11. Kapitel Hände und Hirne
Das Geschäft der Firma Rushton & Co. lag in einer der Hauptstraßen von Mugsborough und bestand aus einem zweifenstrigen, mit Spiegelglasscheiben versehenen Laden. Er erstreckte sich bis zur dahinter liegenden engen Nebenstraße. Im vorderen Teil lagerten Tapeten, Schablonen, Ständer mit Reliefmustern für Wand- und Deckendekorationen, Kästen mit Pinseln, Firnis- und Lacktöpfe sowie ähnliche Dinge.
Hinten befand sich das Büro; es war vom übrigen Teil des Ladens durch eine Trennwand mit dunklen Glasscheiben abgeschlossen. Dieses Büro hatte zwei Türen: die in der Trennwand führte zum vorderen Teil des Ladens und die andere neben dem Fenster zur Nebenstraße hinaus. Die untere Hälfte des hinteren Schiebefensters war mit einer einzigen großen Scheibe verglast, und darauf war mit schwarzen Lettern auf weißem Grund „Rushton 8c Co." gemalt.
Zwei oder drei Sekunden lang blieb Owen draußen vor diesem Fenster stehen, ohne zu klopfen. Im Büro brannte helles Licht. Dann klopfte er an die Tür, die Hunter sogleich von innen öffnete, und Owen trat ein.
Rushton saß in einem Sessel an seinem Pult, rauchte eine Zigarre und las gerade einen der vor ihm liegenden Briefe. Dahinter stand eine dreizehn mal achtzehn Zentimeter große Photographie vom Innern irgendeines Gebäudes. Vor einem zweiten Pult oder vielmehr Tisch am anderen Ende des Raumes saß eine junge Frau und schrieb in einem großen Hauptbuch. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Schreibmaschine.
Rushton blickte zerstreut auf, als Owen eintrat, nahm aber weiter keine Notiz von ihm.
„Warten Sie nur 'nen Augenblick", sagte Hunter zu Owen, und dann setzte der Meister, nachdem er sich einige Minuten lang in leisem Ton mit Rushton unterhalten hatte, seinen Hut auf und ging durch die Tür in der Trennungswand zum vorderen Laden hinaus.
Owen stand und wartete, bis Rushton sprach. Er fragte sich, weshalb sich Hunter wohl davongemacht hatte, und verspürte Lust, die Tür zu öffnen und ihn zurückzurufen. Zu einem war er fest entschlossen: er wollte eine Erklärung verlangen; er würde es sich nicht einfach gefallen lassen, ohne triftigen Grund entlassen zu werden.
Als Rushton den Brief zu Ende gelesen hatte, sah er auf, lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück, blies eine Rauchwolke in die Luft und sagte in leutseligem, nachsichtigem Ton, wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anwendet:
„Sie sind doch so 'ne Art Künstler, wie?"
Owen war von diesem Empfang derart überrascht, dass er einen Augenblick lang die Antwort schuldig blieb.
„Sie wissen, was ich meine", fuhr Rushton fort, „Dekorationsarbeit, so was wie Ihre Muster, die da oben hängen."
Er bemerkte Owens Verlegenheit und war erfreut. Er dachte, der Mann sei verwirrt, weil er von einer so hohen Persönlichkeit wie ihm angesprochen wurde.
Mr. Rushton war etwa fünfunddreißig Jahre alt, hatte hellgraue Augen, blondes Haar, einen blonden Schnurrbart und einen weißlichgrauen Teint. Er war hoch gewachsen, ungefähr einen Meter achtundsiebzig groß, und machte eine unbeholfene Figur; nicht beleibt, sondern fett - in gutem Zustand. Er sah sehr wohlgenährt und überhaupt gut gepflegt aus. Seine Kleidung besaß einen guten Schnitt, war von ausgezeichneter Qualität und passte ihm vorzüglich. Er hatte einen grauen Norfolk-Anzug an, dunkelbraune Stiefel und gestrickte Wollstrümpfe, die bis zum Knie reichten.
Er war ein Mann, der sich selbst sehr ernst nahm. Er hatte etwas Pompöses und arrogant Wichtigtuerisches an sich, das - im Hinblick darauf, wer und was er war -jeden mit Sinn für Humor begabten Beobachter belustigt hätte.
„Jawohl", antwortete Owen endlich. „Ich verstehe mich etwas auf diese Art Arbeit, doch behaupte ich nicht, sie so gut oder so schnell auszuführen wie jemand, der nichts anderes tut."
„O nein, natürlich nicht, aber ich denke, das hier würden Sie ganz gut machen. Es handelt sich um den Salon in der ,Höhle'... Mr. Sweater hat mit mir drüber gesprochen. Als er vor einiger Zeit in Paris war, hat er anscheinend 'n Zimmer gesehn, das ihm gefallen hat. Die Wände und die Decke waren nicht tapeziert, sondern bemalt: Sie wissen doch, was ich meine - in 'ne Art Paneele aufgeteilt und mit Schablonen- und Handmalerei dekoriert. Hier ist 'ne Photographie davon - 's ist in so 'ner Art japanischem Stil gehalten."
Während er sprach, reichte er Owen die Photographie. Sie zeigte einen Raum, dessen Wände und Decke in maurischem Stil dekoriert waren.
„Zuerst dachte Mr. Sweater dran, 'ne Londoner Firma dafür zu holen, die Idee hat er dann aber wegen der Kosten aufgegeben; aber wenn Sie's machen können, ohne dass es zuviel kostet, kann ich ihn, glaube ich, dazu bringen, dass er's machen lässt. Aber wenn's 'ne Stange Geld kostet, wird gar nichts draus werden. Dann lässt er einfach nur 'nen Fries machen und das Zimmer wie gewöhnlich tapezieren."
Das stimmte nicht: Rushton sagte es nur für den Fall, dass Owen etwa während dieser Arbeit Extralohn verlangte. In Wahrheit wollte Sweater den Raum auf jeden Fall dekorieren lassen und beabsichtigte, hierzu eine Londoner Firma kommen zu lassen. Nur ziemlich widerstrebend hatte er sich bereit erklärt, sich von Rushton & Co. einen Kostenvoranschlag machen zu lassen, denn er glaubte, die Firma sei nicht fähig, die Arbeit zufrieden stellend auszuführen.
Owen betrachtete eingehend die Photographie.
„Können Sie in dem Zimmer was Ähnliches machen?"
„Ja, ich denke schon", erwiderte Owen.
„Nun, wissen Sie, ich möchte nicht, dass Sie mit der Arbeit anfangen und dann nicht damit fertig werden. Können Sie's, oder können Sie's nicht?"
Rushton war sicher, dass Owen es ausführen konnte, und es war ihm sehr viel daran gelegen, dass er die Arbeit unternahm, aber er wollte nicht, dass Owen dies wusste. Er wünschte den Eindruck zu erwecken, es sei ihm völlig gleichgültig, ob Owen die Arbeit ausführte oder nicht. Ja, er wünschte, es solle so scheinen, als tue er ihm einen Gefallen, ihm eine so schöne Arbeit zu verschaffen.
„Ich will Ihnen sagen, was ich tun kann", erwiderte Owen. „Ich kann Ihnen eine Aquarellskizze machen, einen Entwurf, und dann kann ich ihn, natürlich nur, wenn er Ihren Anforderungen entspricht, auf die Decke und die Wände übertragen, und ich werde Sie bald wissen lassen, wie lange ich dazu brauche."
Rushton schien nachzudenken.
Owen stand da, betrachtete die Photographie und begann, ein heftiges Verlangen zu empfinden, die Arbeit ausführen.
Rushton schüttelte zweifelnd den Kopf. Wenn ich Sie 'ne Menge Zeit mit den Skizzen verbringen lasse und Mr. Sweater Ihre Zeichnung nachher nicht gefällt - wie komme ich 'n dann auf meine Kosten?"
„Nun, wenn wir es nun so machten: ich zeichne den Entwurf des Abends zu Hause - in meiner Freizeit. Wird er angenommen, so berechne ich Ihnen die Zeit, die ich darauf verwendet habe. Wenn es nicht das Geeignete ist, rechne ich die Zeit überhaupt nicht an."
Rushtons Gesicht erhellte sich beträchtlich. „Na, schön. So können Sie's machen", sagte er und tat gutmütig. „Aber auf jeden Fall dürfen Sie's nicht zu üppig auftragen, denn, wie gesagt, er will nicht zuviel dafür ausgeben. Tatsache ist, wenn's 'ne Menge kostet, lässt er's einfach überhaupt nicht machen."
Rushton kannte Owen gut genug, um sicher zu sein, dass ihn keine Rücksicht auf Zeit oder Mühe davon abhalten würde, sein bestes Können an diese Arbeit zu wenden. Er wusste: übernahm der Mann das Zimmer überhaupt, so werde er die Arbeit gewiss nicht schludern, um schnell damit fertig zu werden; und Rushton wünschte auch gar nicht, dass er sich beeilte. Er wollte weiter nichts, als Owen von Anfang an einprägen, er dürfe nicht zuviel Zeit berechnen. Jeden Profit, der aus der Arbeit zu holen war, wollte er für sich selbst sichern. Ein schlauer Mensch war dieser Rushton; er hatte den idealen Charakter: wie ihn ein Mann braucht, der im Geschäft Erfolg haben und im Leben vorankommen will. Mit anderen Worten, seine Veranlagung glich sehr der eines Schweines - er war äußerst selbstsüchtig.
Niemand hat ein Recht, ihn deswegen zu verurteilen, denn alle, die unter dem gegenwärtigen System leben, frönen mehr oder weniger der Selbstsucht. Wir müssen selbstsüchtig sein: das System verlangt es. Wir müssen selbstsüchtig sein, sonst werden wir hungern, uns in Lumpen kleiden und schließlich in der Gosse sterben. Je selbstsüchtiger wir sind, desto besser geht es uns. Im „Kampf
ums Dasein" sind nur die Selbstsüchtigen und Schlauen in der Lage, sich zu behaupten; alle übrigen werden zu Boden geschlagen und zertreten. Niemandem kann gerechterweise ein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er selbstsüchtig handelt - es ist eine Frage der Selbsterhaltung -, entweder müssen wir verletzen oder verletzt werden. Das System ist es, das den Vorwurf verdient. Was die Leute, die das System zu verewigen wünschen, verdienen, ist eine andere Frage.
„Wann, glauben Sie, werden Sie 'n den Entwurf fertig haben?" fragte Rushton. „Können Sie 'n heut Abend machen?"
„Ich fürchte, nein", antwortete Owen und war versucht, über diese absurde Frage zu lachen. „Das verlangt ein wenig Nachdenken."
„Wann können Sie 'n damit fertig sein? Heut ist Montag. Mittwoch früh?"
Owen zögerte.
„Wir wolln ihn nicht zu lange warten lassen, wissen Sie, sonst gibt er vielleicht die Idee ganz auf."
„Nun, sagen wir also Freitag morgen", sagte Owen und beschloss, wenn nötig, die ganze Nacht über aufzubleiben, um mit der Arbeit fertig zu werden.
Rushton schüttelte den Kopf.
„Können Sie's nicht früher erledigen? Ich fürchte, wenn wir 'n so lange warten lassen, verlieren wir den Auftrag vielleicht ganz."
„Schneller kann ich die Skizzen in der Freizeit nicht anfertigen", antwortete Owen errötend. „Wenn Sie mich morgen daheim bleiben lassen und ich die Zeit ebenso anrechnen kann, wie wenn ich in der ,Höhle' arbeite, könnte ich am Mittwoch wieder meine übliche Arbeit machen und Ihnen die Zeichnungen am Donnerstag morgen geben."
„Oh, in Ordnung", sagte Rushton hastig. „Aber immerhin - machen Sie's nicht zu üppig, sonst müssen wir so viel für die Arbeit berechnen, dass er sie schließlich doch nicht machen lässt. Guten Abend."
„Die Photographie kann ich wohl mitnehmen?"
„Ja, gewiss", sagte Rushton und begab sich wieder an die Durchsicht seiner Briefe.
Noch lange, nachdem Owens Frau und Frankie eingeschlafen waren, arbeitete Owen an diesem Abend im Wohnzimmer, durchstöberte alte Nummern der „Dekorateurzeitung", blätterte in anderen Zeichenbuchillustrationen nach Beispielen maurischer Kunst und machte Bleistiftskizze11-
Er versuchte noch nicht, irgend etwas fertig zu stellen;
zuerst musste er nachdenken, aber er skizzierte den allgemeinen Plan, und als er schließlich zu Bett ging, konnte er lange nicht schlafen. Er glaubte fast, im Salon in der „Höhle" zu sein. Zuerst müsste die hässliche Gipsblume in der Mitte heruntergenommen werden, deren sämtliche Vertiefungen mit alter Schlämmkreide ausgefüllt waren. Das Karnies ginge; glücklicherweise war es sehr einfach, mit tiefer Einbuchtung und ohne viel Verzierungen. Nachdem dann Decke und Wände ordentlich vorbereitet wären, ginge man an die Dekoration. Die Wände müssten in Felder und Bogen eingeteilt werden, mit Malerei und Gitterwerk darin; die Türfüllungen wären auf ähnliche Weise auszuschmücken. Die Gesimse der Tür- und Fensterrahmen wollte er mit Farben und Gold hervorheben, damit sie im Stil mit der anderen Arbeit übereinstimmten, und die Einbuchtung des Karnieses mattgelb mit einer kühnen farbigen Verzierung streichen - Gold war in der Vertiefung nicht ratsam wegen der ungleichmäßigen Verteilung des Lichts, aber einige der Gesimse des Karnieses sollten golden sein. Auf der Decke wollte er ein großes Feld mit einer entsprechenden Zeichnung in Gold und bunten Farben ausmalen und es mit einem breiten Rand oder einer Einfassung umgeben. Um diesen Rand vom Mittelfeld zu trennen, sollte eine schmale Einfassung da sein und eine zweite, aber breitere, rings um die äußere Kante des Randes, wo Decke und Karnies zusammentrafen. Sowohl die Einfassungen als auch der Rand müssten mit bunten und goldenen Ornamenten bedeckt sein. Sehr sorgfältig war zu überlegen, welche Teile vergoldet werden sollten - denn während große vergoldete Flächen leicht protzig und geschmacklos aussahen, waren viele feine Goldlinien unwirksam, besonders auf einer ebenen Oberfläche, wo sie nicht immer das Licht einfingen. Er überdachte ein Stadium der Arbeit nach
dem andern und sah sie von Stufe zu Stufe voranschreiten, bis der große Raum endlich verwandelt und prächtig anzusehen war. Und dann, mitten in der Freude, die er beim Planen der Arbeit empfand, stellte sich die Furcht ein, dass man sie vielleicht überhaupt nicht ausführen ließe.
Die Frage, welche persönlichen Vorteile er dabei haben werde, kam Owen nicht ein einziges Mal. Er wünschte einfach, die Arbeit zu tun, und er war derartig beschäftigt, darüber nachzudenken und zu planen, wie sie ausgeführt werden sollte, dass die Frage des Gewinns ganz verdrängt wurde.
Obwohl aber der Gedanke, welcher Profit aus der Arbeit zu schlagen sei, Owen gar nicht in den Sinn kam, würde diese Frage Mr. Rushton zur rechten Zeit gründlich erwägen. Ja, sie war das einzige, was Mr. Rushton an der Arbeit überhaupt interessierte: nämlich, wie viel Geld daraus zu machen sei. Eben dies ist mit dem oft zitierten Sprichwort gemeint: „Der Arbeiter schafft mit den Händen - der Herr mit dem Gehirn." |
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