Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
http://nemesis.marxists.org

24. Kapitel Ruth

Wie bereits erwähnt, hatte Slyme bisher die meisten Abende zu Hause verbracht; während der nächsten drei Wochen aber änderten sich hierin seine Gewohnheiten. Nun ging er fast jeden Abend aus und kehrte erst nach zehn Uhr heim. An den Abenden, an denen er Versammlungen besuchte, wechselte er stets den Anzug und kleidete sich wie sonntags; sonst aber verließ er das Haus in seiner Alltagskleidung. Ruth fragte sich oft, wohin er wohl an diesen Abenden ging; von selbst aber gab er niemals Auskunft darüber, und Fragen stellte sie nicht.
Easton hatte sich mit einer ganzen Menge der regelmäßigen Kunden in den „Cricketers" angefreundet, wo er jetzt den größten Teil seiner Freizeit verbrachte, Bier trank, sein Garn spann und Beilke oder „Haken und
Ringe" spielte. Hatte er kein Bargeld, so gab ihm der „olle Knabe" bis Sonnabend Kredit. Zuerst hatte der Ort nicht viel Anziehendes für ihn gehabt, und er ging eigentlich nur hin, um sich mit Crass gutzustellen; nach einiger Zeit aber fand er, es sei eigentlich recht gemütlich, seine Abende so zu verbringen.
Eines Abends sah Ruth, wie Slyme sich mit Crass traf, als hätten sie sich miteinander verabredet, und während die beiden Männer zusammen fortgingen, machte sie sich wieder an ihre Hausarbeit und fragte sich, was das wohl bedeuten mochte.
Inzwischen setzten Crass und Slyme ihren Weg in die Stadt fort. Es war ungefähr halb sieben Uhr; Läden und Straßen waren hell erleuchtet, und während sie dort vorbeigingen, sahen sie zahlreiche Gruppen von Männern, die niedergeschlagen miteinander sprachen. Die meisten waren arbeitslose Handwerker und Hilfsarbeiter und hatten offensichtlich keine große Eile heimzukommen. Einige von ihnen fänden dort weder Tee noch ein Feuer vor, und sie blieben so lange wie möglich von zu Hause fort, um nicht gezwungen zu sein, das Elend derer anzusehen, die daheim auf sie warteten. Andere drückten sich herum, und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit hofften sie, obgleich es so spät war, doch noch von irgendeiner Arbeit zu hören, die hier oder dort begonnen werden sollte.
Während Crass und Slyme an einer dieser Gruppen vorbeigingen, erkannten sie Newman sowie den alten Jack Linden und nickten ihnen zu; Newman verließ die anderen und kam auf die beiden zu. Sie blieben nicht stehen, deshalb ging er neben ihnen her.
„Was Neues reingekommen, Bob?" fragte er. „Nö, wir haben kaum was", antwortete Crass. „Ich denke, nächste Woche wer'n wir in der ,Höhle' fertig, dann wer'n wir woll alle feiern müssen. Wir haben 'n paar Installateure an der Arbeit, und ich glaube, 's sind 'n paar Gasrohre zu verlegen, aber in unsrer Branche ist fast nichts los."
„Du weißt wohl auch nichts von irgend'ner anderen
Firma, die was hat?"
„Nein, weiß ich nicht, Mann. Unter uns gesagt, ich glaube,
keine hat was; sie stecken so ziemlich alle in der gleichen Bredullje."
„Ich hab nichts bekommen, seit ich weg bin, weißte", sagte Newman, „und zu Haus sind wir so ziemlich am Ende."
Slyme und Crass gaben keine Antwort. Sie wünschten, Newman möge sich entfernen, weil er nicht wissen sollte, wohin sie gingen.
Newman aber begleitete sie weiter, und ein verlegenes Schweigen folgte. Er schien noch etwas sagen zu wollen, und beide errieten, was es war. Daher gingen sie so schnell wie möglich, um ihn nicht zu ermutigen. Endlich platzte Newman heraus:
„Ich nehme an - ihr habt wohl nicht zufällig - einer von euch beiden - 'nen Sechser, den ihr mir borgen könnt? Ich geb 'n euch zurück - wenn ich Arbeit hab."
„Hab ich nicht, Mann", antwortete Crass. „Tut mir leid; wenn ich einen hätte, würdste 'n kriegen, mit Vergnügen!"
Slyme drückte ebenfalls sein Bedauern aus, kein Geld bei sich zu haben, und an der nächsten Straßenecke wünschte ihnen Newman, beschämt, dass er sie gefragt hatte, „gute Nacht" und ging davon.
Slyme und Crass eilten weiter und gelangten bald darauf zum Laden der Firma Rushton & Co. Die Fenster waren mit elektrischem Licht beleuchtet, und eine Auswahl von Tapetenmustern, Gas- und elektrischen Lampen, gläsernen Lampenschirmen sowie Büchsen mit Lacken, Farben und Firnis war darin ausgestellt, dazu einige eingerahmte Auslageschilder mit der Aufschrift „Kostenanschläge unentgeltlich", „Nur erstklassige Arbeit zu niedrigen Preisen", „Wir beschäftigen nur erstklassige Arbeiter" und mehrere andere gleicher Art. An einer der Seitenwände des Schaufensters hing ein großes wappenförmiges und mit schwarzem Samt bezogenes Brett, auf dem eine Anzahl Sargbeschläge aus Messing angebracht waren. Das Schild stand auf einem eichenen Fuß, der die Inschrift trug „Beerdigungen, moderne Ausführung".
Slyme wartete draußen, während Crass hineinging. Mr. Budd, der Verkäufer, stand hinten am anderen Ende des Ladens in der Nähe der gläsernen Trennwand, die Mr. Rushtons Büro vom Verkaufsraum abteilte. Als Crass eintrat, blickte sich Budd um - ein blasser, ungesund aussehender, klein gewachsener junger Mensch von etwa zwanzig Jahren - und machte Crass mit einer Grimasse ein Zeichen, leise aufzutreten. Der blieb stehen und fragte sich, was der andere wohl meinte; der Verkäufer aber winkte ihm, näher zu kommen, und dabei grinste er, blinzelte und stieß den Daumen über die Schulter in Richtung des Büros. Crass zögerte, da er fürchtete, der arme Budd sei vielleicht verrückt geworden - oder verrückt gemacht worden; da dieser aber fortfuhr, zu winken und zu grinsen und auf das Büro zu deuten, nahm Crass seinen Mut zusammen und folgte ihm hinter einen der Auslagekästen, und als er sein Auge an einen Ritz in der Holzwand hielt, den ihm Budd gezeigt hatte, konnte er Mr. Rushton sehen, der gerade damit beschäftigt war, Miss Wade, die junge Sekretärin, zu küssen und zu umarmen. Crass beobachtete sie eine Zeitlang und flüsterte dann Budd zu, er solle Slyme rufen, und als dieser herbeigekommen war, spähten sie abwechselnd alle drei durch die Ritze in der Trennwand. Als sie sich satt gesehen hatten, kamen sie hinter dem Auslagekasten hervor und platzten beinahe vor unterdrückter Fröhlichkeit. Budd nahm einen Schlüssel von einem Haken an der Wand und gab ihn Crass; dann setzten der und sein Begleiter ihren unterbrochenen Weg fort. Kaum aber hatten sie sich ein Dutzend Meter vom Laden entfernt, als sie von einem kleinen, ältlichen Mann mit grauem Haar und einem Bart angesprochen wurden. Dieser Mensch schien, seinem Aussehen nach, etwa fünfundsechzig Jahre alt zu sein und war sehr schäbig gekleidet. Die Ränder seiner Mantelärmel waren ausgefranst und zerschlissen, die Ellbogen abgetragen und fadenscheinig. Seine Stiefel waren geflickt, zerrissen und an den Hacken schiefgetreten, und die Knie und die Hosenränder waren im gleichen Zustand wie seine Mantelärmel. Der Mann hieß Latham; er war der Jalousienmacher und -flicker. Angeblich hatte er mit seinem Sohn ein „eigenes Geschäft"; da sie jedoch den größten Teil ihrer Arbeit für das „Gewerbe" ausführten, das heißt, für solche Firmen wie Rushton & Co., wäre es richtiger, sie als Leute zu bezeichnen, die Stückarbeit bei sich zu Hause verrichteten.
Er hatte seit etwa vierzig Jahren „sein Geschäft betrieben", wie er es nannte, und hatte gearbeitet, gearbeitet und immer wieder gearbeitet, und seit sein Sohn ins arbeitsfähige Alter gekommen war, hatte der seinem Vater bei der menschenfreundlichen Aufgabe geholfen, für die Ausbeuter, die sie anstellten, Profite zu schaffen. Da sie so emsig damit beschäftigt gewesen waren, der Arbeit nachzujagen und für den Vorteil anderer zu schuften, war ihnen entgangen, dass sie kaum ihren Lebensunterhalt verdienten, und jetzt, nach vierzig Jahren, ging der alte Mann in Lumpen gekleidet und stand am Rande des Elends. „Ist Rushton da?" fragte er.
„Ja, ich glaube", antwortete Crass und machte Anstalten, weiterzugehen; doch der alte Mann hielt ihn zurück.
„Er hat versprochen, uns wegen der Jalousien für ,Die Höhle' Bescheid zu sagen. Wir haben ihm vor ungefähr einem Monat 'nen Kostenanschlag gemacht. Wir haben ihm sogar zwei Preise genannt, weil er sagte, der erste wär zu hoch. Fünf Schilling und sechs Pence das Stück hatte ich verlangt! Durchweg im ganzen Haus. Allesamt - die großen wie die kleinen! Zwei Anstriche, neue Bänder und Schnüre. Das war doch nicht zuviel, was?"
„Nein", sagte Crass und ging weiter; „das war ziemlich billig!"
„Er sagte, 's wär zuviel", fuhr Latham fort. „Sagte, er könnt sie billiger gemacht kriegen! Aber ich sag, niemand kann sie billiger machen und davon leben."
Während er zwischen Crass und Slyme daherging und sprach, packte den alten Mann Erregung.
„Aber wir haben kaum was zu tun gehabt, darum hat mein Sohn ihm gesagt, wir werden sie für sechs Schilling das Stück machen, und er hat gesagt, er würde uns Bescheid geben; bisher haben wir aber noch nichts von ihm gehört; da hab ich gedacht, ich werd's mal versuchen, ob ich ihn heut Abend sprechen kann."
„Nun, Sie finden ihn jetzt da drin", sagte Slyme; sein Gesicht zeigte einen seltsamen Ausdruck, und er schritt schneller aus. „Gute Nacht."
„Für weniger nehm ich sie nicht!" rief der alte Mann, als er sich umwandte. „Schließlich muss ich ja davon leben,
und mein Sohn muss seine Frau und seine Kleinen ernähren. Wir können doch nicht umsonst arbeiten!"
„Natürlich nicht!" sagte Crass, froh, endlich davonzukommen. „Gute Nacht, und viel Glück!"
Sobald sie außer Hörweite waren, brachen beide über die Hitzigkeit des alten Mannes in Gelächter aus.
„Der scheint ja deswegen ordentlich aufgebracht zu sein", sagte Slyme, und wieder lachten sie.
Jetzt verließen sie die Hauptstraße und setzten ihren Weg durch eine Anzahl schlecht beleuchteter, schäbig aussehender Straßen fort, und nachdem sie schließlich in eine Art Gang eingebogen waren, hatten sie ihren Bestimmungsort erreicht. Auf der einen Seite der Straße stand eine Reihe kleiner Häuser; gegenüber befanden sich mehrere Gebäude unterschiedlicher Art - Schuppen und Ställe, dahinter ein unbebautes Grundstück, auf dem eine Anzahl leerer Wagen und Karren zu sehen war, die mit auf dem Boden ruhenden oder in die Luft erhobenen Deichseln gespenstisch in die Dämmerung ragten. Nachdem Crass und Slyme sich vorsichtig zwischen den Fahrzeugen hindurchgewunden und dabei soweit wie möglich dem Schlamm, den Pfützen und dem Abfall ausgewichen waren, die den Boden bedeckten, gelangten sie zu einem hohen, mit einem Vorhängeschloß versehenen Tor. Crass benutzte den Schlüssel und stieß das Tor auf; nun befanden sie sich in einem großen Hof voller Baumaterialien und -ausrüstungsteile - Leitern, riesige Gerüste, Holzplanken und Balken, zweirädrige Laufkarren, Schubkarren, Sand- und Mörtelhaufen sowie zahllose andere Dinge, welche im Halbdunkel seltsame und phantastische Formen angenommen hatten - Packverschalungen, Kisten, Stücke von eisernen Abflussrohren und Dachrinnen, alte Türrahmen und andere Holzteile, die aus Gebäuden entfernt worden waren, an denen Änderungen vorgenommen wurden. Und über all diesen Dingen erhob sich eine düstere, unbestimmte, formlose Masse - die Gebäude und Schuppen, in denen die Werkstätten der Firma Rushton & Co. untergebracht waren.
Crass zündete ein Streichholz an; Slyme bückte sich und zog einen Schlüssel aus einem Mauerspalt neben einer der Türen; er schloss sie auf, und sie traten ein. Crass zündete ein zweites Streichholz an und danach einen an der Wand befestigten beweglichen Gasleuchter. Hier war die Malerwerkstatt. An einem Ende befand sich ein Kamin ohne Feuerrost mit einer quer durch den geschwärzten Schornstein gezogenen Eisenstange zum Aufhängen von Eimern oder Töpfen über dem Feuer, das gewöhnlich auf dem Herdstein mit Holz unterhalten wurde. Rings um die Wände der Werkstatt - die einstmals weiß getüncht gewesen, jetzt aber mit Farbflecken aller Schattierungen bedeckt waren, wo die Leute ihre Pinsel „ausgestrichen" hatten - standen Reihen von Regalen mit Farbfässern darauf. Vor dem Fenster befand sich eine lange Bank mit einer unordentlichen Sammlung schmutziger Farbtöpfe, darunter mehrere tönerne Mischgefäße oder Mörser, deren Wände dick mit getrockneter Farbe verkrustet waren. Überall auf dem Steinfußboden standen schmutzige Eimer umher, leer oder mit abgestandener Schlämmkreide gefüllt, und auf einer Art niedriger Plattform oder einem Fach an einem Ende der Werkstatt waren vier große, runde, mit Hähnen versehene Tanks untergebracht, die mit der Aufschrift „Gekochtes Öl", „Terpentin", „Leinöl" und „Terpentinersatz" versehen waren. Den unteren Teil der Wände hatte die Feuchtigkeit entfärbt. Die Luft war kalt, klamm und von den üblen Gerüchen der giftigen Materialien verdorben.
Das war der Ort, an dem Bert, der Lehrling, den größten Teil seiner Stunden verbrachte und in der stillen Zeit, wenn es draußen keine Arbeit gab, Töpfe und Eimer säuberte.
In der Mitte der Werkstatt stand unter einer zweiarmigen Gashängelampe noch ein Tisch oder eine Werkbank, die gleichfalls dick mit einer Schicht alter, getrockneter Farbe bedeckt war, und daneben befanden sich zwei große Ständer, an denen einige der zur „Höhle" gehörenden Jalousielatten, die Crass und Slyme in ihrer Freizeit im Stücklohn strichen, zum Trocknen hingen. Die übrigen Latten standen gegen die Wand gelehnt oder lagen aufgestapelt auf dem Tisch. Crass zitterte vor Kälte, während er die beiden Gasarme anzündete. „Mach mal 'n bisschen Feuer, Alf, sagte er, „während ich die Farbe anrühre."
Slyme ging nach draußen, und kurz darauf kam er wieder herein, die Arme mit altem Holz beladen, das er zerhackte und in den Kamin warf; dann nahm er einen leeren Farbtopf, füllte ihn mit Terpentin aus dem großen Tank und goss es über das Holz. Unter den Töpfen auf der Werkbank fand er einen, der mit alter Farbe gefüllt war; diesen leerte er gleichfalls über das Holz, und in wenigen Minuten hatte er ein loderndes Feuer entfacht.
Inzwischen hatte Crass Farbe und Pinsel bereitgemacht und die Jalousielatten aus dem Trockenrahmen genommen. Nun begaben sich die beiden Männer daran, die Jalousien zu streichen; sie arbeiteten schnell und hängten jede Latte, nachdem sie gestrichen war, an den Drähten des Trockenrahmens auf. Während sie arbeiteten, unterhielten sie sich ungeniert, denn sie fürchteten ja nicht, von Rushton oder Nimrod gehört zu werden. Diese Arbeit wurde in Stücklohn bezahlt; daher machte es nichts aus, ob sie miteinander sprachen oder nicht. Sie amüsierten sich köstlich über die Aufgebrachtheit des alten Latham und fragten sich, was er wohl sagen würde, wenn er sie jetzt sähe. Dann ging das Gespräch zu den persönlichen Merkmalen der übrigen bei Rushton Sc Co. beschäftigten Leute über, und ein unvoreingenommener Zuhörer - wäre ein solcher dort gewesen - hätte zu dem gleichen Schluss kommen müssen wie Crass und Slyme, nämlich, dass sie selbst die beiden einzigen anständigen Kerle bei der Firma seien. Mit jedem anderen war irgend etwas nicht in Ordnung, oder es war etwas verdächtig. Dieser Barrington zum Beispiel -'ne komische Sache, weißte, wenn 'n Kerl wie er als Ungelernter arbeitet - sieht sehr verdächtig aus. Niemand wusste richtig, wer er war oder wo er herkam, aber jeder konnte gleich sehen, dass er was Besonderes gewesen war. Ganz offensichtlich war er nicht dazu erzogen worden, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Am wahrscheinlichsten war die Erklärung, dass er „irgend'n Verbrechen" begangen hatte und von seiner Familie verstoßen worden war - Geld geklaut, 'nen Scheck gefälscht oder was Ähnliches. Und dann dieser Sawkins. War überhaupt
nichts wert. Es war ja bekannt, dass er fast jeden Abend zu Elends Haus hinüberging und ihm jede Kleinigkeit zutrug, die am Tag bei der Arbeit vorgekommen war. Und was Payne, den Vorarbeiter der Tischler, betraf, der Mann war 'n kompletter Idiot; er würde den Unterschied schon merken, wenn er je bei Rushton & Co. fliegen und bei 'ner anderen Firma arbeiten würde! Er verstand nichts von seinem Handwerk und konnte um nichts in der Welt 'nen anständigen Sarg machen! Und dann diese Pflaume, der Owen; der war dir vielleicht 'n Prachtexemplar! 'n Atheist! Glaubte weder an Gott noch an 'n Teufel, noch an sonst was. Wenn's nach diesen Sozialisten ginge, wären die Dinge in 'nem schönen Zustand; so wär's zum Beispiel niemand mehr erlaubt, Überstunden zu machen!
Auf diese Weise arbeiteten und redeten Crass und Slyme bis zehn Uhr; dann löschten sie das Feuer, indem sie Wasser darüber gossen, machten das Gaslicht aus, schlossen Werkstatt und Hof ab und warfen den Schlüssel dazu auf ihrem Heimweg in den Briefkasten von Rushtons Büro.
Auf solche Art arbeiteten sie drei Wochen lang fast jeden Abend an den Jalousien.

Als der Sonnabend kam, waren die Leute, die in der „Höhle" arbeiteten, wieder überrascht, als niemand entlassen wurde, und sie waren über die Ursache geteilter Meinung; einige dachten, Nimrod habe beschlossen, sie bis zum Schluss der Arbeit alle zu behalten, damit sie so schnell wie möglich fertig werde. Andere behaupteten kühn, ein seit mehreren Tagen umlaufendes Gerücht beruhe auf Wahrheit, wonach die Firma einen anderen großen Auftrag hätte. Mr. Sweater habe noch ein Haus gekauft, Rushton solle es renovieren, und die Firma werde alle Leute behalten, um gleich nach Fertigstellung der „Höhle" die andere Arbeit zu beginnen. Crass wusste nicht mehr als alle übrigen und schwieg diskret; dass er aber dem Gerücht nicht entgegentrat, verstärkte es. Die einzige Grundlage des Gerüchts war, dass man Rushton und Elend einmal gesehen hatte, wie sie über das Gartentor eines großen leeren Hauses in der Nähe der „Höhle" blickten. Obgleich aber der Ursprung des Gerüchts so unbedeutend war, hatte es von Tag zu Tag an Umfang und Einzelheiten zugenommen. Noch an diesem Morgen hatte der Mann auf dem Eimer in der Frühstückspause verkündet, er habe aus bestinformierter Quelle gehört, Mr. Sweater habe alle seine Anteile an dem großen Geschäft, das seinen Namen trug verkauft und werde sich ins Privatleben zurückziehen; er habe vor, sämtliche Häuser in der Nähe der „Höhle" aufzukaufen. Ein anderer - einer der neuen Arbeiter - teilte mit, er habe in einem Wirtshaus von jemand gehört, Rushton werde eine der Töchter Sweaters heiraten; Sweater wolle dem Paar als Hochzeitsgeschenk ein Haus zur Wohnung geben, aber die Tatsache, dass Rushton bereits verheiratet und Vater von vier Kindern war, entzog dieser Geschichte die Grundlage. Daher wurde sie mit Bedauern fallengelassen. Was aber auch immer die Ursache sein mochte - Tatsache blieb, dass niemand entlassen worden war, und als die Stunde der Lohnauszahlung herankam, machten sie sich in bester Stimmung auf den Weg zum Büro.
Da das Wetter an diesem Abend gut war, ging Slyme wie gewöhnlich zu seiner Versammlung im Freien; Easton hingegen wich von seiner Gewohnheit ab, in die „Cricketers" zu eilen, sobald er seinen Tee getrunken hatte, denn heute hatte er Ruth versprochen, auf sie zu warten und mit ihr einkaufen zu gehen. Den Säugling ließen sie in der Wiege schlafend allein zu Haus.
Als alle Einkäufe erledigt waren, hatten sie eine recht große Last beisammen. Easton trug das Netz mit den Kartoffeln, dem Gemüse und dem Fleisch und Ruth die übrigen Lebensmittel. Auf dem Heimweg mussten sie an den „Cricketers" vorbeigehen, und gerade vor diesem Punkt ihres Weges trafen sie Mr. und Mrs. Crass, die gleichfalls Einkäufe gemacht hatten. Beide bestanden darauf, dass Easton und Ruth hineinkämen, um mit ihnen ein Gläschen zu trinken. Ruth wollte nicht mitgehen, aber sie ließ sich überreden, da sie merkte, dass Easton über ihre Weigerung ärgerlich zu werden begann. Crass trug einen neuen Überzieher und einen heuen Hut, dazu eine dunkelgraue Hose, gelbe Stiefel und einen Stehkragen mit leuchtendblauer Krawatte. Seine Frau, eine dicke, ordinär aussehende, gut erhaltene Vierzigerin, prangte in einem dunkelroten „Automobilkostüm" und einem gleichfarbigen Hut. Sowohl Easton wie Ruth, die ihre besten Kleidungsstücke alle verpfändet hatten, um das Geld für die Armensteuer aufzubringen, kamen sich neben den beiden sehr ärmlich und schäbig vor.
Als sie drinnen waren, zahlte Crass für die erste Lage, einen halben Liter Old-Six-Porter für sich selbst, das gleiche für Easton, einen Viertelliter für Mrs. Easton und ein Gläschen zu drei Pence für Mrs. Crass.
Der benebelte Tropf war auch da und beendete grade ein Spiel „Haken und Ringe" mit dem Halbbetrunkenen, der am Tage nach seinem Hinauswurf vorbeigekommen war, um sich beim „ollen Knaben" für sein Benehmen zu entschuldigen; seitdem war er ein ständiger Kunde geworden. Philpot fehlte. Am Nachmittag war er dagewesen, berichtete der „olle Knabe"; aber gegen fünf Uhr war er nach Hause gegangen und seither nicht zurückgekommen. Es war aber mit Sicherheit anzunehmen, dass er im Laufe des Abends noch einmal hereinsehen werde.
Zwar war das Wirtshaus lange nicht so voll, wie es in besseren Zeiten gewesen wäre; doch es befand sich eine beträchtliche Anzahl Leute dort, denn die „Cricketers" war eins der beliebtesten Wirtshäuser der Stadt. Dass zwei andere Schenken der Nachbarschaft kürzlich geschlossen worden waren, trug auch dazu bei, das Geschäft hier zu beleben. In allen Abteilungen saßen Leute. Einige der Sitze im Schankraum waren von Frauen besetzt - darunter junge in Begleitung ihrer Ehemänner und alte, sichtlich vom Trunk aufgedunsene. In einer Ecke tranken drei junge Mädchen, die in einer Dampfwäscherei der Nachbarschaft arbeiteten, mit einer Schar junger Burschen Bier und Gin. Es saßen dort auch zwei große, fette, zigeunerhaft aussehende Frauen, offenbar Hökerinnen, denn neben ihnen standen auf dem Fußboden zwei Körbe mit Blumensträußen - Chrysanthemen und Herbstastern. Außerdem waren noch zwei sehr einfach und schäbig angezogene, etwa fünfunddreißigjährige Frauen da, die stets am Samstagabend hier zu finden waren und mit jedem Mann tranken, der bereit war, für sie zu zahlen. Das Betragen dieser beiden Frauen war sehr ruhig und unauffällig. Sie schienen zu wissen, dass sie nur geduldet waren, und verhielten sich daher demütig und bescheiden.
Die meisten Gäste standen. Der Fußboden war mit Sägespänen bestreut, die das übergeschwappte Bier der Leute aufsaugen sollten, deren schon unsichere Hände die Gläser nicht mehr gradehalten konnten. Die Luft roch übel nach Bier und Schnaps und war erfüllt von Tabakqualm; der Lärm war betäubend, denn fast alle sprachen gleichzeitig, und disharmonisch versuchten ihre Stimmen, die Anstrengungen des Musikautomaten zu übertönen, der gerade „Der Garten deines Herzens" spielte. In einer Ecke krümmten sich einige Männer vor Lachen über die Einzelheiten einer schmutzigen Geschichte, die einer von ihnen zum besten gab. Ein paar ungeduldige Kunden hämmerten mit den Böden ihrer leeren Gläser und Zinnkrüge auf den Schanktisch und brüllten nach mehr Bier. Von allen Seiten erklangen Flüche und obszöne Redensarten, und zwar fast ebenso häufig von den Frauen wie von den Männern. Und über all das hinweg war das Scheppern der Münzen zu hören, das Klingeln der Registrierkasse, das Klirren und Klappern der Gläser und Zinnkrüge beim Abwaschen, das gurgelnde Geräusch des Bieres, während es in die Trinkgefäße aus den Hähnen floss, deren Griffe fast pausenlos vom Kellner, vom „ollen Knaben" und von der glitzernden Wirtin bedient wurden, deren Seidenbluse und deren Juwelen im Haar, in den Ohren, am Hals und an den Fingern im Schein des Gaslichts prächtig blitzten.
Für Ruth war diese Szene so neuartig und seltsam, dass sie ganz betäubt und verwirrt war. Vor ihrer Heirat hatte sie niemals einen Tropfen Alkohol angerührt; seitdem aber hatte sie gelegentlich Easton zur Gesellschaft sonntags zu Hause ein Glas Bier mit ihm zum Mittagessen getrunken. Gewöhnlich war es jedoch Easton, der das Bier in einer Kanne holen ging. Ein- oder zweimal hatte sie es auch selbst in einer Bierhandlung nicht weit von ihrer Wohnung gekauft; noch niemals aber war sie in einem Wirtshaus gewesen, um zu trinken. Sie war so verlegen und fühlte sich so wenig wohl in ihrer Haut, dass sie Mrs. Crass kaum hörte noch verstand, was die unaufhörlich redete - hauptsächlich über die anderen Bewohner der North Street, in der sie beide wohnten, und über Mr. Crass. Sie versprach Ruth auch, ihr gleich Mr. Teilnehmer vorzustellen, einen ihrer beiden Mieter - wenn er herkomme, was fast sicher sei -, einen sehr distinguierten jungen Mann, der nun bereits seit über drei Jahren bei ihnen wohnte und um keinen Preis weggehen wollte. Schon in ihrem alten Haus war er Untermieter bei ihnen gewesen, und als sie in die North Street umzogen, zog er mit ihnen, obgleich er es von da aus weiter zu seinem Geschäft hatte als von ihrer früheren Wohnung. Mrs. Crass schwatzte noch viel ähnliches Zeug, dem Ruth wie im Traum zuhörte und auf das sie gelegentlich mit einem Ja oder Nein antwortete.
Währenddessen verabredeten Crass und Easton, der das Netz auf den Sitz neben Ruth gelegt hatte, mit dem Halbbetrunkenen und dem benebelten Tropf, eine Partie „Haken und Ringe" zu spielen; die Verlierer sollten für die ganze Gesellschaft, die beiden Frauen einbegriffen, eine Runde spendieren. Crass und der Halbbetrunkene losten um die Wahl der Partner. Crass gewann; er wählte den benebelten Tropf, und das Spiel begann. Von Anfang an war es eine einseitige Angelegenheit; denn Easton und der Halbbetrunkene waren den beiden anderen nicht gewachsen. Das Ergebnis war, dass Easton und sein Partner für die Getränke bezahlen mussten. Jeder der vier Männer bestellte einen halben Liter Starkbier, und Mrs. Crass nahm noch einmal für drei Pence Gin. Ruth versicherte, sie wünsche nichts mehr zu trinken, aber die anderen machten sich darüber lustig, und sowohl der benebelte Tropf wie der Halbbetrunkene schienen Ruths Mangel an Bereitschaft als persönliche Beleidigung aufzufassen, und so gestattete sie ihnen, noch ein kleines Bier für sie zu bestellen, das sie gezwungen war zu trinken, denn sie bemerkte, dass die anderen aufpassten, ob sie es auch tat.
Nun schlug der Halbbetrunkene ein Gegenspiel vor. Er wollte seine Revanche haben. Er war ein bisschen aus der Übung, sagte er, und gerade, als sie die andere Partie beendeten, war er dabei gewesen, sich einzuspielen. Crass und sein Partner stimmten bereitwillig zu, und obwohl Ruth flüsternd inständig bat, Easton möchte sofort mit ihr nach Hause gehen, bestand der darauf, am Spiel teilzunehmen.
Obgleich er und der Halbbetrunkene nun sorgfältiger spielten, und obwohl der benebelte Tropf sehr betrunken war, wurden sie wieder geschlagen und mussten noch einmal für eine Runde zahlen. Die Männer nahmen jeder einen Halben wie vorhin. Mrs. Crass, auf die der Likör bisher keinerlei Wirkung zu haben schien, bestellte wieder für drei Pence Gin, und Ruth erklärte sich bereit, noch ein Glas Bier zu nehmen, unter der Bedingung, dass Easton, sobald sie ausgetrunken hatten, mit ihr komme. Easton versprach das, aber anstatt Wort zu halten, begann er eine Partie Beilke mit den anderen dreien zu spielen, wobei Partner und Chancen wie zuvor verteilt waren.
Der Alkohol begann nun seine Wirkung auf Ruth auszuüben: sie fühlte sich schwindlig und verwirrt. Wenn sie auf Mrs. Crass' Unterhaltung etwas erwidern musste, fiel es ihr ziemlich schwer, die Worte auszusprechen, und sie wusste, dass ihre Antworten nicht sehr gescheit waren. Selbst als Mrs. Crass sie dem interessanten Mr. Teilnehmer vorstellte, der zu dieser Zeit eintraf, war sie kaum fähig, sich genügend zusammenzunehmen, um die Einladung dieses faszinierenden Herrn abzulehnen, noch ein Gläschen mit ihm und Mrs. Crass zu trinken.
Nach einiger Zeit wurde sie von einer heftigen Angst ergriffen, und sie beschloss, ohne Easton nach Hause zu gehen, wenn er nach Beendigung der Partie, die er gerade spielte, nicht käme.
Inzwischen nahm das Beilkespiel munter seinen Fortgang, während sich die Mehrzahl der männlichen Gäste um das Brett drängten und die Spieler, je nachdem die Gelegenheit es erforderte, mit Beifall oder Kritik bedachte. Der Halbbetrunkene war äußerst fröhlich, denn bei diesem Spiel war Crass nicht gerade ein Meister, und obgleich der benebelte Tropf gut spielte, konnte er den Mangel an Geschicklichkeit seines Partners nicht wettmachten. Als sich das Spiel seinem Ende näherte und es immer gewisser wurde, dass die Gegner des Halbbetrunkenen geschlagen würden, kannte dessen Freude keine Grenzen mehr, und er forderte sie heraus zu doppeln - ein großzügiges Angebot, das sie so weise waren abzulehnen, und da sie sahen, dass ihr Spiel hoffnungslos stand, kapitulierten sie bald darauf und machten sich bereit, den Tribut der Besiegten zu zahlen.
Crass bestellte die Getränke, und der benebelte Tropf kam für die Hälfte des Schadens auf - einen halben Liter Starkbier für jeden der Männer und das gleiche wie zuvor für die beiden Damen. Der „olle Knabe" führte die Bestellung aus; da er aber sehr beschäftigt war, schenkte er aus Versehen zwei dreistöckige Gin ein anstatt nur eines einzigen. Ruth wollte gar nichts mehr trinken; sie fürchtete sich aber, es zu sagen, und wollte auch kein Aufhebens davon machen, dass es das falsche Getränk war, besonders da ihr alle erklärten, der Likör werde ihr besser bekommen als Bier. Sie wollte keins von beiden haben; sie wollte fort und hätte am liebsten das Zeug aus dem Glas auf den Boden gegossen, sie fürchtete aber, Mrs. Crass oder einer der anderen könnten es sehen, und dann hätte sie vielleicht Unannehmlichkeiten. Auf jeden Fall schien es ihr leichter, diese kleine Menge Likör und Wasser zu trinken als ein großes Glas Bier, denn schon bei dem Gedanken hieran wurde ihr übel. Sie trank das Zeug, das Easton ihr gereicht hatte, in einem Zuge aus, stellte das leere Glas mit Schaudern zurück und stand entschlossen auf.
„Kommst du jetzt mit nach Haus? Du hast's versprochen", sagte sie.
„Ja, gleich", antwortete Easton, „wir haben noch so viel Zeit, 's ist noch nicht mal neun."
„Das macht nichts, 's ist schon spät genug. Du weißt doch, wir haben das Kind allein im Haus gelassen. Du hast versprochen, du kommst, sobald du mit dem andren Spiel fertig bist."
„Schon gut, schon gut", antwortete Easton ungeduldig. „Wart noch 'ne Minute, ich will bloß das hier noch sehen, dann komme ich."
„Das hier" war eine höchst interessante, von Crass gestellte Aufgabe, der dreizehn Streichhölzer nebeneinander auf das Beilkebrett gelegt hatte. Die Aufgabe bestand darin, keines fortzunehmen und doch nur NEUN dort zu lassen. Fast alle Männer im Schankraum drängten sich um das Spielbrett; einige versuchten mit gerunzelten Brauen und trunkenem Ernst, das Rätsel zu lösen, während andere neugierig auf das Ergebnis warteten. Easton ging hinüber, um zu sehen, wie es gemacht wurde, und da keiner in der Menge den Trick herausbekam, zeigte Crass, dass er darin bestand, einfach nur diese besagten dreizehn Streichhölzer zu legen, dass sie das Wort NEUN ergaben. Jeder sagte, das sei wirklich gut - sehr klug und interessant. Sowohl dem Halbbetrunkenen wie dem benebelten Tropf fielen bei diesem Kunststück einige andere ebenso gute Tricks ein, und sie führten sie vor; danach tranken die Männer jeder noch einen halben Liter zur Belebung nach der geistigen Anstrengung der letzten Minuten.
Easton kannte selbst keine Kunststücke; er war aber ein interessierter Zuschauer, während einige andere solche ausführten, bis Ruth herüberkam und seinen Arm berührte.
„Kommst du nicht?"
„Kannste nicht 'nen Augenblick warten?" schrie Easton grob. „Was haste denn für 'ne Eile?"
„Ich will hier nicht mehr bleiben", sagte Ruth aufgeregt. „Du hast gesagt, du kommst, sowie du den Trick gesehen hast. Wenn du nicht kommst, geh ich allein nach Haus. Ich will hier nicht mehr länger bleiben."
„Na, geh doch allein, wenn du willst", schrie Easton wütend und stieß sie von sich. „Ich bleib hier, solange's mir passt, und wenn's dir nicht gefällt, kannste ja verschwinden."
Ruth taumelte und wäre fast durch die Gewalt des Stoßes, den er ihr versetzt hatte, gefallen; der Mann wandte sich wieder dem Tisch zu, um dem Halbbetrunkenen zuzusehen; der hatte sechs Streichhölzer so gelegt, dass sie die Zahl XII bildeten, und behauptete, beweisen zu können, dies sei soviel wie tausend.
Ruth wartete noch ein paar Minuten; da Easton aber keine Notiz mehr von ihr nahm, hob sie das Netz und die übrigen Pakete auf, und ohne auch nur zu warten, um Mrs. Crass - die sich eifrig mit dem interessanten Mr. Teilnehmer unterhielt - „gute Nacht" zu wünschen, öffnete sie mit einiger Mühe die Tür und ging hinaus auf die Straße. Die kalte Nachtluft war erfrischend und angenehm nach der verdorbenen Luft des Wirtshauses; nach einem Weilchen aber begann sich Ruth schwach und schwindlig zu fühlen; sie bemerkte auch, dass sie unsicher ging, und bildete sich ein, die Leute starrten sie im Vorübergehen so merkwürdig an. Die Pakete waren schwer und mühsam zu tragen, und das Netz schien mit Blei gefüllt zu sein.
Zwar hätte sie normalerweise nur etwa zehn Minuten von hier zu gehen gehabt; sie beschloss jedoch, eine der Straßenbahnen zu nehmen, die am Ende der North Street vorbeifuhren. Sie setzte deshalb an der Haltestelle ihre Tasche auf das Pflaster und wartete, die Hand gegen den Eisenpfosten an der Straßenecke gestützt, wo eine kleine Menschenmenge stand, offenbar in der gleichen Absicht wie sie. Zwei Straßenbahnen fuhren vorbei, ohne zu halten, denn sie waren schon mit Fahrgästen vollbesetzt, was an Samstagabenden häufig vorkam. Die nächste hielt an; einige Leute stiegen aus, und dann entbrannte unter der wartenden Menge ein heftiger Kampf um die frei gewordenen Plätze. Männer und Frauen pufften, zerrten, fast schlugen sie einander; sie stießen sich gegenseitig Fäuste und Ellbogen in die Seite, in die Brust und ins Gesicht. Ruth wurde rasch beiseite geschleudert und beinahe zu Boden geworfen, und da die Straßenbahn bereits so viele Fahrgäste aufgenommen hatte, wie Platz da war, fuhr sie weiter. Ruth wartete auf die nächste, und wieder spielte sich die gleiche Szene ab wie zuvor, mit dem gleichen Ergebnis für Ruth; danach überlegte sie sich, dass sie jetzt schon zu Hause sein könnte, wenn sie nicht auf eine Bahn gewartet hätte, und sie beschloss, zu Fuß zu gehen. Die Pakete kamen ihr schwerer vor als je, und sie war noch nicht sehr weit gelangt, als sie gezwungen war, das Netz vor einem unbewohnten Haus wieder auf das Pflaster zu setzen.
Sie lehnte sich gegen den Zaun und fühlte sich sehr müde und krank... Alles um sie her, die Straße, die Häuser, die Fahrzeuge, schien verschwommen, schattenhaft und unwirklich. Einige Leute sahen sie im Vorbeigehen neugierig an; diesmal aber war sie sich der prüfenden Blicke kaum bewusst.
Slyme war an diesem Abend zur üblichen, von der Gemeinde des „Strahlenden Lichts" im Freien abgehaltenen Versammlung gegangen. Infolge des guten Wetters war die Veranstaltung sehr erfolgreich gewesen, und die Jünger, darunter Hunter, Rushton, Sweater, Didlum und Mrs. Hungerlass, Ruths ehemalige Herrin, hatten sich in voller Stärke versammelt, um besser mit irgendwelchen Ungläubigen, gedungenen Kritikern oder betrunkenen Lästerern fertig zu werden, die etwa versuchen mochten, den Verlauf des Unternehmens zu stören, und gleichzeitig hatten sie -vielleicht zum Beweis, wie viel wahrer Glauben sie erfüllte - dafür gesorgt, dass ein Polizist dort Dienst tat, um sie vor dem, was sie die „Mächte der Finsternis" nannten, zu schützen. Es mag verzeihlich sein, wenn wir meinen: wären sie wirklich gläubig gewesen, so hätten sie sich zu ihrem Schutz lieber auf jene Mächte des Lichts verlassen, die sie ja ihrer Behauptung nach auf diesem Planeten vertraten, anstatt sich die Mühe zu machen, eine so „weltliche" Macht wie die Polizei zu Hilfe zu rufen. Es ergab sich jedoch, dass heute die einzigen Ungläubigen dort diejenigen waren, welche die Versammlung abhielten, und da an dieser größtenteils Mitglieder der Gemeinde der Kapelle teilnahmen, wird dem Leser ohne weiteres einleuchten, dass die ungläubige Bruderschaft stark vertreten war.
Nach der Versammlung musste Slyme auf dem Heimweg an den „Cricketers" vorbei, und als er in die Nähe des Lokals kam, fragte er sich, ob Easton wohl dort sei; er wollte jedoch nicht hingehen und hineinblicken, denn er befürchtete, jemand könnte ihn vielleicht von dort kommen sehen und etwa denken, er sei drinnen gewesen, um zu trinken. In dem Augenblick, als er gegenüber dem Hause angekommen war, öffnete jemand die Tür des Schankraums und trat ein, so dass Slyme einen flüchtigen Blick hineinwerfen konnte, wo er Easton und Crass mit einer Anzahl anderer, ihm Unbekannter, lachen und miteinander trinken sah.
Slyme eilte weiter; es war sehr kalt geworden, und er wollte gern heim gelangen. Als er an die Straßenbahnhaltestelle kam, stellte er fest, dass eine Bahn in Sicht war; er beschloss, auf sie zu warten und nach Hause zu fahren, als sie jedoch ankam, waren nur ein oder zwei Plätze frei, und obwohl er sein Bestes tat, sich einen von diesen zu erobern, hatte er keinen Erfolg. Nach einem Augenblick des Zögern entschied er, er werde schneller zu Fuß heimkommen, als
wenn er auf die nächste Bahn wartete. So ging er also weiter, war jedoch noch nicht weit gelangt, als er auf der anderen Straßenseite vor einem unbewohnten Haus eine Menschenansammlung sah, und obwohl es ihm eilte, nach Hause zu kommen, ging er hinüber, um festzustellen, was da vorging. Etwa zwanzig Menschen standen dort herum, und in der Mitte, dicht am Zaun, waren drei oder vier Frauen, deren Stimmen Slyme hörte, die er aber nicht sehen konnte.
„Was ist 'n los?" fragte er einen Mann am Rande der Menge.
„Ach, nichts Besonderes", gab der andere zurück. „'ne junge Frau; entweder ist sie krank, ohnmächtig geworden oder so was Ähnliches - oder sie hat 'nen Tropfen zuviel getrunken."
„Sieht noch dazu ganz anständig aus", sagte ein anderer Mann.
Ein paar junge Burschen in der Menge belustigten sich damit, anzügliche Scherze über die junge Frau zu machen, und riefen durch gespieltes Mitleid einiges Gelächter hervor.
„Weiß denn niemand, wer sie ist?" fragte der zweite Mann, der Slyme geantwortet hatte.
„Nein", sagte eine Frau, die ein wenig näher zur Mitte der Menge stand. „Und sie sagt auch nicht, wo sie wohnt."
„Jetzt, nach dem Glas Selterswasser, wird's ihr schon besser gehen", sagte ein anderer Mann und bahnte sich mit dem Ellbogen einen Weg aus der Menge. Als er herauskam, gelang es Slyme, sich ein wenig weiter in die Gruppe hineinzudrängen, und unwillkürlich stieß er einen Schrei der Überraschung aus, als er Ruth erblickte, die sehr bleich und krank aussah und sich mit der linken Hand an eine der Gitterstangen klammerte, während sie in der andern die Pakete mit den Lebensmitteln hielt. Sie hatte sich inzwischen genügend erholt, um sich vor Scham und Verlegenheit überwältigt zu fühlen vor dieser Menge von Fremden, die sie von allen Seiten bedrängten und von denen sie einige über sie lachen und spotten hörte. Sie empfand daher unendliche Erleichterung und Dankbarkeit, als sie Slymes vertrautes Gesicht erblickte und seine freundliche Stimme vernahm, während er sich den Weg zu ihr bahnte.
„Ich kann jetzt schon gut nach Hause gehen", stammelte sie auf seine besorgte Frage, „wenn's dir nichts ausmacht, einige der Sachen hier für mich zu tragen."
Er bestand darauf, alle Pakete zu nehmen, und da die Menge zu dem Schluss gekommen war, er sei der Ehemann der jungen Frau, begann sie sich zu zerstreuen; einer der Spaßvögel bemerkte laut: „Alles vorüber!", als er sich davonmachte.
Sie hatten von dort nach Hause nur etwa sieben Minuten zu gehen, und da die Straßen, durch die ihr Weg führte, nicht sehr hell erleuchtet waren, konnte Ruth sich fast die ganze Zeit über auf Slymes Arm stützen. Als sie zu Hause angelangt waren und sie ihren Hut abgenommen hatte, hieß er sie, sich im Lehnstuhl neben dem Feuer niedersetzen, das hell brannte, und daneben auf dem Kaminvorsprung summte der Kessel, denn ehe sie fortgegangen war, hatte sie das Feuer mit glühender Asche und Kohlenstückchen umgeben.
Der Säugling schlief noch immer in der Wiege, aber offenbar war sein Schlummer nicht sehr ruhig gewesen, denn er hatte alle Decken von sich gestrampelt und lag nun ganz unbedeckt da. Ruth gehorchte willenlos, als Slyme sie aufforderte, sich zu setzen, und in den Sessel zurückgelehnt, sah sie mit halbgeschlossenen Augen und einer leichten Röte im Gesicht zu, wie er geschickt das schlafende Kind zudeckte und es bequemer in der Wiege zurechtlegte.
Nun wandte Slyme seine Aufmerksamkeit dem Feuer zu, und während er den Kessel darauf stellte, bemerkte er: „Sowie das Wasser kocht, mache ich dir 'n bisschen starken Tee."
Auf dem Heimweg hatte sie Slyme die Ursache mitgeteilt, weshalb sie in dem Zustand war, in dem er sie auf der Straße gefunden hatte, und während sie sich in den Lehnstuhl schmiegte und ihm schläfrig zusah, fragte sie sich, was wohl mit ihr geschehen wäre, wenn ihn sein Weg nicht vorbeigeführt hätte.
„Fühlst du dich jetzt besser?" fragte er und blickte auf sie nieder.
„Ja, danke schön. Ich fühl mich jetzt ganz wohl, aber ich fürchte, ich hab dir 'ne Menge Mühe gemacht."
„Nein, keineswegs. Nichts, was ich für dich tun kann, ist mir eine Mühe. Aber meinst du nicht, es ist besser, du ziehst die Jacke aus? Komm, lass mich dir helfen."
Es dauerte sehr lange, bis die Jacke ausgezogen war, denn während Slyme ihr half, küsste er sie leidenschaftlich immer wieder, wobei sie schlaff und ohne Widerstand zu leisten in seinen Armen lag.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur