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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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14. Kapitel Drei Kinder. Der Lohn der Intelligenz

Owen verbrachte den größten Teil der Mittagsstunde allein im Salon, machte Bleistiftskizzen in sein Notizbuch und nahm Maß. Nach Feierabend ging er, anstatt wie gewöhnlich gleich heimzukehren, zur öffentlichen Bibliothek, um zu sehen, ob er in einem der dort vorhandenen Bücher irgend etwas über maurische Dekorationskunst finden konnte. Obwohl es nur eine kleine und mangelhaft ausgestattete Bücherei war, wurde er belohnt, denn er fand mehrere Abbildungen von Mustern und fertigte Skizzen davon an. Nachdem er damit etwa eine Stunde zugebracht hatte und sich auf dem Heimweg befand, bemerkte er zwei Kinder - einen Jungen und ein Mädchen - die ihm bekannt vorkamen. Sie standen vor dem Schaufenster eines Schokoladengeschäfts und betrachteten die Waren in der Auslage. Als Owen näher kam, wandten sich die Kinder um, und sie erkannten einander gleichzeitig. Es waren Charley und Elsie Linden. Als Owen bei ihnen war, sprach er sie an, und der Junge fragte, was Owen wohl zu dem Streit meinte, den sie gerade miteinander austrugen.
„Hören Sie mal, Onkel. Was ist besser: für einen Farthing Dauerlutscher oder 'n Überraschungsbeutel?"
„Ich würde lieber einen Überraschungsbeutel nehmen", erwiderte Owen, ohne zu zögern.
„Siehste! Hab ich dir doch gesagt!" rief Elsie triumphierend aus.
„Na, ist mir egal. Ich möcht am liebsten die Dauerlutscher haben", sagte Charley eigensinnig.
„Nanu, könnt ihr euch denn nicht einigen, welches von beiden ihr kaufen wollt?"
„0 nein, das nicht", antwortete Elsie. „Wir haben bloß überlegt, was wir kaufen würden, wenn wir 'n Farthing hätten; aber in Wirklichkeit kaufen wir gar nichts, weil wir kein Geld haben."
„Aha", sagte Owen. „Aber ich glaube, ich habe Geld." Er steckte die Hand in die Tasche, holte zwei Halfpennymünzen hervor und gab jedem Kind eine; sie gingen sofort in den Laden, um die Lutscher und den Überraschungsbeutel zu kaufen, und als sie wieder herauskamen, begleitete er sie, denn sie gingen in derselben Richtung wie er; ihr Weg führte ja an seinem Haus vorbei.
„Hat euer Großvater schon etwas zu tun?" fragte er, während sie nebeneinanderher schritten.
„Nein, er läuft immer noch rum, Onkel", antwortete Charley.
Als sie Owens Haustür erreichten, lud er sie ein, mit hinaufzukommen und das Kätzchen anzusehen, nach dem sie sich unterwegs erkundigt hatten. Frankie freute sich sehr über die beiden Besucher, und während sie einige selbstgebackene Kekse aßen, die Nora ihnen gegeben hatte, unterhielt er sie, indem er ihnen den Inhalt seiner Spielzeugkiste zeigte, und durch die Possen des Kätzchens, welches das beste Spielzeug von allen war, denn es erfand
immerzu neue Spiele: akrobatische Vorführungen auf den Stuhllehnen. Kletterpartien an den Vorhängen, Rutschbahn das Wachstuch hinauf und hinunter, Verstecken und Hervorlugen hinter Ecken und unter dem Sofa. Das Kätzchen vollführte so viele possierliche Luftsprünge, und nach einer Weile begannen die Kinder einen solchen Lärm zu machen, dass Nora sich einmischen musste, damit die Leute in der Wohnung unter ihnen nicht verärgert wurden.
Elsie und Charley konnten jedoch nicht sehr lange bleiben, sonst hätte sich ihre Mutter um sie geängstigt; aber sie versprachen, an einem anderen Tag einmal wiederzukommen und mit Frankie zu spielen.
„Nächsten Sonntag krieg ich in unsrer Sonntagsschule 'nen Preis", sagte Elsie, als sie fortgingen.
„Wofür bekommst du ihn denn?" fragte Nora.
„Weil ich meinen Text richtig gelernt hab. Ich musste das ganze erste Kapitel Matthäus auswendig lernen und hab nicht ein einziges Mal 'nen Fehler gemacht! Darum hat die Lehrerin gesagt, sie gibt mir nächsten Sonntag 'n schönes Buch."
„Ich hab neulich auch mal eins gekriegt, vor 'n paar Monaten, nicht Elsie?" sagte Charley.
„Ja", antwortete Elsie und setzte hinzu: „Geben sie euch in deiner Sonntagsschule auch Preise, Frankie?"
„Ich geh nicht zur Sonntagsschule."
„Biste denn noch nie gegangen?" fragte Charley erstaunt.
„Nein", erwiderte Frankie. „Vati sagt, ich hab die Woche über genug Schule."
„Du musst mit in unsre kommen, Mann!" drängte Charley. „Die ist überhaupt nicht wie Schule! Und im Sommer haben wir 'n Fest und Preise und manchmal Laterna magica. Das ist vielleicht prima, sag ich dir!"
Frankie sah seine Mutter fragend an.
„Kann ich hingehen, Mutti?"
„Ja, wenn du möchtest, Liebling."
„Aber ich weiß den Weg nicht."
„Oh, sie ist gar nicht weit von hier", rief Charley. „Wir müssen bei eurem Haus vorbei, wenn wir hingehen; wenn du willst, hol ich dich Sonntag ab."
„'s ist nur grad eben um die Ecke in der Duke Street wissen Sie, in der Kapelle ,Das strahlende Licht'", sagte Elsie. „Um drei Uhr fängt's an."
„Nun gut", sagte Nora. „Ich werde Frankie um drei Viertel drei fertigmachen. Aber jetzt müsst ihr nach Hause laufen, so schnell ihr könnt. Haben euch die Kekse geschmeckt?"
„Ja, recht schönen Dank", erwiderte Elsie.
„Na, und ob!" sagte Charley.
„Backt eure Mutter auch manchmal Kuchen für euch?"
„Früher, aber jetzt hat sie zuviel zu tun, Blusen nähen und so", antwortete Elsie.
„Ich nehme an, sie hat nicht viel Zeit zum Kochen", meinte Nora, „darum habe ich euch ein paar Kekse hier in dieses Päckchen getan, das nehmt für morgen mit nach Hause. Du wirst's doch wohl tragen können, Charley, nicht wahr?"
„Ich glaube, ich trag's lieber selber", sagte Elsie. „Charley passt so wenig auf, bestimmt wird er was draus verlieren."
„Ich pass nicht weniger auf als du!" rief Charley empört. „Und das Viertelpfund Butter, das du holen solltest und in den Dreck geschmissen hast?"
„Das war ja nicht, weil ich nicht aufgepasst hab, das war 'n Unfall, und 's war überhaupt keine Butter - 's war Margarine, siehste!"
Schließlich einigten sie sich darauf, das Päckchen abwechselnd zu tragen, und Elsie war zuerst an der Reihe. Frankie begleitete sie die Treppe hinab bis zur Haustür, und als sie die Straße hinuntergingen, rief er ihnen nach:
„Denkt bestimmt dran - nächsten Sonntag!"
„Ist gut", rief Charley zurück, „wird nicht vergessen!"
Am Donnerstag blieb Owen bis nach dem Frühstück zu Hause, um die Entwürfe fertig zu stellen, die er für diesen Morgen versprochen hatte.
Als er sie um neun Uhr ins Büro brachte, wie er es mit Rushton verabredet hatte, war der noch nicht eingetroffen, sondern er erschien erst eine halbe Stunde später. Wie die meisten Leute, die mit dem Gehirn arbeiten, brauchte er
bedeutend mehr Ruhe als die Menschen, die nur körperliche Arbeit verrichten.
„Oh, Sie haben wohl die Skizzen gebracht", bemerkte er mürrisch beim Eintreten. „Sie hätten nicht zu warten brauchen, wissen Sie: Sie hätten sie einfach hier lassen und zur Arbeit gehen können."
Er setzte sich an sein Pult und betrachtete flüchtig den Entwurf, den Owen ihm übergeben hatte. Er war auf einen etwa 60 x 45 cm großen Bogen gezeichnet. Es war eine Bleistiftskizze, zur Hälfte bunt ausgemalt.
„Das ist für die Decke", sagte Owen. „Ich hatte keine Zeit, das Ganze fertig auszumalen."
Mit gespielter Gleichgültigkeit legte Rushton die Zeichnung nieder und nahm die zweite, die Owen ihm reichte.
„Das ist für die große Wand. Die gleiche Zeichnung wird auf die anderen Wände übertragen, und die hier ist für die Türen und die Paneele unter dem Fenster."
Rushton äußerte keinerlei Meinung über den Wert der Entwürfe. Flüchtig betrachtete er einen nach dem andern, legte sie nieder und fragte dann:
„Wie lange würden Sie 'n für die Arbeit brauchen -vorausgesetzt, dass wir den Auftrag kriegen?"
„Ungefähr drei Wochen: sagen wir hundertfünfzig Stunden. Das heißt - allein die Dekorationsarbeit. Natürlich müssten die Wände und die Decke zuerst gestrichen werden; sie müssen dreimal geweißt werden."
Rushton kritzelte eine Notiz auf ein Stück Papier.
„Na gut", sagte er nach einer Pause, „Sie können sie hier lassen, und ich werde mit Mr. Sweater drüber reden und ihm sagen, was es kostet; wenn er sich dazu entschließt, lasse ich's Sie wissen."
Mit der Miene eines Mannes, der andere Dinge zu erledigen hat, legte er die Zeichnungen beiseite und begann, einen der auf seinem Pult liegenden Briefe zu öffnen. Damit wollte er andeuten, die Audienz sei beendet, und er wünsche, der Mann möge sich aus seiner Gegenwart entfernen. Owen verstand, entfernte sich jedoch nicht, da noch ein oder zwei Dinge zu erwähnen waren, die Rushton berücksichtigen musste, wenn er den Kostenanschlag ausarbeitete.
Natürlich würde ich einige Hilfe brauchen", sagte er. gelegentlich müsste mir einer der Leute zur Hand gehen, und der Junge die meiste Zeit über. Und dann wäre noch Blattgold nötig - sagen wir fünfzehn Hefte."
„Meinen Sie nicht, man könnte Goldfarbe nehmen?"
„Leider nicht."
„Noch was?" fragte Rushton, nachdem er diese Posten niedergeschrieben hatte.
„Ich glaube, das ist alles, bis auf ein paar Bogen festes Papier für Schablonen und Zeichenmuster. Viel Farbe für die Dekorationen werden wir nicht brauchen."
Sobald Owen gegangen war, nahm Rushton die Zeichnungen in die Hand und betrachtete sie aufmerksam.
„Die sind in Ordnung", murmelte er. „Jeder Anforderung gewachsen. Wenn er die Wände und die Decke nur annähernd so gut malen kann, wird's jedem Blick standhalten, den hier in der Stadt je einer draufwerfen wird!
Mal sehen", fuhr er fort. „Drei Wochen, hat er gesagt. Aber er ist auf die Arbeit so erpicht, dass er die Zeit wahrscheinlich unterschätzt hat; setzen wir lieber vier Wochen an: das sind etwa zweihundert Stunden; zweihundert Stunden zu acht Pence, wie viel macht das? Und sagen wir, er hat die halbe Zeit über noch 'nen Maler als Helfer, macht hundert Stunden zu sechseinhalb Pence."
Er sah in einer Tabelle nach, die auf dem Tisch lag.
„Arbeitszeit: neun Pfund sieben Schilling sechs Pence. Material: fünfzehn Hefte Blattgold, sagen wir 'n Pfund. Dazu kommen das Schablonenpapier und die Farben, sagen wir noch 'n Pfund, höchstens. Arbeitslohn für den Jungen? Der kriegt noch keinen, das brauche ich also nicht aufzuführen. Dazu kommen noch die Vorbereitungsarbeiten für das Zimmer. Dreimal weißen. Wenn nur Hunter da wäre, um mir 'ne Vorstellung zu geben, was das kostet."
Wie als Antwort auf diesen Wunsch trat Hunter eben ins Büro, und auf Rushtons Frage erklärte er, die Wände und Decke dreimal zu weißen koste etwa drei Pfund fünf Schilling an Arbeitszeit und Material. Gemeinsam rechneten die beiden Kopfarbeiter aus, dass fünfzehn Pfund die gesamten Kosten der Arbeit decken würden - das Streichen und die Dekorationsmalerei.
„Nun, ich denke, wir können Sweater fünfundvierzig Pfund dafür anrechnen", meinte Rushton. „Ist ja keine gewöhnliche Arbeit, wissen Sie. Wenn er sich 'ne Londoner Firma dazu holt, kostet's ihn doppelt soviel, wenn nicht mehr."
Nachdem Rushton zu dieser Entscheidung gekommen war, telefonierte er Sweaters Warenhaus an, und als er hörte, Mr. Sweater sei anwesend, rollte er die Zeichnungen zusammen und machte sich auf den Weg zum Büro dieses Herrn.
Die Arbeiter schaffen mit den Händen und die Herren mit dem Gehirn. Was für ein fürchterliches Unglück wäre es doch für die Welt und für die Menschheit, wenn alle diese Kopfarbeiter streikten!

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