16. Kapitel Wahre Freiheit
Gegen drei Uhr nachmittags erschien plötzlich Rushton; er begann schweigend durch das Haus zu gehen und an den Türen der Zimmer zu lauschen, in denen die Leute arbeiteten. Es gelang ihm nicht, irgend jemand beim Faulenzen, Rauchen oder Sprechen zu ertappen. Am nächsten kam einem „Fang", wie die Leute es nannten, dass er Philpot und Harlow ein Kirchenlied von Sankey singen hörte, als er vor der Tür des Zimmers stand, in dem sie arbeiteten: „Schaffet, denn es wird Nacht." Er hörte sich zwei Verse und mehrere Wiederholungen des Refrains an. Da er ein „Christ" war, konnte er dagegen schlecht etwas einwenden, besonders da er durch die halbgeöffnete Tür sah, dass sie ihren Worten gemäß handelten. Als er ins Zimmer trat, blickten sie sich um, um festzustellen, wer es war, und brachen ihren Gesang ab. Rushton sagte nichts, sondern stand in der Mitte des Zimmers und beobachtete sie schweigend etwa eine Viertelstunde lang bei der Arbeit. Dann, ohne eine Silbe geäußert zu haben, wandte er sich um und ging hinaus.
Sie hörten, wie er leise die Treppe hinunterstieg, und flüsternd meinte Harlow zu Philpot:
„Was hälste 'n von dem Kerl, dazustehen und auf uns aufzupassen, als wenn wir 'n paar lausige Sträflinge wären? Wenn ich nicht noch jemand hätte, an den ich außer
mir denken müsste, hätt ich dem verdammten Ochsen eins mit dieser Pfundbürste hier in die Fresse gehauen."
„Ja, dazu kriegt man Lust, Mann", erwiderte Philpot, aber machen dürfen wir's nicht."
„'n paar Mal", fuhr Harlow fort, der vor Wut schäumte, „war ich drauf und dran, mich umzudrehen und zu ihm zu sagen: ,Was, zum Teufel, soll 'n das heißen, dass Sie dastehen und auf mich aufpassen, Sie verdammtes, psalmengrölendes Schwein?' 's hat mich all meine Kraft gekostet, Jas für mich zu behalten, kann ich dir sagen."
Inzwischen ging Rushton noch immer im Hause umher und blieb gelegentlich stehen, um die anderen Leute in der gleichen Weise zu beobachten, wie er es mit Philpot und Harlow getan hatte.
Keiner der Arbeiter blickte von seiner Arbeit auf, und niemand sprach, weder zu Rushton noch zu einem der anderen. Die einzigen Laute, die man hörte, war das Sägen und Hämmern der Tischler, welche die Gesimsstreifen und Fußleisten anbrachten oder in einigen Zimmern Holzteile ausbesserten.
In der Hoffnung, angesprochen zu werden, machte sich Crass mehrmals auf Rushtons Weg zu schaffen, aber außer einem kurzen Nicken auf das servile „Guten Tag, Mr. Rushton" des Vorarbeiters nahm der Chef keine Notiz von ihm.
Nachdem Rushton etwa eine Stunde auf diese Weise verbracht hatte, entfernte er sich wieder; da ihn aber niemand gehen sah, bemerkten sie erst eine geraume Zeit später, dass er fort war.
Owen war insgeheim sehr enttäuscht. ,Ich dachte, er sei gekommen, um mir wegen des Salons Bescheid zu geben', sagte er sich, ,aber es ist wohl noch nicht entschieden.'
Als die Arbeiter gerade wieder frei zu atmen begannen, kam Elend und trug einige zusammengerollte Bogen Papier in der Hand. Auch er schlüpfte schweigend von Zimmer zu Zimmer, spähte um die Ecken und horchte an den Türen, in der Hoffnung, etwas zu sehen oder zu hören, was ihm einen Vorwand gäbe, an irgend jemand ein Exempel zu statuieren. Nachdem er hierin enttäuscht worden war, kroch er hinauf in das Zimmer, in dem Owen arbeitete, übergab ihm die Rolle Papier, die er getragen hatte und sagte:
„Mr. Sweater hat sich entschlossen, die Arbeit machen zu lassen. Sie können also damit anfangen, sobald Sie wollen."
Es lässt sich, ohne den Anschein der Übertreibung zu erwecken, unmöglich beschreiben, was Owen empfand, als er diese Mitteilung hörte. Einmal bedeutete es, dass die Arbeit in diesem Hause länger dauern werde als sonstferner bedeutete es, dass ihm die zusätzliche Arbeitszeit für die Zeichnungen bezahlt würde, ganz abgesehen davon, dass er eine Lohnerhöhung erhielte - denn sein Lohn betrug stets einen Penny die Stunde mehr, wenn er besondere Arbeiten ausführte, wie Marmorieren, Schriftmalen oder eine Aufgabe wie diese hier. Aber diese Überlegungen kamen ihm im Augenblick gar nicht, denn für ihn bedeutete die Sache viel mehr. Seit seiner ersten Unterhaltung darüber mit Rushton hatte er kaum an etwas anderes gedacht als an diese Arbeit.
In gewissem Sinne hatte er sie seitdem ständig ausgeführt. Er hatte darüber nachgedacht, sie geplant und wiederholt die Einzelheiten verändert. Immer wieder hatte er die Farben für die verschiedenen Teile ausgesucht, verworfen und von neuem ausgesucht. Ein heftiger Wunsch, die Arbeit auch auszuführen, war in ihm entstanden, doch er hatte sich kaum gestattet zu hoffen, sie werde überhaupt ausgeführt werden. Er errötete leicht, als er Hunter die Zeichnungen abnahm.
„Sie können morgen früh damit anfangen", fuhr dieser
Herr fort. „Ich werd Crass sagen, er soll jemand raufschicken, um das Zimmer hier fertig zu machen."
„Morgen kann ich noch nicht anfangen; zuerst müssen die Decke und die Wände gestrichen werden."
„Ja, ich weiß. Sie und Easton können das machen. Ein Anstrich morgen, einer am Freitag und einer am Sonnabend - das heißt, wenn Sie's nicht mit zwei Anstrichen schaffen. Selbst wenn alle drei nötig sind, können Sie am Montag mit Ihrer Dekoriererei anfangen."
„Am Montag kann ich damit noch nicht anfangen; zuerst muss ich Arbeitszeichnungen anfertigen."
„Arbeitszeichnungen!" rief Elend erstaunt. „Was 'n für Arbeitszeichnungen? Sie haben doch die hier, nicht?" Er zeigte auf die Papierrolle. „Ja, aber da die gleichen Ornamente sich wiederholen, muss ich mehrere durchlochte Zeichnungen in natürlicher Größe anfertigen, um sie auf die Wände zu übertragen", sagte Owen und begann, den Prozess ausführlich zu erklären.
Nimrod sah ihn argwöhnisch an. „Ist 'n all das wirklich nötig?" fragte er. „Können Sie's nicht einfach aus freier Hand auf die Wände kopieren?"
„Nein, das geht nicht. Das würde viel länger dauern."
Diese Ãœberlegung fand Anklang bei Elend.
„Na gut", seufzte er, „dann werden Sie's wohl so machen müssen, wie Sie gesagt haben, aber wenden Sie um Himmels willen nicht zuviel Zeit darauf, wir haben's nämlich sehr billig übernommen. Wir haben's überhaupt nur angenommen, damit Sie 'ne Arbeit haben, und nicht, weil wir erwarten, irgend'nen Profit draus zu machen."
„Und einige Schablonen muss ich mir machen; ich brauche also einige Bogen Schablonenpapier."
Als er von dieser zusätzlichen Ausgabe hörte, wurde Elends langes Gesicht noch um einige Zoll länger; nachdem er aber einige Augenblicke lang nachgedacht hatte, hellte sich seine Miene auf.
„Ich werd Ihnen was sagen!" rief er schlau blinzelnd, „unten im Laden sind 'ne Menge überzählige alte Tapetenrollen. Können Sie's nicht damit machen?"
„Ich fürchte, das geht nicht", erwiderte Owen zweifelnd, „aber ich werd sie mir ansehen, und wenn es möglich ist, benutze ich sie."
„Ja, tun Sie das", sagte Elend, erfreut bei dem Gedanken, etwas zu sparen. „Kommen Sie heute Abend auf dem Nachhauseweg im Laden vorbei, dann wer'n wir sehn, was wir finden. Wie lang, glauben Sie 'n, werden Sie brauchen, um die Zeichnungen und die Schablonen zu machen?"
„Nun, heute ist Donnerstag. Wenn Sie Easton bei den Vorbereitungsarbeiten einen anderen Helfer geben, kann ich wohl rechtzeitig damit fertig werden, um sie am Montagmorgen mitzubringen.
„Was soll "n das heißen, mitbringen?" fragte Nimrod. „Ich werde sie zu Hause machen müssen, wissen Sie." „Zu Hause machen? Warum können Sie's nicht hier
machen?"
„Nun, einmal steht hier kein Tisch."
„Oh, wir können Ihnen doch 'nen Tisch zurechtmachen. Sie können ja 'n paar Tapezierböcke und Bretter nehmen."
„Ich habe eine Menge Skizzen und anderes zu Hause, was ich nicht gut mitbringen könnte", sagte Owen.
Elend stritt lange darüber und bestand darauf, die Zeichnungen sollten entweder an der „Arbeitsstelle" oder in der Werkstatt unten auf dem Gerätehof angefertigt werden. Wie, so fragte er, sollte er denn wissen, wann Owen mit der Arbeit begann und wann er damit aufhörte, wenn er sie zu Hause machte?
„Ich werde nicht mehr Zeit anrechnen, als ich wirklich zur Arbeit brauche", antwortete Owen. „Ich kann sie auf gar keinen Fall hier oder in der Werkstatt machen. Ich weiß, unter solchen Bedingungen würde nichts Gescheites
daraus werden."
„Hm, dann werden Sie's wohl oder übel auf Ihre Weise machen müssen!" sagte Elend betrübt. „Harlow werd ich für den Voranstrich Easton als Helfer geben, damit Sie Ihre Schablonen und Sachen fertigmachen können. Aber machen Sie's um Himmels willen so schnell wie möglich. Wenn Sie's bis Freitag schaffen und am Sonnabend herkommen und Easton helfen, wär's besser. Und wenn Sie dann mit der Dekoriererei anfangen, geben Sie sich nicht zuviel Mühe damit, wissen Sie, weil wir den Auftrag beinah für umsonst übernehmen mussten, sonst hätt's Mr.
Sweater eben nicht machen lassen!"
Nun begann Nimrod im Hause umherzuschleichen und
jeden anzubrummen und anzuknurren.
„Los, ihr Kerle, reißt euch mal 'n bisschen zusammen!"
bellte er. „Ihr scheint zu glauben, hier war 'n Krankenhaus.
Wenn 'n paar von euch nicht 'n bisschen mehr Arbeit liefern, muss ich 'ne Änderung vornehmen! 's gibt genug Leute, die rumlaufen und nichts zu tun haben und froh
wären, wenn sie Arbeit kriegten!"
Er ging in die Spülkammer, wo Crass Farben mischte. „Hör'n Sie mal zu, Crass", sagte er. „Ich bin ganz und gar nicht zufrieden damit, wie sie mit der Arbeit hier vorankommen. Sie müssen den Leuten 'n bisschen mehr Dampf machen als bisher. 's wird nicht genug geschafft, nicht im entferntesten. Wir setzen schließlich noch Geld bei der Arbeit zu!"
Crass, dessen fettes Gesicht vor Angst ganz grün geworden war, murmelte etwas über „so schnell wie nur irgend möglich".
„Nun, sorgen Sie dafür, dass sie 'n bisschen mehr Tempo annehmen als bisher!" brüllte Elend, „sonst wird 'ne Änderung vorgenommen!"
Unter einer „Änderung" verstand Crass, er könne entlassen oder jemand anders Vorarbeiter werden, und dann wäre er natürlich zum gewöhnlichen Arbeiter degradiert und hätte keinerlei Aussicht mehr, länger behalten zu werden als die anderen. Er beschloss, sich bei Hunter lieb Kind zu machen und dessen Zorn zu beschwichtigen, indem er jemand anders opferte. Vorsichtig blickte er in die Küche hinein und den Flur entlang und sagte dann, die Stimme senkend:
„Sie machen sich alle ganz gut bis auf Newman. Ich hätt schon vorher mit Ihnen über ihn gesprochen, aber ich dachte, ich gebe ihm erst mal 'ne Chance. Ich hab schon 'n paar Mal selbst mit ihm drüber gesprochen, dass er nicht genug macht, aber 's scheint nichts zu nützen."
„Ich hab schon selber 'ne ganze Weile 'n Auge auf ihn", erwiderte Nimrod im gleichen Ton. „Man sollte meinen, die Arbeit würde auf 'ne Ausstellung geschickt, wie er damit rummurkst, das Zeugs mit Sandpapier abreibt und jeden kleinen Riss verschmiert! Ich versteh gar nicht, woher er das ganze Sandpapier kriegt!"
„Das bringt er selbst mit!" sagte Crass heiser. „Ich weiß bestimmt, dass er sich letzte Woche zwei Bogen zu 'nem halben Penny von seinem eigenen Geld gekauft hat!"
„So, hat er das?" knurrte Elend. „Ich werd 'm Sand-Papier geben! Ich werd 'ne Änderung vornehmen!"
Er ging in das Vestibül, wo er geraume Zeit brütend allein blieb. In der Haltung eines Mannes, der seinen Plan
gefasst hat, wandte er sich schließlich um und trat in das Zimmer, in dem Philpot und Harlow arbeiteten.
„Ihr kriegt beide sieben Pence die Stunde, was?" sagte er.
Beide bejahten.
„Ich hab noch nie unter Tarif gearbeitet", fügte Harlow hinzu.
„Ich auch nicht", bemerkte Philpot. „Nun, Sie können's natürlich halten, wie Sie wollen", fuhr Hunter fort, „aber wir haben uns entschlossen, ab nächste Woche nicht mehr als sechseinhalb zu zahlen. Die Unkosten sind heutzutage so knapp kalkuliert, dass wir's uns nicht mehr leisten können, sieben Pence zu zahlen. Bis morgen Abend können Sie zu den alten Bedingungen arbeiten; aber wenn Sie sechseinhalb nicht annehmen wollen, brauchen Sie Sonnabend morgen nicht zu kommen. Machen Sie's, wie Sie wollen. Nehmen Sie's an, oder lassen Sie's bleiben."
Harlow und Philpot waren beide viel zu erstaunt, um auf diese erfreuliche Mitteilung irgend etwas zu antworten, und mit der abschließenden Bemerkung: „Sie können's sich überlegen", verließ sie Hunter und ging hinaus, um allen übrigen vollbezahlten Arbeitern dasselbe Ultimatum zu stellen, die es ebenso entgegennahmen wie Philpot und Harlow. Crass und Owen waren die einzigen, deren Löhne nicht herabgesetzt wurden.
Der Leser wird sich erinnern, dass Newman einer von denen war, die bereits zum herabgesetzten Lohn arbeiteten. Elend fand ihn allein in einem der oberen Zimmer, dem er den letzten Anstrich gab. Er war mit seinen alten Mätzchen beschäftigt. Das Holz des Schrankes, an dem er gerade arbeitete, war ziemlich beschädigt, und er füllte die Risse mit Bleiweißkitt aus, bevor er sie überstrich. Er wusste recht gut, dass Hunter nicht wollte, dass andere als nur ganz große Löcher und Risse verschmiert wurden, aber irgendwie konnte er einfach die Arbeit nicht in dem Maße pfuschen, wie ihm befohlen wurde, und so pflegte er sie fast heimlich auszuführen - nicht gerade richtig, aber so gut er es nur irgend wagte. Er ging so weit, gelegentlich von seinem eigenen Geld einige Bogen Sandpapier zu kaufen, wie Crass Hunter mitgeteilt hatte. Nach-
dem dieser ins Zimmer getreten war, blieb er dort mit höhnischer Miene stehen und sah Newman etwa fünf Minuten lang zu, ehe er sprach. Unter diesen prüfenden Blicken wurde der Arbeiter nervös und ungeschickt.
Sie können Ihren Lohnzettel ausfüllen und um fünf Uhr Ihr Geld im Büro abholen kommen", sagte Nimrod schließlich. „Ab heute Abend brauchen wir Ihre wertvollen Dienste nicht mehr."
Newman erblasste.
„Warum? Woran hapert's denn?" fragte er. „Was hab ich denn gemacht?"
„Oh, 's ist nicht wegen dem, was Sie gemacht haben", antwortete Elend. „'s ist wegen dem, was Sie nicht gemacht haben. Daran hapert's! Sie haben nicht genug gemacht, das ist alles!" Und ohne sich auf weitere Unterhaltungen einzulassen, wandte er sich um und ging hinaus.
Newman stand in dem dämmrigen Zimmer, und ihm war, als sei sein Herz zu Blei geworden. Vor ihm tauchte das Bild seines Heims und seiner Familie auf. Er glaubte seine Lieben zu sehen, wie sie wohl eben in diesem Augenblick beschäftigt waren - seine Frau begann wahrscheinlich gerade, das Abendbrot vorzubereiten, und die Kinder stellten Tassen und Untertassen und alles übrige auf den Küchentisch - eine recht geräuschvolle Arbeit, die mit allerlei Scherzen und kindlichem Streit belebt wurde. Selbst das zweijährige Baby wollte unbedingt helfen, obgleich es immer alles an den verkehrten Platz stellte und allerlei komische Verwechslungen beging. Die letzte Zeit über waren sie alle so glücklich gewesen; sie wussten ja, dass er bis Weihnachten - wenn nicht noch länger - Arbeit hatte. Und nun geschah dies und schleuderte sie alle in den Abgrund des Elends zurück, dem sie erst vor so kurzer Zeit entronnen waren. Sie hatten noch Mietsschulden für mehrere Wochen und standen beim Bäcker und beim Kaufmann noch so tief in der Kreide, dass keine Hoffnung auf einen weiteren Kredit bestand.
„Mein Gott", sagte Newman, als ihm die ganze Aussichtslosigkeit, wieder Arbeit zu finden, bewusst wurde, und unwillkürlich klagte er laut: „Mein Gott! Wie kann ich's ihnen nur sagen? Was soll nur aus uns werden?"
Nachdem Hunter den Zweck seines Besuches erreicht hatte, ging er kurz darauf von dannen, und wahrscheinlich gratulierte er sich, sein Licht nicht unter den Scheffel gestellt, sondern es in einen Kerzenhalter gesteckt und allen Anwesenden heimgeleuchtet zu haben.
Sobald die Leute sicher waren, dass er fort war, begannen sie sich in kleinen Gruppen zu versammeln; doch kurz darauf fanden sich fast alle in der Küche ein und diskutierten über die Lohnkürzung. Sawkins und die übrigen „Fliegengewichtler" blieben bei ihrer Arbeit. Einige davon erhielten nur viereinhalb Pence - Sawkins' Lohn betrug fünf Pence -, daher war keiner unter ihnen von der Veränderung betroffen. Die anderen beiden neuen Arbeiter, die Gesellen, hatten sich den Leuten in der Küche angeschlossen, denn ihnen lag daran zu verbergen, dass sie sich bei ihrer Einstellung bereit erklärt hatten, den gekürzten Lohn anzunehmen. Auch Owen war dort; er hatte von Philpot die Nachricht gehört.
Es gab eine Menge aufgebrachtes Gerede. Zuerst sprachen einige davon, sofort „in den Sack zu hauen", andere aber waren vorsichtiger; denn sie wussten, wenn sie gingen, drängten sich Dutzende danach, ihren Platz einzunehmen. „Wisst ihr", sagte Slyme, der insgeheim mit dem Gedanken spielte, bald selbst ein Geschäft anzufangen; er wartete nur, bis er genügend Geld verdient hatte, „schließÂlich ist was dran an dem, was Hunter sagt, 's ist heutzutage ziemlich schwer, 'nen anständigen Preis für die Arbeit zu kriegen. 's ist wirklich alles sehr knapp berechnet." „Ja, das wissen wir ja", schrie Harlow. „Und wer, Kreuzdonnerwetter noch mal, berechnet's denn so knapp? Doch solche Lumpen wie Hunter und Rushton! Hätte die Firma den Preis bei der Arbeit hier nicht so knapp berechnet, dann hätte eben 'ne andere Firma sie für mehr Geld gekriegt! Damit, dass Rushton die Arbeit hier knapp berechnet hat, hat er sie doch nicht etwa geschaffen! Sie würde genauso gemacht werden, wenn er sich überhaupt nicht drum beworben hätte. Der einzige Unterschied ist, dass wir dann eben für irgend'nen anderen Meister arbeiten würden. „Ich glaub gar nicht, dass die verdammte Arbeit überhaupt knapp berechnet ist!" sagte Philpot. „Rushton ist gut Freund mit Sweater, und beide sind sie Mitglied des Stadtrats.
Das mag schon sein", erwiderte Slyme, „aber trotzdem glaub ich, Sweater hat neben Rushtons noch verschiedene andere Voranschläge bekommen; Freund oder nicht, und ihr könnt's ihm nicht verdenken: Geschäft ist schließlich Geschäft. Aber vielleicht hat Sweater Rushton den Vorzug gegeben - mag sein, dass er ihm die Preise der anderen genannt hat."
„Ja, und 'n schöner Haufen Preise war's, wenn die Wahrheit rauskommen würde!" sagte Bundy. „Soweit ich weiß, waren noch sechs andre Firmen hinter dem Auftrag hier her - Stosse & Knuffse, Täuscher & Hauübersor, Kniff & Schluderjahn, Packzu & Raff, Schmiersdrauf & Lasses, Schneller & Pfusch und weiß Gott wie viel andre noch."
In diesem Augenblick trat Newman in die Küche. Er sah so bleich und bestürzt aus, dass die anderen unwillkürlich ihr Gespräch unterbrachen.
„Nun, was denkste 'n du darüber?" fragte Harlow.
„Worüber?" antwortete Newman.
„Was, hat Hunter dir's denn nicht gesagt?" riefen mehrere Stimmen aus, deren Besitzer Newman argwöhnisch anblickten. Sie dachten: wenn Hunter nicht mit Newman gesprochen hatte, dann gewiss aus dem Grunde, dass er bereits unter Tarif arbeitete. Während der letzten Tage war ein derartiges Gerücht umgegangen. „Hat Elend dir's denn nicht gesagt? Ab nächste Woche zahlen sie nicht mehr als sechseinhalb."
„Zu mir hat er das nicht gesagt. Zu mir hat er bloß gesagt, ich soll mich davonscheren. Sagte, ich hab nicht genug für sie geschafft."
„Du lieber Himmel!" rief Crass aus und tat, als sei er starr vor Überraschung.
Newmans Bericht über das Geschehene wurde mit düsterem Schweigen aufgenommen. Diejenigen, die vor wenigen Minuten laut davon gesprochen hatten, die Arbeit hinzuwerfen, bekamen Furcht, ebenso behandelt zu werden wie Newman. Crass war einer von denen, die am lautesten Erstaunen und Empörung äußerten; er tat aber ein wenig zuviel des Guten, und es gelang ihm nur, den
geheimen Verdacht der anderen zu bestätigen, dass er an Hunters Verhalten nicht ganz unschuldig war.
Im Ergebnis ihrer Diskussion beschlossen sie, sich vorübergehend Elends Bedingungen zu beugen, bis sie eine Möglichkeit sahen, woanders Arbeit zu finden.
Da Owen zum Büro musste, um sich die von Hunter erwähnten Tapeten anzusehen, begleitete er Newman, der seinen Lohn abholen ging. Nimrod wartete schon auf sie und hielt das Geld in einem Umschlag bereit, den er Newman aushändigte; der nahm ihn, ohne etwas zu sagen, und ging davon.
Elend hatte in den alten Tapeten herumgewühlt und einen großen Haufen überzählige Rollen herausgesucht, die er jetzt Owen vorlegte; der sagte jedoch, nachdem er sie sich angesehen hatte, sie seien für den Zweck ungeeignet. Daher musste Elend nach einigem Hin und Her eine Bestellung für richtiges Schablonenpapier unterschreiben, und auf dem Heimweg besorgte Owen es sich in einem Papierwarenladen.
Als Elend am nächsten Morgen zur „Höhle" kam, war er in fürchterlicher Wut und machte einen heillosen Krach mit Crass. Er sagte, Mr. Rushton habe sich über den Mangel an Disziplin auf der Arbeitsstelle beschwert, und er befahl Crass, den Arbeitern mitzuteilen, in Zukunft sei das Singen während der Arbeitszeit streng verboten, und jeder Zuwiderhandelnde werde sofort entlassen.
Während der folgenden Tage besuchte Nimrod Owen mehrmals in seiner Wohnung, um zu sehen, wie er mit der Arbeit vorankam, und um ihm einzuprägen, wie notwendig es sei, sich nicht zuviel Mühe damit zu geben. |
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