. gearbeitet. Gelegentlich, wenn keine Aufträge da waren, musste er „aussetzen", bis wieder etwas hereinkam.
Seit seiner Rückkehr aus London war Owen nach und nach von Hoffnungslosigkeit übermannt worden. Er fühlte, wie die Krankheit, an der er litt, von Tag zu Tag mehr Gewalt über ihn gewann. Der Arzt empfahl ihm, „viel nahrhaftes Essen" zu sich zu nehmen, und verschrieb ihm kostspielige Medizinen, die zu kaufen Owen nicht das Geld hatte.
Und dann war da seine Frau. Von Natur zart, brauchte sie vieles, was er nicht in der Lage war ihr zu verschaffen. Und der Junge - welche Hoffnung gab es für ihn? Oft, wenn Owen trübe über ihre Lage und ihre Zukunftsaussichten nachgrübelte, sagte er sich, es wäre viel besser, sie könnten jetzt alle drei zusammen sterben.
Er war es müde, selbst zu leiden, müde, hilflos dem Leiden seiner Frau zuzusehen, und niedergeschmettert bei dem Gedanken an das, was dem Kinde bevorstand.
Solcherart waren seine Überlegungen, als er am Abend des Tages, an dem der alte Linden entlassen worden war, nach Hause ging. Es gab keinen Grund zu glauben oder zu hoffen, der bestehende Zustand werde in absehbarer Zeit geändert werden.
Tausende schleppten wie er ihr elendes Dasein am Rande des Hungertodes dahin, und für die Mehrzahl der Menschen war das Leben ein einziger langer Kampf gegen die Armut. Und doch wusste kaum einer von diesen Leuten, ja, sie machten sich nicht einmal Gedanken darüber, weshalb sie in dieser Lage waren, und jeder Versuch eines anderen Menschen, es ihnen zu erklären, war eine lächerliche Zeitverschwendung, denn sie wollten es gar nicht wissen.
Das Heilmittel war so einfach, das Übel so groß und so schreiend offensichtlich, dass es für dessen Fortbestehen nur eine Erklärung geben konnte: die meisten von Owens Arbeitskollegen besaßen keine Fähigkeit, logisch zu denken. Wären diese Menschen nicht geistig unzulänglich, so hätten
sie aus eigenem Antrieb schon längst dieses törichte System fortgefegt. Es wäre überhaupt nicht nötig, dass irgend jemand sie lehrte, es sei falsch.
Ja, selbst die Leute, die Erfolg hatten oder gar reich waren, konnten nicht sicher sein, dass sie nicht schließlich vor Elend umkamen. In jedem Armenhaus konnte man Menschen finden, die einst gute Stellungen innegehabt hatten, und es war nicht immer ihre eigene Schuld, dass sie Schiffbruch erlitten hatten.
Wie wohlhabend ein Mann auch sein mochte, er konnte nicht gewiss sein, dass es seinen Kindern niemals an Brot mangeln werde. Es gab Tausende, die von Hungerlöhnen im Elend lebten, deren Eltern aber begüterte Leute gewesen waren.
Als Owen, mit diesen Gedanken beschäftigt, rasch dahinschritt, kam ihm kaum zum Bewusstsein, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Er hatte keinen Überzieher: der war in London verpfändet, und er hatte ihn noch nicht einlösen können. Seine Schuhe waren undicht und vom Schlamm und Regen durchweicht.
Er war jetzt fast zu Hause. An der Ecke der Straße, in der er wohnte, hatte ein Zeitungshändler seinen Laden, und vor der Tür war auf einem Brett ein Plakat ausgehängt:

FURCHTBARE HÄUSLICHE TRAGÖDIE
Doppelmord und Selbstmord

Er ging hinein, um die Zeitung zu kaufen. Er war hier häufig Kunde, und als er eintrat, grüßte ihn der Ladeninhaber mit seinem Namen.
„Scheußliches Wetter", bemerkte der Mann, als er Owen die Zeitung reichte. „Macht wohl das Geschäft ziemlich schlecht in Ihrem Beruf, was?"
„Ja", erwiderte Owen, „viele Leute sind arbeitslos, aber; glücklicherweise habe ich gerade Innenarbeit."
„Dann sind Sie einer von denen, die Glück haben" sagte der andere. „Wissen Sie, für einige wird es hier Arbeit geben, sowie das Wetter sich ein bisschen bessert. Die Außenfassade von diesem ganzen Häuserblock soll neu
gemacht werden. Das ist ne ziemlich umfangreiche Arbeit, nicht?"
„Ja", gab Owen zurück. „Wer führt sie denn aus?"
„Makehaste & Sloggit. Sie wissen doch, die Firma hat ihr Geschäft drüben in Windley."
„Ja, ich kenne sie", sagte Owen grimmig. Er hatte selbst ein- oder zweimal für sie gearbeitet.
„Der Meister war heute hier bei mir", fuhr der Zeitungshändler fort. „Er sagte, am Montag morgen wollen sie anfangen, wenn das Wetter gut ist."
„Nun, hoffentlich wird's schön", meinte Owen, „denn augenblicklich ist's ziemlich ruhig überall."
Mit einem „Guten Abend" setzte Owen seinen Heimweg fort.
Als er die Straße schon halb hinuntergegangen war, blieb er unschlüssig stehen - er dachte an die soeben gehörte Nachricht und an Jack Linden.
Sobald es erst allgemein bekannt wurde, dass diese Arbeit unternommen werden sollte, setzte ganz gewiss ein Wettlauf danach ein, und: wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wenn er Jack heute Abend noch aufsuchte, war der alte Mann vielleicht rechtzeitig genug dort, um Arbeit zu erhalten.
Owen zögerte - er war völlig durchnässt, und es war ein langer Weg zu Lindens Haus, fast zwanzig Minuten zu gehen. Doch er hätte ihn gern benachrichtigt, denn wenn Linden nicht einer der ersten war, die sich bewarben, hätte er nicht soviel Aussicht wie ein jüngerer Mann. Owen sagte sich, wenn er sehr schnell ginge, wäre die Gefahr, sich zu erkälten, nicht groß. In feuchter Kleidung umherzustehen mochte gefährlich sein, aber solange man sich bewegte, war alles in Ordnung.
Er kehrte um und machte sich auf den Weg zu Linden. Obwohl er nur wenige Meter von seiner eigenen Wohnung entfernt war, beschloss er, nicht hineinzugehen, denn sicher hätte seine Frau versucht, ihn nicht wieder hinauszulassen.
Als er so dahineilte, bemerkte er bald einen kleinen dunklen Gegenstand vor der Türschwelle eines unbewohnten Hauses. Er blieb stehen, um ihn näher zu betrachten, und stellte fest, dass es ein kleines schwarzes Kätzchen war.
Das winzige Wesen kam auf ihn zu und begann, um seine Füße zu streichen, wobei es zu Owens Gesicht aufsah und erbärmlich schrie. Er beugte sich nieder, streichelte es und schauderte, als seine Hand den ausgezehrten Körper des Tieres berührte. Das Fell war vom Regen durchnässt, und jeder Wirbel des Rückgrats war deutlich zu spüren. Während er das ausgehungerte Tier streichelte, miaute es jämmerlich. Owen beschloss, es dem Jungen nach Hause mitzunehmen, und als er das kleine ausgestoßene Ding aufhob und in seine Tasche steckte, begann es zu schnurren.
Der Vorfall lenkte Owens Gedanken auf eine andere Bahn. Wenn es - wie so viele Menschen vorgaben zu glauben - einen unendlich gütigen Gott gab, wie kam es dann, dass dieses hilflose Wesen, dass Er geschaffen hatte, zum Leiden verurteilt war? Es hatte niemals irgend etwas Böses getan und war in keiner Weise verantwortlich dafür, dass es existierte. War Gott sich des Elends Seiner Kreaturen nicht bewusst? War dem so, dann war Er nicht allwissend. Oder war Gott sich ihrer Leiden bewusst, jedoch unfähig, ihnen zu helfen? Dann war Er nicht allmächtig. Hatte Er die Macht, aber nicht den Willen, Seine Kreaturen glücklich zu machen? Dann war Er nicht gütig. Nein -es war unmöglich, an die Existenz eines persönlichen, unendlichen Gottes zu glauben. Tatsächlich glaubte niemand daran, und am wenigsten diejenigen, die aus den verschiedensten Gründen vorgaben, Anhänger Christi zu sein: die Antichristen, die umhergingen und Hymnen sangen, lange Gebete aufsagten und „Herr, Herr" riefen, jedoch niemals taten, was Er gesagt hatte; die durch ihre Werke kundtaten, dass sie Ungläubige und dem Meister, dem sie zu dienen vorgaben, untreu waren, denn sie verbrachten ihr Leben in vorsätzlicher und systematischer Missachtung Seiner Lehren und Gebote. Es war gar nicht nötig, die Beweise der Wissenschaft zu Hilfe zu nehmen, oder sich auf das, was man für Inkonsequenzen, Unmöglichkeiten, Widersprüche und Ungereimtheiten in der Bibel hielt, zu beziehen, um zu beweisen, dass in der christlichen Religion keine Wahrheit lag. Nichts weiter war nötig, als sich das Verhalten der Menschen anzusehen, die sich zu ihr bekannten.

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