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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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22. Kapitel Der Phrenologe

Am nächsten Morgen - einem Sonnabend - gingen die Leute in finsterem Schweigen ihrer Arbeit nach; sie machten kaum einen Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und weder Scherze noch Lieder waren zu hören. Die Angst vor dem bevorstehenden „Gemetzel" lastete
auf dem Haus. Selbst diejenigen, die darauf vertrauten, man werde sie verschonen und bis zum Ende der Arbeit dort behalten, teilten die allgemeine Niedergeschlagenheit, nicht nur aus Mitgefühl für die Verurteilten, sondern auch, weil sie wussten, dass ihnen ein wenig später ein ähnliches Schicksal bevorstand.
Ängstlich warteten alle auf Nimrods Erscheinen, doch schleppend verging Stunde um Stunde, ohne dass er kam. Um halb zwölf begannen einige von denen, die überzeugt waren, sie werden „aussetzen" müssen, zu hoffen, die „Metzelei" sei um einige Tage verschoben worden -schließlich gab es ja noch immer eine Menge zu tun; selbst wenn alle blieben, war die Arbeit kaum in einer Woche zu schaffen. Auf jeden Fall konnte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis sie Klarheit erhielten - so oder so. Kam er bis zwölf Uhr nicht, so war alles in Ordnung, denn sämtliche Arbeiter erhielten Stundenlohn und hatten Anspruch auf einstündige Kündigung.
Easton und Harlow arbeiteten zusammen im Treppenhaus und lackierten die Türen und übrigen Holzteile mit weißer Emaillefarbe über. Die Leute hatten nicht genügend Zeit erhalten, diese Arbeit richtig vorzubereiten; weder war die Farbe glattgerieben, noch waren die Löcher richtig ausgefüllt worden, sie hatten auch nicht oft genug streichen können, damit eine glatte, weiße Fläche entstand. Als jetzt die glänzende Lackfarbe aufgetragen wurde, sah die Arbeit recht rau und fleckig aus.
„Großartig ist's geworden, was, Mann?" bemerkte Harlow ironisch und deutete auf die Tür, die er gerade fertiggestrichen hatte.
Easton lachte. „Ich kann nicht verstehen, wie Leute so 'ne Arbeit abnehmen", sagte er.
„Der olle Sweater hat neulich tatsächlich 'ne Bemerkung drüber gemacht", antwortete Harlow, „und ich hab gehört, wie Elend ihm erzählte, 's wär unmöglich, aus solch alten Türen was Vernünftiges zu machen."
„Ich glaub, der Mann ist der größte Lügner, den Gott je geschaffen hat!" sagte Easton, und dieser Meinung stimmte Harlow von Herzen zu.
„Wie spät mag's wohl sein?" fragte er nach einer Pause.
„Ich weiß nicht genau", antwortete Easton, „aber 's muss bald zwölf sein."
„Er scheint noch nicht zu kommen, was?" fuhr Harlow fort.
„Nein, und mich würd's nicht wundern, wenn er jetzt überhaupt nicht käme. Vielleicht will er heute doch keinen entlassen."
Sie sprachen flüsternd und blickten sich vorsichtig um, denn sie fürchteten, gehört oder gesehen zu werden.
„'n elendes Leben, was?" sagte Harlow bitter. „Da schuften wir uns für andre Leute kaputt, und sobald sie mit dir fertig sind, schmeißen sie dich weg wie 'nen dreckigen Lappen."
„Ja, und ich glaube langsam, 'ne Menge von dem, was Owen sagt, ist wahr. Aber ich, für meinen Teil, weiß nicht, wie man's jemals ändern könnte; du etwa?"
„Weiß der Kuckuck, Mann. Aber ob man's ändern kann oder nicht - eins ist mal sicher: zu unseren Lebzeiten wird's nicht geändert."
Keiner von ihnen schien zu glauben, sie müssten selbst etwas dazu beitragen, damit die „Veränderung", von der sie sprachen, stattfinde, wenn sie überhaupt jemals durchgeführt werden sollte.
„Ich frag mich, was sie woll mit den Jalousien machen?" sagte Easton. „Ist schon irgend jemand dabei?"
„Weiß nicht; hab nichts mehr davon gehört, seit der Junge sie in 'n Laden gebracht hat."
Diese Jalousien waren geradezu geheimnisumwoben. Wohl vor einem Monat waren sie in den Farbenschuppen unten auf dem Gerätehof gebracht worden, um neuangestrichen und -aufgezogen zu werden, und seitdem hatten die Leute, die in der „Höhle" arbeiteten, nichts mehr darüber gehört.
„Vielleicht schicken sie nächste Woche 'n paar von uns runter, um sie zu machen", bemerkte Harlow.
„Vielleicht. Vermutlich müssen die verdammten Dinger dann im letzten Moment in 'ner lausigen Hetze gemacht wer’n.
Bald darauf ging Harlow - der unbedingt wissen
wollte, wie spät es war - hinauf, um Slyme danach zu fragen. Es war zwanzig Minuten vor zwölf.
Vom Fenster des Zimmers, in dem Slyme tapezierte, konnte man in den Vorgarten blicken. Harlow blieb einen Augenblick dort stehen, um Bundy und die Hilfsarbeiter zu beobachten, die noch immer in den Gräben an den Rohren arbeiteten, und während er hinausblickte, sah er Hunter zum Haus kommen. Hastig zog sich Harlow zurück, ging wieder an die Arbeit und gab dabei die Warnung von Elends Ankunft an die anderen weiter.
Elend betrat das Haus auf seine gewohnte Weise, und nachdem er zehn Minuten lang darin umhergeschlichen war, trat er in den Salon.
„Sie sind ja endlich dabei, die letzte Hand anzulegen, wie ich sehe", sagte er.
„Ja", erwiderte Owen. „Ich brauche jetzt nur noch ein paar Umrandungen zu machen."
„Na, 's sieht natürlich sehr hübsch aus", sagte Elend in betrübtem Ton, „aber wir haben Geld dabei verloren. Sie haben 'ne Woche länger gebraucht, als wir veranschlagt hatten. Sie sagten, drei Wochen, aber 'nen Monat haben Sie gebraucht, und fünfzehn Hefte Blattgold haben wir bloß gerechnet, und Sie haben einfach dreiundzwanzig genommen."
„Daraus können Sie mir wohl kaum einen Vorwurf machen, wissen Sie", antwortete Owen. „Ich hätte es ja in den drei Wochen schaffen können, aber Mr. Rushton sagte, ich solle mich wegen ein, zwei Tagen nicht hetzen, weil er eine gute Arbeit haben wollte. Er sagte, lieber wolle er ein bisschen dabei verlieren als es verderben, und was das Extragold betrifft, so hat er auch das angeordnet."
„Nun, 's wird wohl nicht zu ändern sein", jammerte Elend. „Auf jeden Fall, ich bin sehr froh, dass es fertig ist, denn bezahlt macht sich die Sorte Arbeit nicht. Am Montagmorgen nehmen Sie wieder die Bürste zur Hand; wenn's Wetter schön bleibt, wolln wir nächste Woche mit der Außenseite fertig wer'n."
Die von Nimrod erwähnte „Bürste" war die große Anstreicherbürste, die für gewöhnliche Malerarbeit benutzt wurde.
Jetzt begann Elend im Hause umherzuwandern, hinein in die Zimmer und wieder heraus; zuweilen stand er mehrere Minuten schweigend da und sah den Arbeitern bei ihrer Tätigkeit zu. Unter seiner Beobachtung wurden die Leute nervös und ungeschickt, denn jeder befürchtete einer von denen zu sein, die um ein Uhr entlassen werden sollten.
Gegen fünf Minuten vor zwölf ging Hunter in die Malerwerkstatt - die Spülkammer - hinunter, wo Crass Farben mischte und Farbtöpfe zurechtstellte, die zur Werkstatt gebracht werden sollten.
„Ich nehme an, der Kerl ist runtergegangen, weil er Crass fragen will, wer von uns ihnen am wenigsten nützt", flüsterte Harlow Easton zu.
„Würde mich nicht wundern, wenn wir zwei 's wären", antwortete dieser in der gleichen Tonlage. „Crass kannste nicht trauen, weißte, wenn er auch ins Gesicht noch so freundlich tut. Du kannst nie wissen, was er hinter unserm Rücken sagt."
„Kannste Gift drauf nehmen, dass es nicht Sawkins oder einer von den anderen ,Fliegengewichtlern' sein wird, denn Nimrod wird uns nicht sechseinhalb Pence für das Anstreichen von Dachrinnen und Regenrohren zahlen wollen, wenn dies auch einigermaßen für viereinhalb oder fünf Pence machen können. Aber die Schieberahmen von den Fenstern können sie nicht machen, was?"
„Da bin ich nicht so sicher", antwortete Easton; beide schwiegen wieder und beschäftigten sich mit ihrer Arbeit. Elend stand eine Weile da und beobachtete sie, ohne etwas zu sagen; dann verließ er das Haus. Vorsichtig schlichen sie in ein Zimmer, von dem man in den Garten blicken konnte, und als sie heimlich zum Fenster hinausspähten, sahen sie ihn am Rande eines der Gräben stehen und verdrießlich Bundy mit seinen Gehilfen beobachten, die sich mit den Rohren abquälten. Zu ihrer Überraschung und Erleichterung machte er dann kehrt und ging zum Tor hinaus! Sie sahen gerade noch sein Hinterrad, während er davonfuhr.
Das „Gemetzel" sollte offenbar bis zur nächsten Woche verschoben werden! Es schien zu gut, um wahr zu sein.
„Vielleicht hat er für jemand von uns 'ne Botschaft bei Crass hinterlassen?" gab Easton zu bedenken. „Wahrscheinlich ist's ja woll nicht, aber möglich ist's immerhin."
„Also, ich geh runter und frag ihn", sagte Harlow kurz entschlossen. „Besser, man erfährt das Schlimmste gleich." Einige Minuten später kehrte er mit der Nachricht zurück, Hunter habe beschlossen, heute niemand zu entlassen, weil die Fassade des Hauses möglichst im Laufe der nächsten Woche fertig werden sollte.
Diese Botschaft nahmen die Arbeiter mit gemischten Gefühlen auf; zwar verhieß sie ihnen für den Augenblick Sicherheit, doch das bedeutete, dass fast alle am nächsten Sonnabend - wenn nicht schon vorher - bestimmt entlassen würden. Hätten dagegen heute einige ihre Kündigung erhalten, so wäre das für die übrigen um so besser gewesen. Doch diese Seite der Angelegenheit beeinträchtigte nur wenig die große Erleichterung, die jeder von ihnen in dem Bewusstsein empfand, dass die unmittelbare Gefahr vorüber war, und die Tatsache, dass heute Sonnabend - Zahltag -war, trug gleichfalls dazu bei, ihren gesunkenen Lebensmut wieder aufzurichten. Alle waren ganz sicher, dass Elend an diesem Tage nicht mehr wiederkehren werde; nun stimmte Harlow ihr altes Lieblingslied an:
„Schaffet, denn es kommt die Nacht!", und bald nahmen fast alle im Hause den Refrain auf:

„Schaffet! Denn es kommt die Nacht,
Schaffet in den Morgenstunden.
Schaffet, denn es kommt die Nacht,
Schaffet, da noch Blumen blühn!
Schaffet, da noch Tau erglänzt,
Schaffet in der Mittagssonne!
Schaffet! Denn es kommt die Nacht,
Dann ist des Menschen Werk getan!"

Als dieser Choral beendet war, stimmte jemand das Lied an: „Wo irret wohl heute mein Junge umher?" und ahmte dabei den plärrenden Ton eines Straßensängers nach, worauf Harlow - der durch einen merkwürdigen Zufall einen Penny in der Tasche hatte - diesen herauszog und ihn auf den Boden fallen ließ. Das Geklimper der Münze wurde
von mehreren der Sänger mit einem „Danke schön, gute Frau" quittiert. Diese kleine Geste Harlows brachte eine höchst erstaunliche Tatsache ans Licht. Obwohl es Sonnabend morgen war, besaßen mehrere der übrigen noch Pennies und halbe Pence! Nach dem Ende jedes Verses folgten alle Harlows Beispiel, und das Haus erschallte vom Klingen der aufprallenden Münzen und von den Rufen „Danke schön, gute Frau", „Danke sehr, mein Herr" und „Gott segne Sie", untermischt mit Lachsalven.
Auf den „irrenden Jungen" folgte eine Sonderauswahl von Refrains bekannter Tingeltangelschlager, einschließlich „Leb wohl, mein Glockenblümchen", „Das Geißblatt und die Biene", „Ich hab sie" und „Der Kirchenfestzug", das Ganze abwechslungsreich gestaltet und geschmackvoll untermischt mit Geheul, Gejohle, Gefluche, Gepfeife und ganz ungeniertem Gefurze.
Inmitten dieses Lärms kam Crass nach oben. „He!" schrie er. „Um Himmels willen, macht doch nicht so 'nen Radau! Wenn Nimrod nu zurückkommt!"
„Ach, der kommt heut nicht mehr", sagte Harlow unbekümmert.
„Und wenn er schon kommt!" rief Easton. „Wen schert 'n das?"
„Nu, das kann man nie wissen, und schließlich können Rushton oder Sweater auch jede Minute aufkreuzen."
Mit diesen Worten ging Crass brummend in die Spülkammer zurück, und die Leute verfielen wieder in ihr gewohntes Schweigen.
Zehn Minuten vor eins hörten alle auf zu arbeiten, stellten ihre Farben weg und schlossen das Haus ab. Eine Reihe leere Farbtöpfe musste auf dem Weg zum Büro in die Werkstatt mitgenommen werden; Crass verteilte sie unter die anderen - er selbst trug nichts -, und dann machten sich alle unter Spaßen zum Büro auf, um ihr Geld abzuholen. Harlow und Easton belebten die Reise, indem sie vielsagend husteten, sobald sie einer jungen Frau begegneten, und laut irgendeine schmeichelhafte Bemerkung über ihr Aussehen machten. Lächelte das Mädchen, so behauptete jeder von ihnen voller Eifer, er habe es zuerst gesehen, schien es aber beleidigt oder hochnäsig zu sein, so meinten sie, es sei bestimmt mit dem verkehrten Bein zuerst aufgestanden oder es habe Essigwasser getrunken. Ab und zu warfen sie den Hausmädchen, die sie aus den Fenstern blicken sahen, zärtliche Kusshände zu. Einige der Mädchen lachten, andere sahen entrüstet aus; aber wie sie es auch aufnahmen, immer war es gleichermaßen belustigend für Crass und die übrigen, die einer Horde Jungen nach Schulschluss glichen.
Der Leser wird sich erinnern, dass eine Hintertür zu Rushtons Büro führte; in dieser war ein Schiebefenster mit einem kleinen Querbrett darunter angebracht. Die Arbeiter standen auf der Straße vor der geschlossenen Tür, und durch das Schiebefenster wurde ihnen das Geld herausgereicht. Da es dort kein Schutzdach gab, wurden sie zuweilen, wenn es regnete, völlig durchnässt, während sie auf ihre Bezahlung warteten. Bei manchen Firmen ist es Sitte, die Leute aufzurufen und ihnen in der Reihenfolge der Beschäftigungsdauer oder der Qualifikation ihren Lohn auszuzahlen. Hier gab es indessen kein solches System; der Mann, der zuerst an die Türöffnung gelangte, erhielt als erster sein Geld, und so weiter. Das Ergebnis war, dass es hier stets einen „Kampf ums Dasein" in Miniaturausgabe gab; denn die Leute stießen und drängten einander, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie bis zu einer bestimmten Zeit ihr Geld erhielten.
Auf dem Brett unter dem kleinen Schiebefenster, durch das ihnen ihr Geld gereicht wurde, stand stets eine Sammelbüchse für das Hospital. In diese steckte jeder der Leute einen oder zwei Pennies. Natürlich bestand hierzu kein Zwang, doch alle taten es, denn sie meinten, jeder, der verabsäumte, einen Beitrag zu geben, komme „auf die schwarze Liste". Aus verschiedenen Gründen waren nicht alle mit der Spendenzahlung für das Hospital einverstanden. Sie wussten, dass die Ärzte dort die Patienten, die umsonst behandelt wurden, als Versuchsobjekte zu benutzen pflegten, und sie wussten auch, dass die Patienten, die angeblich „umsonst" behandelt wurden und in so großem Maße direkt zum Unterhalt derartiger Institutionen beitragen, wenig Aufmerksamkeit genießen, wenn sie „Gratisbehandlung" beantragen, und dass man ihnen sehr deutlich zu verstehen gibt, sie erhielten ein „Almosen". Einige der Leute waren der Ansicht, da sie in beträchtlichem Maße Beiträge zusteuerten, hätten sie auch ein Recht auf aufmerksame Behandlung.
Nachdem sie ihren Lohn erhalten hatten, begaben sich Crass, Easton, Bundy, Philpot, Harlow und einige andere in die „Cricketers", um ein Glas Bier zu trinken. Owen ging allein weiter, ebenso auch Slyme. Es hatte keinen Zweck zu warten, bis Easton wieder aus dem Wirtshaus kam denn wann das sein werde, war nicht abzusehen; er mochte eine halbe Stunde dort bleiben oder auch zwei Stunden.
Auf dem Heimweg ging Slyme, wie er das gewöhnlich tat, beim Postbüro vorbei, um einen Teil seines Lohnes bei der Sparkasse einzuzahlen. Wie die meisten anderen „Christen" auch, hielt er viel davon, an den morgigen Tag zu denken: was er essen und trinken und womit er sich bekleiden sollte. Er hielt es für weise, so viele irdische Schätze wie nur irgend möglich zusammenzutragen. Dass Jesus gesagt hatte, seine Anhänger sollten dies nicht tun, änderte nicht mehr an Slymes Verhalten als an dem aller übrigen „Christen". Sie alle sind der Meinung, Jesus habe mit diesem Ausspruch etwas anderes gemeint, und mit sämtlichen übrigen unbequemen Dingen, die Er gesagt hat, verfahren sie ebenso. Zum Beispiel versichern uns diese „Jünger" mit Seinen Worten: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar", habe Jesus in Wirklichkeit gemeint: „Richte ein Maschinengewehr auf ihn; stoß ihm das Bajonett in die Gedärme, oder schlag ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel ein!" Als Er sagte: „Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel", so ist, nach Ansicht der „Christen", was Er in Wirklichkeit meinte: „Und so jemand deinen Rock nimmt, gib ihm sechs Monate Zwangsarbeit." Einige der Anhänger Jesu geben zu, Er habe wirklich eben das gemeint, was Er gesagt hat; aber sie erklären, die Welt könne niemals fortbestehen, wenn sie Seine Lehre befolgten! Das stimmt. Wahrscheinlich ist gerade dies die Wirkung, die Jesus durch seine Lehren hervorrufen wollte. Es ist völlig unwahrscheinlich, dass er wünschte, die Welt solle auf die gegenwärtige Weise fortbestehen. Wenn diese angeblichen Anhänger aber wirklich glauben - wie sie es behaupten -, die Lehre Jesu sei lächerlich und undurchführbar, weshalb setzen sie dann die scheinheilige Farce fort, sich „Christen" zu nennen, wo sie doch in Wirklichkeit überhaupt nicht an Ihn glauben und Ihm nicht folgen?
Wie Jesus selbst erklärte, hat es keinen Sinn, Ihn „Herr, Herr" zu nennen, wenn man nicht tut, was Er gesagt hat.
Nachdem Slyme die Angelegenheit auf der Kasse erledigt hatte, setzte er den Heimweg fort und unterbrach ihn nur, um bei einem Süßwarenhändler einige Bonbons zu kaufen. In diesem Laden gab er sechs Pence auf einmal für ein Glas Bonbons aus, um sie dem Baby mitzubringen.
Ruth war nicht überrascht, als sie ihn allein kommen sah; das war üblich, seit Easton mit Crass so befreundet war. Sie sagte nichts über Eastons Ausbleiben; doch mit geheimem Verdruss bemerkte Slyme, dass es sie ärgerte und enttäuschte. Sie war eben dabei, den Küchenfußboden fertigzuscheuern, und der kleine Freddie saß auf einem hohen Kinderstuhl mit einem kleinen Tablett oder Tisch davor. Um ihn zu beschäftigen, während sie arbeitete, hatte Ruth ihm eine Scheibe Brot mit Himbeermarmelade gegeben, die sich das Kind über das ganze Gesicht und auf die Kopfhaut geschmiert hatte; offenbar hielt es sie für ein Mittel zur Verbesserung des Teints oder gegen Kahlköpfigkeit. Es sah jetzt aus, als käme es aus einer Schlacht oder von einem Eisenbahnunglück. Der Kleine begrüßte Slymes Ankunft mit Begeisterung und war so aufgeregt, dass er Tränen vergoss; er beruhigte sich erst, als ihm der Mann das Glas mit den Süßigkeiten gab und ihn aus dem Stuhl hob.
Slymes Anwesenheit im Hause hatte sich als nicht so lästig erwiesen, wie Easton und Ruth befürchtet hatten. Anfangs hatte er sogar sehr darauf geachtet, jeden Abend nach dem Tee in sein Zimmer hinaufzugehen, bis sie ihn einluden, unten in der Küche zu bleiben. Fast jeden Mittwoch und Sonnabend besuchte er eine Versammlung oder, wenn das Wetter es erlaubte, einen Gottesdienst im Freien;
denn er gehörte zu einer kleinen Gruppe eifriger Menschen, die mit der Kapelle „Das strahlende Licht" verbunden waren und das ganze Jahr über ihre Andachten unter freiem Himmel abhielten. Nach einiger Zeit söhnten sich die Eastons mit Slymes Anwesenheit im Haus nicht nur aus, sondern sie waren sogar froh darüber. Ruth besonders hätte sich ohne ihn häufig sehr einsam gefühlt, denn in letzter Zeit hatte sich Easton angewöhnt, jede Woche einige Abende mit Crass in den „Cricketers" zu verbringen.
War Slyme zu Hause, so vertrieb er sich die Zeit, indem er Mandoline spielte oder mit der Laubsäge Photorahmen anfertigte. Einige Wochen, nachdem Slyme gekommen war, hatte Ruth das Baby photographieren lassen, und der Rahmen, den er für das Bild gemacht hatte, war jetzt eine Zierde der „guten Stube". Die instinktive, gedankenlose Abneigung, die Ruth anfänglich gegen ihn empfunden hatte, war vergangen. Auf eine ruhige, unauffällige Weise erwies er ihr so viele kleine Dienste, dass es ihr unmöglich war, ihn länger unsympathisch zu finden. Zuerst redete sie ihn mit „Herr" an; nach einer Weile aber nahm auch sie Eastons Gewohnheit an, ihn beim Vornamen zu nennen.
Was den Kleinen betraf, so machte er schon gar kein Geheimnis aus seiner Liebe zu dem Mieter, der ihn verhätschelte und stundenlang mit ihm spielte.
„Ich werd dir jetzt dein Mittagbrot auftragen, Alf", sagte Ruth, als sie den Fußboden fertiggescheuert hatte. „Aber mit meinem wart ich noch 'n bisschen. Vielleicht kommt Will."
„Ich hab's nicht eilig", antwortete Slyme. „Ich geh und wasch mich; vielleicht ist er bis dahin hier."
Während Slyme sprach - er hatte am Feuer gesessen und das Kind auf dem Arm gehalten, welches versuchte, das Glas mit den Süßigkeiten zu verschlucken -, setzte er den Kleinen in sein Stühlchen zurück und gab ihm eine Lutschstange aus dem Glas, damit er ruhig war; dann ging er in sein Zimmer hinauf. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam er wieder herunter, und Ruth setzte ihm sein Essen vor, denn Easton war noch immer nicht gekommen.
„Ich an deiner Stelle würde nicht auf Will warten ! sagte Slyme, „vielleicht dauert's noch ein bis zwei Stunden,
bis er kommt. Jetzt ist's schon zwei Uhr durch, und bestimmt hast du Hunger."
„Nun, eigentlich könnt ich vielleicht auch jetzt essen", antwortete Ruth zögernd. „Wahrscheinlich isst er 'n Käsebrot in den .Cricketers', so wie letzten Sonnabend."
„Bestimmt", antwortete Slyme.
Während er oben war, wusch sie dem Kind das Gesicht. Sobald es seine Mutter essen sah, warf es die Lutschstange fort, begann zu schreien und streckte die Ärmchen nach ihr aus. Sie musste es auf den Schoß nehmen und mit Bröckchen von ihrem Teller füttern.
Slyme redete die ganze Zeit, hauptsächlich über das Kind. Er habe Kinder gern, sagte er, und käme immer gut mit ihnen aus, aber ein so intelligentes Kind wie Freddie habe er wirklich in dem Alter noch nicht kennen gelernt. Seine Arbeitskollegen hätten sich sehr gewundert, wären sie dort gewesen und hätten sie ihn über die Kopfform des Kindes sprechen hören. Die umfangreichen Kenntnisse, die er auf dem Gebiete der Phrenologie zu besitzen schien, hätten sie in Erstaunen versetzt. Jedenfalls dachte Ruth, er sei mächtig klug.
Nach einer Weile wurde das Kind unruhig und wollte nicht mehr essen; als seine Mutter ihm ein neues Stück Zuckerstange aus dem Glas gab, warf es diese verdrießlich auf den Boden und begann zu jammern, das Gesicht gegen die Brust der Mutter zu reiben und mit den Händen an ihrem Kleid zu zerren. Anfänglich zog sich Ruth immer aus dem Zimmer zurück, war Slyme gerade zugegen, wenn sie dem Kind die Brust geben wollte; in letzter Zeit war sie jedoch weniger empfindlich. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster und bedeckte das Gesicht des Säuglings teilweise mit einem leichten Tuch, das sie trug. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, war das Kind eingeschlummert. Slyme stand von seinem Stuhl auf, stellte sich mit dem Rücken gegen das Feuer und blickte auf sie nieder, dann sagte er, natürlich in Bezug auf das Baby:
„Er sieht dir mächtig ähnlich, nicht?"
„Ja", erwiderte Ruth. „Alle sagen, er kommt nach mir."
Slyme trat ein wenig näher und beugte sich hinab, um das schlummernde Kind zu betrachten.
„Weißt du, zuerst hab ich geglaubt, es ist 'n Mädchen", fuhr er nach einer Pause fort. „Für 'nen Jungen ist er beinah zu hübsch, nicht?"
Ruth lächelte. „Zuerst halten ihn die Leute immer für 'n Mädchen. Gestern hab ich ihn in den Monopol-Laden mitgenommen, weil ich da was zu kaufen hatte, und der Geschäftsleiter wollte gar nicht glauben, dass es kein Mädchen ist."
Der Mann streckte die Hand aus und streichelte das Gesicht des Kindes.
Obgleich Slymes Betragen bisher stets sehr korrekt gewesen war, lag doch gelegentlich, wenn sie allein waren, ein unbestimmbares Etwas in seinem Benehmen, das Ruth linkisch und verlegen machte. Als sie jetzt aufblickte und seinen Gesichtsausdruck sah, wurde sie vor Verwirrung glutrot und senkte hastig den Blick, ohne auf seine letzte Bemerkung zu antworten. Er sagte gleichfalls nichts mehr, und einige Minuten lang verharrten sie schweigend, wie gebannt - Ruth von instinktiver Furcht bedrückt und Slyme kaum weniger erregt, mit rotem Gesicht und wild klopfendem Herzen. Er zitterte, als er dort über sie gebeugt stand, zögernd und erschrocken.
Und dann wurde das Schweigen plötzlich durch das Quietschen und Zuklappen der Gartentür unterbrochen, das Eastons verspätete Heimkunft ankündigte. Slyme ging in die Spülkammer hinaus, nahm die Wichsbürste vom Brett und begann, seine Schuhe zu putzen.
An Eastons Aussehen und Benehmen war deutlich zu merken, dass er getrunken hatte. Ruth machte ihm aber keinerlei Vorwürfe; im Gegenteil, sie schien fast fieberhaft bemüht, es ihm bequem zu machen.
Als Slyme seine Schuhe fertiggeputzt hatte, ging er in sein Zimmer hinauf, und auf seinem Weg durch die Küche erhielt er einen achtlosen Gruß von Easton. Slyme war nervös und fürchtete, Ruth möchte Easton etwas sagen, und es gelang ihm nicht ganz, sich mit der Überlegung zu beruhigen, schließlich gebe es ja gar nichts zu berichten. Ruth freilich musste die Verwirklichung ihres eilig gefassten Beschlusses verschieben, ihrem Mann von Slymes merkwürdigem Benehmen zu erzählen, denn noch ehe Easton mit dem Essen fertig war, schlief er in seinem Stuhl ein, und es gelang ihr nur unter Schwierigkeiten, ihn soweit zu wecken, dass sie ihn überreden konnte, nach oben ins Bett zu gehen, wo er bis zur Teezeit blieb. Wahrscheinlich wäre er auch dann nicht heruntergekommen, wäre er nicht mit Crass in den „Cricketers" verabredet gewesen.
Während Easton schlief, hielt sich Slyme unten in der Küche auf und sägte mit der Laubsäge einen Rahmen aus. Er spielte mit Freddie, während Ruth den Tee zubereitete, und ihr schien, er sei sich so wenig bewusst, irgend etwas Ungewöhnliches getan zu haben, dass sie zu glauben begann, sie müsse sich geirrt haben, als sie ihm irgendwelche schlechten Absichten zutraute.
Nach dem Essen zog Slyme seine besten Sachen an und ging wie sonst auch zu seiner „Versammlung im Freien". Für gewöhnlich gingen Easton und Ruth sonnabends immer gemeinsam einkaufen; heute aber konnte er nicht auf sie warten, denn er hatte Crass versprochen, sich um sieben mit ihm zu treffen. So verabredete er sich für acht Uhr in der Stadt mit ihr.

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