18. Kapitel Der Untermieter
Seinem Übereinkommen mit Hunter gemäß begann Owen am Montag morgen die Arbeit im Salon. Harlow und Easton waren damit beschäftigt, einige der Decken zu weißen, und ungefähr um zehn Uhr gingen sie in die Spülkammer hinunter, um noch etwas Schlämmkreide nachzuholen. Dort befand sich, wie gewöhnlich, Crass und tat, als sei er sehr emsig damit beschäftigt, Farben zu mischen.
„Nu, was haltet ihr 'n davon?" sagte er, während er sie mit dem Gewünschten versah.
„Von was 'n?" fragte Easton.
„Nu, von unserm Spezialkünstler", erwiderte Crass höhnisch. „Glaubt ihr, der schafft's?"
„Kann ich nicht sagen", antwortete Easton vorsichtig.
„Wisst ihr, 's ist was andres, auf 'n Stück Papier zu zeichnen und das mit Farbe aus 'nem Pennytuschkasten anzumalen, als wenn man's auf 'ner Wand oder 'ner Decke macht", fuhr Crass fort, „etwa nicht?"
„Ja, das stimmt", sagte Harlow.
„Glaubt ihr, 's sind seine eignen Zeichnungen?" fragte Crass.
„Schwer zu sagen", bemerkte Easton verlegen.
Weder Harlow noch Easton teilten Crass' Gefühle in dieser Angelegenheit; sie konnten es sich jedoch nicht leisten, ihn zu beleidigen, indem sie für Owen eintraten.
„Unter uns gesagt, wenn ihr mich fragt", fügte Crass hinzu, „würde ich eher sagen, er hat sie alle aus irgend'nem Buch kopiert."
„Die Größe haben sie ungefähr, Mann", pflichtete ihm Harlow bei.
„Das wär vielleicht 'n Ding, wenn er alles versauen würde, was?" fuhr Crass mit boshaftem Blinzeln fort.
„Na, und ob!" sagte Harlow.
Als die beiden Männer wieder im oberen Stockwerk angelangt waren, wo sie arbeiteten, tauschten sie bedeutsame Blicke und lachten leise vor sich hin. Als Philpot, der allein in einem Zimmer nebenan arbeitete, diese halbunterdrückten Freudenbezeigungen hörte, steckte er seinen Kopf zur Tür heraus.
„Was ist 'n los?" fragte er mit leiser Stimme.
„Na, der olle Crass ist vielleicht wild, weil Owen das Zimmer da macht!" antwortete Harlow und berichtete kurz über Crass' Bemerkungen.
„Ist ja 'ne ganz schöne Demütigung für den Schuft, dass er die zweite Geige spielen muss, was?" sagte Philpot mit erfreutem Grinsen.
„Er hofft, Owen versaut's", flüsterte Easton.
„Na, da hat er sich aber geschnitten, Mann", antwortete Philpot. „Ich hab vor ungefähr zwei Jahren mit Owen zusammen bei Stosse & Knuffse gearbeitet und hab gesehen, wie er unten im Hotel Royal 'ne Sache gemacht hat - die Decke vom Rauchsalon war's -, und ich kann euch sagen: verdammt noch mal, prima hat's ausgesehen!"
„Ich hab davon gehört", sagte Harlow.
„Kein Zweifel, was die Arbeit anbelangt, hat Owen was auf 'm Kasten", bemerkte Easton, „wenn auch wegen dem Sozialismus 'ne Schraube bei ihm locker ist."
„Ich weiß nicht mal, Mann", sagte Philpot. „Mit vielem
von dem, was er sagt, bin ich einverstanden. Hab schon oft dasselbe gedacht, aber ich kann nicht so reden wie er, hab keinen Kopf nicht dafür."
„Mit einigem bin ich auch einverstanden", sagte Harlow und lachte, „aber trotzdem redet er 'nen Haufen Stuss, das musste zugeben. Der Quatsch zum Beispiel, Geld wär die Ursache der Armut!"
„Ja, das kann ich auch nicht ganz einsehen", stimmte Philpot zu.
„Deswegen müssen wir 'n in der Mittagspause noch mal ankriegen", sagte Harlow. „Würde ganz gerne hören, wie er das erklärt."
„Um Himmels willen, fang nicht in der Mittagspause irgendwelche Diskussionen an", sagte Easton. „Lass 'n in Ruh, wenn er schon mal die Klappe hält."
„Ja, wir wolln, wenn's geht, unser Mittagessen in Frieden futtern", sagte Philpot. „Pst!!" zischte er plötzlich und hob warnend die Hand.
Sie lauschten angestrengt. Das Knarren der Stufen verriet, dass jemand heraufschlich. Philpot verschwand sofort. Harlow hob den Schlämmkreideeimer auf und setzte ihn geräuschvoll wieder nieder.
„Wir wollen die Leitern und die Bretter lieber auf der Seite hier aufstellen, Easton", sagte er laut.
„Ja, das ist woll das beste", antwortete Easton.
Während sie ihr Gerüst aufstellten, um die Decke zu streichen, erschien Crass auf dem Treppenabsatz. Zuerst machte er weiter keine Bemerkung, sondern ging in die Zimmer, um nachzusehen, wie viele Decken sie geweißt hatten.
„Dreht mal lieber 'n bisschen Dampf auf, ihr beiden", sagte er, als er wieder hinunterging. „Wenn wir mit den Decken hier nicht bis Mittag fertig sind, wird Nimrod bestimmt schön toben."
„Schon gut", sagte Harlow brummend. „Wir werden den Dreck schon bald drüberschmieren."
„Schmieren" war ein sehr treffendes Wort, um die Art, in der die Arbeit ausgeführt wurde, zu beschreiben. Die Karniese der Treppenhausdecken waren mit Stuckornamenten verziert. Diese Decken waren angeblich abgewaschen worden; da aber die Leute, die mit dieser Arbeit beauftragt waren, nicht genügend Zeit gehabt hatten, sie richtig auszuführen, steckten die Höhlungen der Ornamente noch immer voller alter Schlämmkreide und waren, nachdem Harlow und Easton nun recht viel Schlämmkreide darüber„geschmiert" hatten, zu bloßen formlosen, unansehnlichen Gipsklumpen geworden. Den Arbeitern, welche die Decken gewaschen hatten, war kein Vorwurf zu machen. Man hatte sie von der Arbeit fortgejagt, noch ehe diese halb getan war.
Während Harlow und Easton die Decken weißten, fuhren Philpot und die anderen mit dem Anstreichen in verschiedenen Teilen des Hauses fort, und Owen führte, unterstützt von Bert, die Arbeit im Salon weiter, zog Kreidestriche, nahm Maß und teilte die Felder ein.
Ein „politisches" Streitgespräch gab es an diesem Tage während der Essenszeit nicht, zur Enttäuschung von Crass, der noch immer auf eine Gelegenheit wartete, den Ausschnitt aus dem „Verdunkler" hervorzuholen. Als alle anderen nach dem Mittagessen wieder an ihre Arbeit gegangen waren, kehrte Philpot unauffällig in die Küche zurück und hob die beiseite geworfenen Papierhüllen auf, in denen einzelne Leute ihr Essen gebracht hatten. Eine davon breitete er aus und schüttelte die Krümel aus den übrigen darauf. So und indem er Brotstückchen vom Boden auflas, brachte er einen kleinen Haufen Krumen und Rinden zusammen. Dem fügte er noch einige Stückchen hinzu, die er von seiner eigenen Mahlzeit übriggelassen hatte. Dann nahm er das Päckchen nach oben, öffnete eines der Fenster und warf die Krumen auf das Vordach. Kaum hatte er das Fenster geschlossen, als zwei Stare herbeiflatterten und zu fressen begannen. Hinter dem Fensterladen sah Philpot ihnen verstohlen zu.
Der Nachmittag ging ereignislos vorüber. Die Zeit von ein bis fünf Uhr kam den meisten der Leute sehr lang vor; für Owen und seinen Gehilfen aber, die etwas taten, woran sie Interesse und Freude finden konnten, gingen die Stunden so schnell vorüber, dass beide bedauerten, als es Abend wurde.
„An andren Tagen", meinte Bert, „wünsch ich mir
immerzu, 's war Zeit, nach Haus zu gehn, aber heut ist der Tag wie der Blitz vergangen!"
An diesem Abend blieben auf dem Heimweg alle beieinander, bis sie in den unteren Teil der Stadt gelangten; dann trennten sie sich. Owen ging allein weiter; Easton, Philpot, Crass und Bundy begaben sich in die „Cricketers Arms", um noch zusammen ein Gläschen zu trinken, bevor sie heimgingen, und Slyme, der Abstinenzler war, ging allein nach Haus, obgleich er jetzt bei Easton in Untermiete wohnte.
„Wart nicht auf mich", sagte Easton, als Slyme mit Crass und den übrigen davonging. „Wahrscheinlich hol ich dich noch ein, eh du da bist."
„Ist gut", antwortete Slyme.
Heute ging Slyme nicht auf dem kürzesten Weg nach Hause. Er bog in die Hauptstraße ein, blieb vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäfts stehen und betrachtete aufmerksam die darin ausgestellten Sachen. Nach einigen Minuten schien er zu einer Entscheidung gekommen zu sein trat in den Laden und kaufte eine Säuglingsklapper für viereinhalb Pence. Es war ein hübsches Spielzeug aus weißem Bein und bunter Wolle, mit einigen Glöckchen daran und einem weißen, beinernen Ring am Ende des Griffs.
Als Slyme aus dem Laden trat, machte er sich auf den Heimweg und schritt nun schnell aus. Als er in das Haus trat, saß Ruth mit dem Säugling auf dem Schoß neben dem Feuer. Sie sah mit einem Ausdruck der Enttäuschung auf, als sie bemerkte, dass er allein war.
„Wo ist 'n Will wieder hingekommen?" fragte sie.
Ist mit einigen von den Jungens noch einen trinken gegangen. Sagte, er würde nicht lange bleiben", antwortete Slyme, während er seinen Frühstückskorb auf die Anrichte stellte und dann nach oben in sein Zimmer ging, um sich zu waschen und umzuziehn.
Als er wieder herunterkam, war Easton noch nicht da.
„Alles ist fertig, bloß der Tee ist noch zu machen", sagte Ruth, die das Ausbleiben Eastons offensichtlich verdross, „da können Sie Ihres auch ebenso gut jetzt gleich essen.
„Hab's nicht eilig. Ich wart noch ein bisschen, ob er kommt. Er muss ja bald da sein."
„Wenn's Ihnen bestimmt nichts ausmacht, ist's mir lieb. wenn Sie warten wollen", sagte Ruth, „dann brauch ich nicht zweimal Tee zu machen."
Sie warteten wohl eine halbe Stunde und sprachen hin und wieder auf eine gezwungene, verlegene Weise über gleichgültige Dinge. Da Easton nicht kam, entschied Ruth nun, nicht mehr länger zu warten und Slyme seinen Tee vorzusetzen. Mit dieser Absicht legte sie das Baby in die Wiege; dem Kind gefiel das jedoch nicht, und es begann zu schreien; sie musste es daher auf dem linken Arm halten, während sie den Tee bereitete.
Angesichts dieser schwierigen Lage streckte Slyme die Hände aus und rief:
„Hier, ich kann ihn doch halten, während Sie das da machen."
„Wollen Sie?" sagte Ruth, die trotz ihrer instinktiven Abneigung gegen den Mann unwillkürlich für seine Aufmerksamkeit Dankbarkeit empfand. „Aber passen Sie auf dass Sie 'n nicht fallen lassen."
In dem gleichen Augenblick jedoch, in dem Slyme das Kind nahm, begann es noch lauter zu schreien, als da es in die Wiege gelegt wurde.
„Mit Fremden ist er immer so", entschuldigte sich Ruth, während sie das Kind zurücknahm.
„Warten Sie mal 'nen Augenblick", sagte Slyme. „Ich hab was oben in meiner Tasche, das ihn ruhighalten wird. Ich hatte es ganz vergessen,"
Er ging in sein Zimmer hinauf und kehrte sogleich mit der Klapper zurück. Als der Säugling die bunten Farben sah und die Glöckchen klingeln hörte, schrie er vor Vergnügen, streckte eifrig die Händchen danach aus und erlaubte Slyme ohne einen Laut des Protestes, ihn zu nehmen. Ehe noch Ruth den Tee fertiggekocht und serviert hatte, waren der Mann und das Kind bereits gut Freund miteinander, ja, so sehr, dass das Baby, als Ruth fertig war und es wieder nehmen wollte, sich nicht gern von Slyme zu trennen schien, der es in der Luft hatte tanzen lassen und es auf höchst ergötzliche Weise gekitzelt hatte.
Ruth begann gleichfalls eine bessere Meinung über Slyme anzunehmen und machte sich schon Vorwürfe, zuerst eine
so unvernünftige Abneigung gegen ihn gefasst zu habe Offensichtlich war er doch ein sehr guter Kerl.
Inzwischen hatte das Kind den Zweck des beinerne Ringes am Ende des Spielzeuggriffes entdeckt und biss energisch darauf herum.
„Das ist 'ne sehr schöne Klapper", sagte Ruth. „Ich danke Ihnen auch vielmals dafür. Genau, was er braucht."
„Ich hab neulich gehört, wie Sie sagten, er braucht so was, um draufzubeißen, damit die Zähne besser durchkommen", antwortete Slyme, „und als ich dies hier zufällig im Laden sah, fiel mir ein, was Sie gesagt hatten, und ich dachte, ich bring's mit nach Haus."
Der Säugling nahm den Ring aus dem Mund, schüttelte die Klapper heftig in der Luft, lachte, schrie vor Freude und sah Slyme an.
„Pap! Pap! Pap!" rief er und streckte die Ärmchen aus.
Slyme und Ruth brachen in Lachen aus.
„Das ist doch nicht dein Papa, du Dummerchen", sagte sie und küsste das Kind, während sie sprach. „Dein Papa sollte sich schämen, einfach so fortzubleiben. Wir werden ihm Pap, Pap, Pap geben, wenn er endlich heimkommt, nicht wahr?"
Aber das Baby schüttelte nur die Klapper und ließ die Glöckchen klingeln; es lachte, schrie und lachte wieder, noch lauter als zuvor. |
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