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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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55. Kapitel Das Ende

Am folgenden Abend suchte Barrington Owens auf. Er sagte, er fahre während der Feiertage nach Hause und sei gekommen, um sich vorläufig zu verabschieden.
Owen war es während der letzten Monate nicht gut gegangen, obgleich er einer der wenigen Glücklichen war, die ein wenig Arbeit hatten. Der größte Teil des Geldes, das er verdiente, ging für die Miete drauf, und um diese zu zahlen, musste die Familie häufig an Nahrungsmitteln sparen. In letzter Zeit war es mit seiner Brust so schlimm geworden, dass die geringste Anstrengung Hustenanfälle und Luftmangel hervorrief, und das machte es ihm beinahe unmöglich zu arbeiten, selbst wenn er Gelegenheit dazu hatte; häufig war er nur durch fast übermenschliche Willensanstrengung fähig, überhaupt weiterzuarbeiten. Es gelang ihm, bis zu einem gewissen Grade vor Rushton den Schein zu wahren, der zwar wusste, dass Owen nicht so stark war wie andere, doch der geneigt war, es zu übersehen, solange Owen seinen Teil Arbeit verrichten konnte, denn er war ein sehr nützlicher Arbeiter, wenn es viel zu tun gab. In letzter Zeit aber begannen einige der Leute, mit denen Owen zusammen arbeitete, Unzufriedenheit zu äußern, weil sie ihn zum Partner hatten. Wenn zwei Leute zusammen arbeiteten, so erwartet der Meister, dass auch die Arbeit von zwei Leuten verrichtet wird, und kann einer von beiden nicht seinen vollen Anteil leisten, so ist das für den anderen um so schwerer.
Owen hatte niemals genügend Geld, um einen Arzt aufzusuchen und sich beraten zu lassen; zu Beginn des Winters hatte er jedoch von Rushton einen Schein für das Hospital des Ortes erhalten. Das ganze Jahr über erwartete man jeden Sonnabend von den Leuten, dass sie bei der Lohnauszahlung einen Penny oder zwei in die Büchse für das Hospital warfen. Von jeder Firma und jeder Werkstätte der Stadt wurden auf diese Weise Beiträge eingenommen. Die Meister übergaben die Büchsen regelmäßig der Hospitalverwaltung und erhielten dafür einige Scheine, von denen sie jedem einen gaben, der ihn brauchte und der darum bat. Der Unternehmer musste auf dem Schein oder dem Antragsformular Namen und Adresse des Antragstellers ausfüllen und bestätigen, dass es sich bei diesem seiner Meinung nach um einen „unterstützungswürdigen Fall" handele, „für einen solchen Akt der Wohltätigkeit geeignet". Wie die Mehrheit der Arbeiter, empfand Owen so etwas wie Grauen, dieses Hospital aufzusuchen, um sich beraten zu lassen; er war jedoch so krank, dass er seinen Stolz hinunterschluckte und dorthin ging. Wie sich herausstellte, war das teurer, als hätte er einen privaten Arzt aufgesucht, denn er musste an einem bestimmten Morgen zu einer bestimmten Stunde im Hospital sein. Dazu musste er von der Arbeit fortbleiben. Die Medizin, die ihm verschrieben wurde und die er sich selbst zu kaufen hatte, half ihm nicht, denn in Wahrheit brauchte er - wie tausend andere - keine Medizin, sondern anständige Lebensbedingungen und anständige Nahrung - Dinge, die sich für ihn seit Jahren so weit jenseits des Erreichbaren befanden, als liege er mitten in einer Wüste einsam im Sterben.
Gelegentlich brachte Nora es fertig - indem sie sich irgend etwas anderes Notwendiges versagte -, ihm eine Flasche von einer der zahlreichen Medizinen zu kaufen, für die soviel Reklame gemacht wurde; obgleich einige Medikamente gut waren, konnte sie ihm doch nicht genügend davon kaufen, damit es ihm etwas genützt hätte.
Obwohl ihn häufig eine Art panische Angst vor der Zukunft ergriff - davor, dass er arbeitsunfähig sein werde -, kämpfte er gegen diese Stimmung an und bemühte sich zu glauben, wenn es erst wärmer werde, ginge es ihm auch wieder besser.
Als Barrington hereinkam, saß Owen in einem Liegestuhl im Wohnzimmer vor dem Feuer. Er war an diesem Tag mit Harlow zur Arbeit gewesen und hatte in Rushtons Haus in zwei Zimmern die Decke abgewaschen und die alte Tapete von den Wänden gekratzt; er sah sehr hager und erschöpft aus.
„Ich habe es dir noch nie erzählt", sagte Barrington, nachdem sie sich ein Weilchen unterhalten hatten, „ich nehme aber an, du hast schon erraten, dass ich nicht bei Rushton gearbeitet habe, weil ich es nötig hätte, um leben zu können. Ich wollte mich nur selbst von der Lage überzeugen, das Leben sehen, wie es für die Mehrzahl der Menschen ist. Mein Vater ist ein wohlhabender Mann. Er ist zwar mit meiner Überzeugung nicht einverstanden, legt mir aber ihrethalben keine Hindernisse in den Weg. Ich habe ein ziemlich großes Monatsgeld, das ich nach Gutdünken ausgebe. Weihnachten verlebe ich mit meiner Familie; aber ich habe die Absicht, im Frühling einen Agitationswagen für die Sozialistische Partei auszustatten, und dann kehre ich wieder. Wir werden einige der besten Redner der Bewegung kommen lassen; jeden Abend werden wir Versammlungen abhalten, werden die Stadt mit Literatur überschwemmen und eine Ortsgruppe der Partei gründen."
Owens Augen leuchteten auf, und sein blasses Gesicht rötete sich.
„Ich werde etwas dazu beitragen können, um die Versammlungen zu propagieren", sagte er. „Ich könnte zum Beispiel Plakate und Bekanntmachungen malen."
„Und ich könnte bei der Verteilung der Handzettel helfen", fiel Frankie ein und blickte vom Boden auf, wo er saß und die Eisenbahn laufen ließ. „Ich kenne 'ne Menge Jungens, die mit mir kommen und sie auch unter die Haustüren stecken werden."
Sie saßen im Wohnzimmer, und die Tür war geschlossen. Mrs. Owen befand sich mit Ruth im Nebenzimmer. Während sich die beiden Männer unterhielten, hörten sie, wie an der Haustür geläutet wurde; Frankie rannte hinaus, um nachzusehen, wer es sei, und schloss die Tür hinter sich. Barrington und Owen setzten ihr Gespräch fort, und von Zeit zu Zeit konnten sie aus dem Nebenzimmer leises Stimmengewirr vernehmen. Nach einem Weilchen hörten sie, wie jemand zur Wohnungstür hinausging, und fast unmittelbar danach stürzte Frankie in wilder Aufregung ins Zimmer und rief: „Vati und Mr. Barrington! Ruft dreimal hurra!" Und er begann, lustig im Zimmer herumzuhüpfen, vor Freude offenbar ganz außer sich.
„Weswegen sollen wir denn hurra rufen?" fragte Barrington, dem dieses ungewöhnliche Benehmen recht rätselhaft war.
„Mr. Easton ist mit Freddie gekommen und hat Mrs. Easton besucht, und sie ist mit ihnen nach Haus gegangen", antwortete Frankie, „und - das Baby hat sie uns zu Weihnachten geschenkt!"
Barrington wusste bereits etwas über Eastons Trennung von dessen Frau, und nun erzählte ihm Owen die Geschichte ihrer Aussöhnung.
Kurze Zeit darauf verabschiedete sich Barrington. Sein Zug sollte um acht Uhr fahren; es war bereits kurz vor halb acht, und er sagte, er müsse noch einen Brief schreiben. Nora brachte das Baby herein, um es ihm zu zeigen, bevor er fortging, und dann half sie Frankie in den Mantel, denn Barrington hatte gebeten, dass der Junge ihn noch ein Stück begleiten dürfe.
Am Ende der Straße lag ein Papierwarenladen. Barrington ging hinein und kaufte einen Bogen Briefpapier mit einem Umschlag, und nachdem er sich Feder und Tinte geborgt hatte, schrieb er einen Brief und steckte ihn zusammen mit zwei anderen Scheinen, die er aus seiner Brieftasche genommen hatte, in den Umschlag. Nachdem er diesen adressiert hatte, kam er wieder aus dem Laden; Frankie wartete draußen auf ihn. Er gab dem Jungen den Brief.
„Ich möchte, dass du das hier gleich nach Hause bringst und es deinem Vati gibst. Aber halt dich unterwegs nicht auf und spiel nicht; sprich auch mit niemand, bis du zu Haus bist."
„Geht in Ordnung", erwiderte Frankie, „ich werd den ganzen Weg rennen."
Barrington zögerte und sah nach der Uhr. „Ich glaube, ich habe Zeit genug, um mit dir bis zu eurer Haustür zurückzugehen", sagte er, „dann bin ich ganz sicher, dass du ihn nicht verlierst."
Sie kehrten also um und erreichten nach einigen Minuten den Hauseingang. Barrington öffnete die Tür und blieb einen Augenblick lang im Flur stehen, um zuzusehen, wie Frankie die Treppe hinaufstieg.
„Fährt Ihr Zug über die Brücke?" fragte der Junge, blieb stehen und blickte über das Geländer.
„Ja. Warum?"
„Weil wir die von unserem Wohnzimmerfenster aus sehen können, und wenn Sie mit dem Taschentuch winken, wenn der Zug über die Brücke fährt, können wir zurückwinken."
„Na gut, das werde ich tun. Auf Wiedersehen!"
Barrington wartete, bis er hörte, wie Frankie die Tür zu Owens Wohnung öffnete und wieder schloss; dann eilte er fort. Als er auf die Hauptstraße gelangte, hörte er Gesang, und an der Ecke einer der Nebenstraßen sah er eine Menschenmenge stehen. Als er sich näherte, erkannte er, dass es eine religiöse Versammlung war.
Im Mittelpunkt der Menge hing eine brennende Laterne an einer Stange, und auf den Scheiben dieser Lampe stand geschrieben: „Täuschet Euch nicht: Gott lässt seiner nicht spotten."
Im Zentrum des Kreises predigte Mr. Rushton. Er sagte, sie seien heute Abend hier hergekommen, um allen guten Leuten, die er dort stehen sehe, die Botschaft von der großen Freude zu bringen. Die Gemeindemitglieder der „Kapelle des Strahlenden Lichts" - der auch er selbst angehöre - seien die Veranstalter dieser Versammlung, aber es sei keine Versammlung nur einer Sekte, denn er freue sich, mitteilen zu können, dass mehrere Mitglieder verschiedener anderer Bekenntnisse mit ihnen gemeinsam am guten Werk arbeiteten. Im Laufe seiner weiteren Rede sprach Rushton die Leute in der Menge mehrmals als seine „Brüder und Schwestern" an, und - so merkwürdig es ist -niemand lachte.
Barrington sah sich die „Brüder" ringsum an: Mr. Sweater, der in einem neuen Zylinderhut nach der letzten Mode und in einem pelzbesetzten Überzieher prangte, Ehrwürden Schwätzer, Pfarrer der Kirche des „Übertünchten Grabes", und Mr. Schinder - Mitglied des Kirchenvor-
Stands der Gemeinde dieses angeblichen Ortes der Gottesverehrung -, beide in kostbares Tuch und feines Leinen gekleidet, Zylinder auf dem Kopf, während ihr allgemeines Aussehen davon zeugte, dass sie viele Tage lang üppig gespeist hatten. Mr. Didlum, Mrs. Hungerlaß, Mr. Sudler, Mr. Schluder, Mr. Schmiersdrauf und Mr. Lasses.
Und mitten unter ihnen stand Pfarrer John Starr und verrichtete die Arbeit, für die er bezahlt wurde. Als er dort im Vordergrund dieser Gesellschaft stand, deutete nichts an seinem anmutigen Äußern darauf hin, dass seine eigentliche Funktion die war, den Zutreiber für sie zu machen und ihr zu schmeicheln, dem ekelhaft selbstsüchtigen Leben dieser Bande von Schwindlern, Sklavenantreibern und kleinlichen Tyrannen, aus denen die Gemeinde der „Kapelle des Strahlenden Lichts" in ihrer Mehrheit bestand, den Schein der Ehrbarkeit und Redlichkeit zu verleihen.
Er verrichtete die Arbeit, für die er bezahlt wurde. Schon durch die Tatsache seiner Anwesenheit verzieh und rechtfertigte er die Verbrechen dieser typischen Vertreter jener verächtlichen Klasse, deren Habgier und Unmenschlichkeit die Erde zu einer Hölle gemacht hat.
Es stand auch eine Anzahl „ehrbarer", gut gekleideter Leute dort, die aussahen, als könne ihnen ein gutes Mahl nicht schaden, ferner zwei schäbig angezogene, ärmlich aussehende Individuen, die in diesem glänzenden Haufen recht fehl am Platz aussahen.
Die übrigen Brüder waren halbverhungerte, blasse Arbeiter und Arbeiterfrauen, die meisten davon in die abgelegten Sachen anderer Leute gekleidet, mit rissigen, geflickten und regendurchlässigen Stiefeln an den Füßen.
Nachdem Rushton seine Ansprache beendet hatte, trat Didlum vor, um den Text des Kirchenliedes bekannt zu geben, das Rushton zum Schluss seiner Ansprache zitiert
„Oh, schlüßt euch an der frommen Schar,
und zieht hinan zur Seligkeit."
So seltsam und unglaubhaft es dem Leser auch scheinen mag - die Leute, welche diese Versammlung veranstalteten, hatten die Frechheit, obgleich sie niemals etwas taten, was Jesus gepredigt hatte, zu behaupten, sie seien Anhänger Christi - Christen!
Jesus hat gesagt: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden", - „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist" und „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme." Und doch machten alle diese selbsternannten „Anhänger" Christi die Anhäufung von Geld zur Hauptbeschäftigung ihres Lebens.
Jesus hat gesagt: „Und ihr sollt euch nicht lassen Meister nennen. Sie binden aber schwere und unerträgliche Bürden und. legen sie den Menschen auf den Hals; aber sie selbst wollen dieselben nicht mit einem Finger regen. Denn einer ist euer Meister, Christus, ihr aber seid alle Brüder." Doch fast alle diese angeblichen Anhänger des bescheidenen Arbeiters von Nazareth behaupteten, der Meister oder die Meisterin anderer Menschen zu sein. Und was die Brüderlichkeit aller betraf - während die meisten von ihnen in kostbares Tuch und feines Linnen gekleidet waren und jeden Tag üppig speisten, wussten sie, dass rings um sie Tausende von denen, die sie heuchlerisch ihre „Brüder" nannten, Männer, Frauen und kleine Kinder, vor Hunger und Kälte langsam dahinstarben; und wir haben ja bereits gesehen, wie viel Brüderlichkeit zwischen Sweater oder Rushton und den elenden, halbverhungerten armen Teufeln bestand, die sie beschäftigten.
Sobald man sie fragte, weshalb sie denn die von Jesus gepredigten Dinge nicht in die Praxis umsetzten, antworteten sie, das sei unmöglich! Sie schienen nicht zu bemerken, dass sie mit diesen Worten tatsächlich sagten, Jesus habe eine undurchführbare Religion gelehrt, und sie schienen vergessen zu haben, dass Jesus gesagt hat: „Was heißt ihr mich aber HERR, HERR, und tut nicht, was ich euch sage?" - „Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der ist einem törichten Manne gleich, der sein Haus auf den Sand baute."
Obgleich aber keiner dieser selbsternannten „Anhänger" Christi jemals tat, was Jesus gesagt hatte, sprachen sie sehr viel darüber, sangen fromme Lieder und sagten des Scheins halber lange Gebete auf, und sie kämen hierher, um diejenigen, die noch in der Finsternis wandelten, aufzufordern, von ihrem sündigen Weg abzulassen. Und sie verschafften sich diese Laterne und schrieben darauf einen Spruch: „Täuschet Euch nicht. Gott lässt seiner nicht spotten."
Sie brandmarkten alle, die anders waren als sie, als „Ungläubige" und vergaßen, dass die wahren Ungläubigen einzig die sind, welche systematisch den HERRN betrügen und ihm untreu sind, den zu lieben und dem zu dienen sie vorgeben.
Schinder, der ein wenig erkältet war, hatte heute Abend nicht gesprochen; mehrere andere Ungläubige aber, darunter Sweater, Didlum, Schwätzer und Starr, hatten eine Ansprache an die Versammelten gerichtet und dabei ganz besonders die Arbeiter, aus denen die Menge in ihrer Mehrheit bestand, aufgerufen, alle eitlen weltlichen Freuden aufzugeben, in denen sie gegenwärtig schwelgten, und wie Rushton sich beredt zum Schluss seiner Ansprache ausgedrückt hatte, gefordert:
„Schlüßt euch an der frommen Schar,
und zieht hinan zur Seligkeit!"
Als Didlum die Worte zu Ende gelesen hatte, gab die Dame am Harmonium den Ton des Liedes an, und sämtliche Jünger fielen in den Gesang ein:
„Oh, schließt euch an der frommen Schar,
und zieht hinan zur Seligkeit!"
Während des Gesangs gingen einige der Jünger unter der Menge umher und verteilten Traktätchen. Einer von ihnen bot bald auch Barrington eines an, und als dieser den Mann anblickte, sah er, dass es Slyme war, der ihn im selben Augenblick gleichfalls erkannte und mit seinem Namen ansprach. Barrington antwortete nicht, außer um das Traktätchen abzulehnen:
„Ich will das nicht - von dir!" sagte er verächtlich.
„Oh, ich weiß, woran du denkst", sagte Slyme nach einer Pause und sprach in beleidigtem Ton; „aber du solltest über niemand zu hart urteilen. Es war ja nicht nur meine Schuld, und du weißt gar nicht, wie viel ich deswegen schon gelitten hab. Wenn's nicht um des HERRN willen gewesen wär, ich glaub, ich hätt mich ertränkt!"
Barrington antwortete nicht, und Slyme schlich davon; als das Lied beendet war, trat Bruder Sweater vor und lud alle Anwesenden herzlich ein, nächste Woche dem Gottesdienst in der „Kapelle des Strahlenden Lichts" beizuwohnen. Natürlich lade er sie besonders dorthin ein, weil er selbst mit diesem Ort verbunden sei; er bitte sie jedoch und flehe sie an, selbst wenn sie nicht dorthin kommen wollten, irgendwohin zu gehen; es gebe genügend andere Gotteshäuser in der Stadt, ja, fast an jeder Straßenecke befinde sich eins. Wem der Gottesdienst in der „Kapelle des Strahlenden Lichts" nicht gefalle, der könne ja in die Kirche des „Übertünchten Grabes" gehen, er hoffe aber ernstlich, alle die guten Leute, die er ringsum stehen sehe, gingen irgendwohin.
Ein kurzes Gebet von Schwätzer bildete den Abschluss der Versammlung, und nun stellte sich auch der Grund für die Anwesenheit der beiden ärmlich aussehenden, schäbig angezogenen Jünger heraus; denn während die besser gekleideten und daher achtungswürdigeren Brüder einander die Hand schüttelten und sich gegenseitig angrinsten oder sich um die beiden Pfarrer und Mr. Sweater drängten, trugen diese beiden armen Teufel das Harmonium und die Laterne fort, zusammen mit den Gesangbüchern und dem Rest der Traktätchen.
Als Barrington davoneilte, um seinen Zug zu erreichen, gab ihm einer der „Anhänger Jesu" eine Karte, die er beim Schein einer Straßenlaterne las:

„Komm und tritt der Brüderschaft
der KAPELLE des STRAHLENDEN LICHTS bei.
Psalmengesangsväreinigung
Jeden Sonntag um 15 Uhr
Lasst BRÜDERLICHE LIEBE fortwalten.
,Oh, schließt euch an der frommen Schar,
und zieht hinan zur Seligkeit'"

Barrington dachte, lieber wolle er zusammen mit einigen anständigen Leuten in die Hölle gehen - falls es einen
solchen Ort gab, als die Seligkeit mit einer solchen Bande teilen.
Nora saß im Vorderzimmer am Kamin und nähte, den schlafenden Säugling im Schoß. Owen lehnte ihr gegenüber im Liegestuhl. Beide waren recht schweigsam und in Gedanken verloren, seit Barrington gegangen war. Die Versöhnung zwischen Easton und Ruth war hauptsächlich durch ihre Bemühungen zustande gekommen, und sie hatten sie so sehr herbeigewünscht, dass sie nicht viel an ihre eigene Lage gedacht hatten.
„Ich meine, ich könnte mich jetzt um nichts in der Welt mehr von ihr trennen", brach Nora schließlich das lange Schweigen, „und Frankie hat sie gleichfalls so gern. Trotzdem aber kann ich mich nicht darüber freuen, wenn ich daran denke, wie krank du bist."
„Ach, mir wird's schon wieder gut gehen, wenn es ein bisschen wärmer wird", sagte Owen, eine Munterkeit vortäuschend, die er nicht empfand. „Irgendwie haben wir uns immer durchgeschlagen; die arme Kleine wird nicht viel ausmachen, und bei uns wird sie es nicht schlechter haben, als wäre Ruth hier geblieben."
Während er sprach, beugte er sich vor und berührte die Hand des schlummernden Kindes, das mit einer Bewegung, die ihn ergriff, die Finger um den seinen schloss. Während er dieses kleine, hilflose, von ihm abhängige Wesen betrachtete, kam ihm fast dankbar zum Bewusstsein, dass er niemals das Herz hätte, das entsetzliche Vorhaben auszuführen, welches er in Stunden der Verzweiflung zuweilen geplant hatte.
„Auf irgendeine Weise haben wir uns noch immer durchgeschlagen", wiederholte er, „und das werden wir auch weiter tun."
Kurz darauf hörten sie Frankies Schritte die Treppe heraufkommen, und einen Augenblick danach trat der Junge ins Zimmer.
„Wir müssen aus dem Fenster gucken und Mr. Barrington zuwinken, wenn sein Zug über die Brücke fährt", rief er atemlos. „Und den Brief hier schickt er. Schnell, Vati, mach das Fenster auf, sonst ist's vielleicht zu spät."
„Wir haben noch reichlich Zeit", erwiderte Owen, über das Ungestüm des Jungen lächelnd. „Fast zwanzig Minuten. So lange wollen wir doch das Fenster nicht offenlassen. Auf unserer Uhr ist's jetzt erst drei Viertel acht, und sie geht fünf Minuten vor."
Um aber ganz sicher zu sein, dass der Zug nicht etwa unbemerkt vorbeifuhr, zog Frankie die Rollvorhänge hinauf, rieb die beschlagenen Scheiben blank und nahm seinen Posten am Fenster ein, um Wache zu halten, bis der Zug kam, während Owen den Briefumschlag öffnete:

„Lieber Owen!
Beiliegend findest Du zwei Banknoten, eine über zehn Pfund und eine über fünf Pfund. Die erstere bitte ich Dich für Deinen persönlichen Bedarf in dem gleichen Geist von mir anzunehmen, in welchem ich sie Dir übersende und in welchem ich sie von Dir annähme, wenn die Lage umgekehrt wäre. Ich weiß genau, wenn ich mich in Not befände, so teiltest Du gern mit mir, was immer Du hättest, und ich brächte es nicht über mich, Dich durch eine Ablehnung zu verletzen. Die andere Banknote bitte ich Dich morgen früh einzuwechseln. Gib drei Pfund davon Mrs. Linden und den Rest Bert Whites Mutter.
Ich wünsche Euch allen frohe Weihnachten und hoffe, Dich gesund und kampfbegierig wieder zu finden, wenn ich im Frühjahr zurückkehre.
Für unsere Sache!
Dein
George Barrington."

Owen las den Brief zwei-, dreimal durch, ehe er ihn richtig verstehen konnte, und dann reichte er ihn Nora ohne ein Wort des Kommentars - denn in diesem Augenblick hätte er um nichts in der Welt sprechen können -, und als sie nun den Brief las, war ihr, als sei ihr eine schwere Last vom Herzen genommen. All die unbestimmte Angst vor der Zukunft verschwand, während sie daran dachte, was alles dieses kleine Stück Papier möglich machte.
Inzwischen blickte Frankie am Fenster angestrengt in Richtung des Bahnhofs.
„Meinst du nicht, jetzt sollten wir lieber das Fenster aufmachen, Vati?" meinte er endlich, als die Uhr acht schlug. „Das Fenster beschlägt genauso schnell, wie ich es abwische, und ich kann nicht richtig raussehen. Bestimmt ist's jetzt beinah soweit; vielleicht geht unsre Uhr gar nicht mal so viel vor, wie du glaubst."
„Na gut, machen wir's jetzt auf, damit du sicher bist", sagte Owen, erhob sich und schob das Fenster in die Höhe, und nachdem Nora das Kind in einen Schal gehüllt hatte, trat sie zu ihnen.
„Jetzt kann's nicht mehr lange dauern, wisst ihr", sagte Frankie. „Die Strecke ist frei. Sie haben grade, bevor du das Fenster aufgemacht hast, das Signal auf grün gestellt."
Nach wenigen Minuten hörten sie die Lokomotive pfeifen, während sie den Bahnhof verließ, und dann wurden, einen Augenblick, bevor die Maschine selbst um die Kurve erschien, die blanken Schienen erleuchtet, und im Scheinwerferlicht der Lokomotive erglänzten sie wie poliertes Gold; einige Sekunden darauf gelangte der Zug in Sicht, nahm auf dem kurzen Stück gerader Strecke Geschwindigkeit an und donnerte einen Augenblick später über die Brücke. Die Entfernung war zu groß, als dass sie das Gesicht erkannt hätten - aber sie sahen, dass jemand aus einem Wagenfenster blickte und sein Taschentuch schwenkte, und sie wussten, während sie mit dem ihren zurückwinkten, dass es Barrington war. Bald war außer den Schlusslichtern vom Zug nichts mehr zu sehen, und kurz darauf verschwanden auch die in der Dunkelheit.
Aus dem hochgelegenen Fenster, an dem sie standen, überblickten sie einige der umliegenden Straßen und einen großen Teil der Stadt. Auf der anderen Straßenseite standen ein paar leere Häuser, mit den Anzeigentafeln und Plakaten verschiedener Häusermakler bedeckt. Auch der etwa zwanzig Meter davon gelegene Laden, in dem früher Mr. Kleinmann Mieter gewesen war - der Lebensmittelhändler, der vor zwei oder drei Monaten Bankrott gemacht hatte -, war mit ähnlichen Verzierungen bepflastert. Ein wenig weiter, an der gegenüberliegenden Ecke, befand sich das Geschäft der „Monopol-Lebensmittelgesellschaft", in dem die hellen Lichter gerade verlöschten, denn
wie die meisten übrigen Läden, wurde es soeben für die Nacht geschlossen, und die Straßen nahmen ein trübseligeres Aussehen an, als eins ihrer Lichter nach dem anderen erlosch.
Der Tag war schön gewesen, und während der ersten Abendstunden hatte der Mond - es war beinahe Vollmond - am sternenklaren Himmel geleuchtet, im Laufe der letzten Stunde aber hatte sich ein starker Nordostwind erhoben; es war bitterkalt geworden, und die Sterne wurden schnell von den dichten Wolken verhüllt, die langsam den Himmel bedeckten.
Während Owen und die Seinen noch einige Minuten, nachdem der Zug ihren Blicken entschwunden war, am Fenster verweilten und diese Szene betrachteten, schien es ihm, als sei die hereinbrechende Dunkelheit ein Vorhang, der die drunten herrschende Niedertracht vor den Blicken verbarg. In allen Ländern warteten Myriaden bewaffneter Männer darauf, dass ihre Herren ihnen das Zeichen gaben, damit sie sich aufeinander stürzten und sich gegenseitig wie wilde Tiere zerrissen. Ringsum bestand ein Zustand entsetzlichster Anarchie, herrschten üppiger Reichtum, Luxus, Laster, Scheinheiligkeit, Armut, Hunger und Verbrechen. Menschen kämpften buchstäblich miteinander um das Vorrecht, für ihr tägliches Brot arbeiten zu dürfen, und kleine Kinder weinten vor Hunger und Kälte und starben vor Entbehrungen langsam dahin.
Die düsteren Schatten, welche die Straßen einhüllten, verbargen gegenwärtig den grauen, trübseligen Anblick der Armut und des versteckten Leids, den sie boten, und die schwarzen Wolkenmassen, die sich so drohend am sturmdurchtosten Himmel sammelten, schienen der das kapitalistische System einholenden Nemesis zu gleichen -jenes grässliche System, das, nachdem es sein volles Ausmaß abscheulicher Ungerechtigkeit und Grausamkeit erreicht hatte, jetzt schnell in Trümmer zerfiel - verurteilt zur unvermeidlichen Niederlage, weil es so verrucht und so scheußlich war, unrettbar verurteilt, unter der Plage und dem Fluch sinnlosen und unvorteilhaften Eigennutzes für immer zu versinken, während sein Andenken von allen geschmäht und verabscheut wurde.
Aus diesen Ruinen aber musste sich mit Gewissheit das herrliche Gebäude des genossenschaftlichen Gemeinwesens erheben. Die Menschheit, aus der langen Nacht der Sklaverei und des Kummers erwacht und sich aus dem Staube aufrichtend, in dem sie so lange, mit dem Gesicht auf dem Boden, gelegen hatte, blickte dann endlich zum Licht empor, welches die dunklen Wolken zerrisse und auflöste, die so lange Zeit das Antlitz des Himmels vor ihr verborgen hatten: das Licht, das auf das weltweite Vaterland scheinen und die goldenen Dome und glänzenden Zinnen der prächtigen Städte der Zukunft beleuchten wird, wo die Menschen in wahrer Brüderlichkeit, wahrhaft guten Willens und in echter Freude zusammen leben werden. Das goldene Licht, das sich von den Strahlen der aufgegangenen Sonne des Sozialismus über die ganze glückliche Erde ergießen wird.

 

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