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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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29. Kapitel Die Woche vor Weihnachten

Während der nächsten Woche malte Owen ein Firmenzeichen an die Außenwand einer der Werkstätten des Gerätehofs und beschriftete auch drei der Handkarren mit dem Namen der Firma.
Diese und andere kleinere Arbeiten beschäftigten ihn täglich während mehrerer Stunden, so dass er nicht gänzlich arbeitslos war.
Eines Nachmittags ging er um drei Uhr heim, da es nichts zu tun gab; kaum aber war er zu Hause angelangt, als Bert White mit einem Sargschild kam, das sofort geschrieben werden sollte. Der Junge sagte, er habe Auftrag, gleich darauf zu warten.
Nora schenkte Bert etwas Tee ein und gab ihm ein Butterbrot zu essen, während Owen das Sargschild fertig stellte, und bald darauf erschien auch Frankie, der draußen auf der Straße gespielt hatte. Die beiden Jungen kannten einander bereits, denn Bert war schon mehrmals dort gewesen - bei ähnlichen Gängen oder um bei Owen Unterricht im Marmorieren und Schriftmalen zu nehmen.
„Am nächsten Montag - nach Weihnachten - hab ich eine Feier", bemerkte Frankie. „Mutti hat mir gesagt, ich darf dich einladen, wenn du kommen willst?"
„Ist gut", sagte Bert, „ich bring mein Pandoramer mit."
„Was ist denn das? Ist es lebendig?" fragte Frankie verwirrt.
„Lebendig? Ach i wo!" antwortete Bert mit überlegener Miene. „'s ist ein Schauspiel, wie sie's im Hippodrom oder im Zirkus vorspielen."
„Wie groß ist es denn?"
„Nicht sehr groß. 's ist aus 'ner Zuckerkiste gemacht. Ich hab's selbst gebastelt. Ist noch nicht ganz fertig; aber die Woche mach ich's zu Ende. 'ne Kapelle ist auch dabei, weißte. Dafür nehme ich das hier."
„Das hier war eine große Mundharmonika, die er aus der Innentasche seines Mantels zog.
„Spiel mal was."
Wunschgemäß spielte Bert, und Frankie sang aus voller Kehle ein Potpourri beliebter Schlager, darunter „Der alte Bulle und der Busch", „Hat denn jemand 'ne deutsche Kapelle gesehen?", „Warten vor der Kirche" und zu guter Letzt - vielleicht als Grabgesang für die Person, deren Sargschild Owen eben gerade schrieb - „Leb wohl, Mignonette" und „Ich verlass doch deinetwegen nicht mein Holzhüttchen".
„Was da drin ist, weißt du nicht!" sagte Frankie und meinte eine große Tonschüssel; Nora hatte gerade Owen gebeten, ihr diese vom Boden auf einen Stuhl heben zu helfen. Das erwähnte Gefäß war mit einem sauberen weißen Tuch bedeckt.
„Weihnachtspudding", erwiderte Bert prompt.
„Einmal richtig geraten!" rief Frankie. „Wir haben die Sachen am Sonnabend vom Weihnachtssparklub bekommen. Seit letztes Jahr Weihnachten haben wir da eingezahlt Jetzt werden wir den Pudding anrühren, und du kannst auch mal rühren, wenn du Lust hast - das bringt Glück."
Während sie den Pudding rührten, forderte Frankie die anderen mehrmals auf, seine Muskeln zu fühlen: er meinte, er sei sicher, bald werde er stark genug sein, um arbeiten zu gehen, und er erklärte Bert, seine außerordentliche Kraft sei darauf zurückzuführen, dass er fast ausschließlich von Haferbrei und Milch lebte.
Während des letzten Teils der Woche fuhr Owen fort, mit Sawkins, Crass und Slyme unten im Gerätehof zu arbeiten und einige Stehleitern, Trittleitern und andere der Firma gehörende Ausrüstungsteile zu streichen. Diese Gegenstände sollten zwei Anstriche erhalten, und der Name Rushton & Co. musste daraufgeschrieben werden. Sobald sie einige der Sachen zum zweiten Mal gestrichen hatten, begann Owen mit der Beschriftung und überließ das Anstreichen den anderen, um die Arbeit so gerecht wie nur irgend möglich mit ihnen zu teilen.
Mehrmals während der Woche wurde der oder jener fortgeholt, um andere Arbeiten zu verrichten; einmal mussten Crass und Slyme irgendwohin gehen, um eine Decke abzuwaschen und zu weißen, und Sawkins wurde wiederholt fortgesandt, um den Installateuren zur Hand zu gehen.
Jeden Tag sprachen einige der Leute, die „feiern" mussten, beim Gerätehof vor, um zu fragen, ob irgendwelche Aufträge „hereingekommen" seien. Von diesen Besuchern hörten sie alle Neuigkeiten. Dem alten Jack Linden war es nicht gelungen, eine Arbeit in seinem Beruf zu finden, seit er von Rushton & Co. entlassen worden war, und es wurde berichtet, er versuche, durch das Hausieren mit Räucherheringen ein wenig Geld zu verdienen. Was Philpot betraf, so sagte der, er habe die Runde bei fast allen Firmen der Stadt gemacht, und keine habe irgendwelche nennenswerte Beschäftigung. Newman - der Mann, der, wie sich der Leser erinnern wird, entlassen worden war, weil er sich zuviel Mühe mit seiner Arbeit gegeben hatte - war verhaftet und zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden, weil er seine Armensteuer nicht bezahlen konnte, und das Fürsorgeamt hatte seiner Frau drei Schilling die Woche zu ihrem und der drei Kinder Unterhalt bewilligt. Philpot war sie besuchen gegangen, und sie hatte ihm erzählt, der Hauswirt drohe, sie auf die Straße zu setzen; er hätte gewiss ihre Möbel beschlagnahmt und verkauft, wenn es die Unkosten gelohnt hätte.
„Ich schäme mich über mich selbst", fügte Philpot vertraulich zu Owen hinzu, „wenn ich an all das Geld denke, das ich für Bier rausschmeiße. Wenn das nicht wär, ging's
mir selbst jetzt nicht so dreckig, und dann könnt ich ihnen vielleicht 'n bisschen unter die Arme greifen.
's ist gar nicht mal deshalb, weil ich das Bier so gern trinke, weißte", fuhr er fort, „'s ist wegen der Gesellschaft Wenn du gewissermaßen kein Heim nicht hast wie ich, dann ist die Kneipe so ungefähr der einzige Ort, wo du dich 'n bisschen unterhalten kannst. Aber du bist nicht sehr willkommen da, wenn du nicht dein Geld ausgibst."
„Sind die drei Schilling alles, was sie zum Leben haben?"
„Ich glaub, sie geht aufwarten, wenn sie was bekommen kann", erwiderte Philpot, „aber ich glaube, dass sie das gar nicht oft machen kann, mit den drei Kindern, die sie versorgen muss, und wie ich gehört hab, hat sie grad erst 'ne Krankheit überstanden und ist noch nicht so weit, dass sie viel machen kann."
„Mein Gott!" sagte Owen.
„Ich werd dir was sagen", meinte Philpot. „Ich hab mir überlegt, vielleicht können wir so was wie 'ne Sammlung für sie machen. 's gibt verschiedene Jungens, die in Arbeit stehen und Newman kennen, und wenn jeder davon 'ne Kleinigkeit gibt, kriegen wir genug zusammen, um wenigstens 'n Weihnachtsessen für die Familie zu bezahlen. Ich hab 'n Blatt Schreibpapier mitgebracht, und ich wollt dich bitten, die Überschrift für mich drüber zu setzen."
Da es in der Werkstatt keine Feder gab, wartete Philpot bis vier Uhr und begleitete Owen dann nach Hause, wo die Überschrift über die Sammelliste gesetzt wurde. Owen zeichnete einen Schilling und Philpot den gleichen Betrag.
Philpot blieb zum Tee und nahm eine Einladung an, den Weihnachtstag bei Owens zu verbringen und am darauf folgenden Montag zu Frankies Feier zu kommen.
Am nächsten Morgen brachte Philpot die Liste zum Gerätehof; Crass sowie Slyme zeichneten je einen Schilling und Sawkins drei Pence, und sie machten aus, Philpot das Geld am Zahltag - am Heiligabend - auszuhändigen. Inzwischen solle dieser so viele der Kollegen aufsuchen, die bei anderen Firmen beschäftigt waren, wie er nur konnte, um so viele Unterschriften wie möglich zu sammeln.
Am Weihnachtsabend erschien Philpot mit der Liste zur Lohnauszahlung, und Owen wie auch die anderen gaben ihm den Betrag, den sie gezeichnet hatten. Es war ihm gelungen, von weiteren Kollegen neun Schilling sechs Pence zu erhalten, größtenteils in Beträgen von sechs und drei Pence. Einen Teil dieses Geldes hatte er bereits bekommen; aber mit den meisten der Spender hatte er verabredet, sie heute Abend zu Hause aufzusuchen. Es wurde beschlossen, dass Owen ihn begleiten und mit ihm gehen solle, um das Geld Mrs. Newman zu übergeben.
Es kostete sie beinahe drei Stunden, bis alles Geld beisammen war, denn die Wohnungen, in die sie zu gehen hatten, lagen in verschiedenen Stadtteilen, und ein- oder zweimal mussten sie warten, da der Mann noch nicht heimgekommen war; zuweilen kamen sie auch nicht davon, ohne erst ein wenig Zeit mit Schwatzen zu verlieren. In drei Fällen steigerten Leute, die sich mit drei Pence in die Liste eingetragen hatten, den Betrag auf sechs Pence, und einer, der sechs Pence versprochen hatte, gab einen Schilling. Zwei Beträge von je drei Pence erhielten sie überhaupt nicht, da die Leute, die diese gezeichnet hatten, trinken gegangen waren. Ferner wurden sie auch dadurch aufgehalten, dass sie ein paar Bekannte trafen oder aufsuchten, die sie noch nicht um eine Spende gebeten hatten, und dazu kamen noch einige andere - inbegriffen mehrere Mitglieder der Malergewerkschaft, mit denen Owen während der Woche gesprochen hatte und die zugesagt hatten, eine Spende zu geben. Am Ende war es Philpot und Owen gelungen, den Gesamtbetrag auf neunzehn Schilling neun Pence zu erhöhen, und nun legte jeder der beiden noch anderthalb Pence hinzu, um die Summe auf ein Pfund abzurunden.
Die Newmans wohnten in einem kleinen Haus, das pro Woche sechs Schilling Miete zuzüglich Steuern kostete. Um in das Haus zu gelangen, musste man einen engen, dunklen Gang zwischen zwei Läden hinabgehen, denn es stand in einer Art Brunnen, der von den hohen Rückwänden größerer Gebäude eingeschlossen war - hauptsächlich Geschäfts- und Bürohäuser. Einen besonders freien Zugang zu diesem Haus hatte die frische Luft nicht, und die Sonnenstrahlen erreichten es niemals. Im Sommer war es stickig dort, und es herrschte ein übler, aus den Hinterhöfen der angrenzenden Gebäude kommender Geruch; im Winter war es dunkel, feucht und trübselig - eine Brutstätte für Bakterien und Mikroben. Die Mehrzahl der Leute, die angeblich die Lungentuberkulose genannte Krankheit verhüten und heilen wollen, müssen entweder Heuchler oder Dummköpfe sein; denn sie verspotten jeden Hinweis darauf, dass es zuerst einmal nötig ist, die Armut zu heilen und zu verhüten, die schlechtgekleidete und halbverhungerte Menschen zwingt, in derartigen Löchern zu schlafen.
Die Eingangstür führte ins Wohnzimmer oder vielmehr in die Küche, die trübe beleuchtet war von einer kleinen Paraffinlampe auf dem Tisch, auf dem gleichfalls einige Teetassen und Untertassen, jede von einem anderen Muster, sowie die Reste eines Brotlaibs standen. Die Tapete war alt und verschossen, einige Kalender und ungerahmte Drucke waren an die Wand geheftet, und auf dem Kaminsims standen ein paar zersprungene, wertlose Vasen und Nippes. Einst hatten die Newmans eine Uhr mit einer Glasglocke und einige gerahmte Bilder besessen, aber alles war verkauft worden, um Geld für Nahrungsmittel zu beschaffen. Aus demselben Grunde hatten sie sich von fast allen Dingen getrennt, die irgendeinen Wert hatten, von den Möbeln, den Bildern, dem Bettzeug, dem Teppich und dem Linoleum; Stück für Stück war alles, was einmal zu ihrem Heim gehört hatte, entweder verpfändet oder verkauft worden, damit während der Zeiten, in denen Newman arbeitslos war, Nahrungsmittel gekauft und die Mietschulden beglichen werden konnten - Zeiten, die während der letzten Jahre immer häufiger wiedergekehrt waren und immer länger gedauert hatten. Jetzt war nichts mehr übrig geblieben als nur diese paar alten zerbrochenen Stühle und der Tannenholztisch, den niemand kaufen wollte, und oben die jämmerlichen Bettstellen und Matratzen, auf denen sie des Nachts schliefen und sich mit den abgetragenen Resten von Decken und mit Kleidungsstücken zudeckten, die sie am Tage trugen.
Auf Philpots Klopfen wurde die Tür von einem kleinen, etwa siebenjährigen Mädchen geöffnet, das Philpot sogleich erkannte und seinen Namen der Mutter zurief. Diese kam gleichfalls zur Tür, gefolgt von noch zwei Kindern - einem kleinen, zart aussehenden, etwa dreijährigen Mädchen und
einem wohl fünfjährigen Jungen, die sich am Rock ihrer Mutter hielten und neugierig nach den Besuchern lugten. Mrs. Newman war ungefähr dreißig Jahre alt, und ihr Aussehen bestätigte Philpots Aussage, sie habe soeben erst eine Krankheit überstanden; sie war sehr blass, sehr hager und sah recht elend aus. Als Philpot den Zweck ihres Besuchs erklärt und ihr das Geld übergeben hatte, brach die arme Frau in Tränen aus, und die beiden kleineren Kinder begannen gleichfalls zu weinen, denn sie dachten, das Stück Papier bedeute ein neues Unglück. Sie erinnerten sich, dass all ihr Kummer mit dem Besuch von Männern begonnen hatte, die Papiere brachten, und es war ziemlich schwer, die Kinder zu beruhigen.
An diesem Abend gingen Nora und Owen, nachdem Frankie eingeschlafen war, ihre Weihnachtseinkäufe machen. Viel Geld konnten sie nicht ausgeben, denn Owen hatte nur siebzehn Schilling nach Hause gebracht. Er hatte dreiunddreißig Stunden gearbeitet - das machte neunzehn Schilling drei Pence; ein Schilling und anderthalb Pence waren auf die Spendenliste gegangen, und den Rest der Kupfermünzen hatte er einem zerlumpt und jämmerlich aussehenden Mann gegeben, der ein Kirchenlied auf der Straße sang. Der andere Schilling war ihm als Rückzahlung eines während der Woche genommenen Vorschusses vom Lohn abgezogen worden.
Mit diesen siebzehn Schilling musste sehr viel getan werden. Zuerst einmal musste die Miete bezahlt werden - sieben Schilling; danach blieben zehn Schilling. Dann musste die Brotrechnung der Woche beglichen werden - ein Schilling drei Pence. Sie nahmen jeden Tag einen halben Liter Milch, hauptsächlich des Jungen wegen, das machte einen Schilling zwei Pence. Ein Schilling acht Pence war noch für einen Zentner Kohle zu bezahlen, den sie auf Kredit gekauft hatten. Glücklicherweise brauchten sie keine Lebensmittel zu holen, denn die Sachen, die sie für ihr Geld im Weihnachtssparklub erhalten hatten, waren mehr als ausreichend für die kommende Woche.
Frankies Strümpfe waren völlig zerrissen und lohnten das Stopfen nicht mehr; deshalb war es unbedingt notwendig, ihm für fünf Pence und drei Farthing ein neues Paar zu kaufen. Diese Strümpfe taugten nicht viel; ein Paar zum doppelten Preis wäre bedeutend billiger gewesen, denn sie hätten drei- oder viermal länger gehalten; aber sie konnten es sich nicht leisten, die teureren zu kaufen. Ebenso war es mit der Kohle: hätten sie es sich leisten können, so hätten sie für sechsundzwanzig Schilling eine Tonne kaufen können; zentnerweise jedoch, wie sie die Kohle kauften, mussten sie dreiunddreißig Schilling vier Pence pro Tonne gleicher Qualität bezahlen. So ging es mit fast allem. Auf diese Weise werden die Menschen der Arbeiterklasse bestohlen. Obgleich sie das niedrigste Einkommen haben, sind sie gezwungen, die kostspieligsten Waren zu kaufen - nämlich die billigsten. Jeder weiß, dass gute Kleider, Stiefel und Möbel am Ende die preiswertesten sind, obgleich sie zuerst mehr Geld kosten; aber die Menschen der Arbeiterklasse können selten oder nie gute Dinge kaufen. Sie müssen billigen Schund erwerben, der auf jeden Fall teuer ist.
Vor drei Wochen hatte Owen für drei Schilling ein Paar Stiefel alt gekauft, und jetzt waren sie buchstäblich am Zerfallen. Noras Schuhe befanden sich so ziemlich im gleichen Zustand; aber, wie sie sagte, machte es bei den ihren nicht soviel aus, denn sie brauchte ja nicht auszugehen, wenn das Wetter schlecht war.
Außer den bereits erwähnten Ausgaben mussten sie noch vier Pence für zwei Liter Paraffinöl bezahlen und sechs Pence in den Geldschlitz des Gasherdes werfen. Das verminderte ihre Barschaft auf fünf Schilling sieben Pence und einen Farthing; ein Schilling davon musste für Kartoffeln und anderes Gemüse ausgegeben werden.
Beide brauchten sie etwas neue Unterwäsche, denn die sie besaßen, war so alt und abgetragen, dass sie für den Zweck, dem sie dienen sollte, gänzlich unbrauchbar war; es nützte aber nichts, daran zu denken, denn sie hatten nur noch vier Schilling sieben Pence und einen Farthing übrig, und all das wurde für Spielsachen benötigt. Sie mussten für Frankie etwas Besonderes zu Weihnachten kaufen und gleichfalls etwas für jedes der Kinder, die am folgenden Montag zu der Feier kommen würden. Glücklicherweise brauchten sie kein Fleisch zu besorgen, denn Nora hatte nicht nur beim Kaufmann, sondern auch beim Fleischer Beiträge zum Weihnachtssparklub gezahlt. Diese notwendige Ausgabe war also schon bestritten.
Sie blieben stehen, um sich die in Sweaters Warenhaus ausgestellten Spielsachen anzusehen. Seit mehreren Tagen sprach Frankie von den Wundern, die diese Schaufenster enthielten; deshalb wollten sie ihm wenn möglich hier etwas kaufen. Viele Dinge erkannten sie nach der Beschreibung des Jungen; fast alles aber war so teuer, dass sie lange Zeit vergeblich nach etwas Ausschau hielten, was sie kaufen konnten.
„Da ist die Lokomotive, von der er so viel spricht", sagte Nora und deutete auf eine Modellokomotive, „die dort mit dem Preisschild über fünf Schilling."
„Was uns betrifft, so könnte sie ebenso gut ein Preisschild über fünf Pfund haben", erwiderte Owen.
Während sie sprachen, erschien einer der Verkäufer hinter dem Schaufenster, langte hinein und nahm die Lokomotive heraus. Wahrscheinlich war sie die letzte dieser Art, und offenbar war sie soeben verkauft worden. Owen und Nora empfanden es als einen gewissen Trost, dass sie die Lokomotive auch dann nicht hätten kaufen können, wenn sie das Geld dazu gehabt hätten.
Nach längerer Beratung entschieden sie sich für eine Aufziehlokomotive zu einem Schilling, beschlossen jedoch, die anderen Spielsachen in einem billigeren Laden zu besorgen. Nora ging in das Warenhaus, um die Lokomotive zu kaufen, und während Owen auf sie wartete, kamen Mr. und Mrs. Rushton heraus. Sie schienen Owen nicht zu sehen, und der bemerkte, dass die Form eines der Pakete, die sie trugen, vermuten ließ, dass die vor einem Weilchen aus dem Fenster genommene Lokomotive darin war.
Als Nora mit ihrem Kauf zurückkehrte, gingen sie auf die Suche nach einem billigeren Laden, und nach einiger Zeit fanden sie, was sie brauchten. Für sechs Pence kauften sie eine Pappschachtel, die den weiten Weg aus Japan gemacht hatte und eine ganze Puppenfamilie enthielt -Vater, Mutter und vier Kinder in verschiedenen Größen, ferner einen Tuschkasten zu drei Pence, ein Teeservice zu sechs Pence, eine Schiefertafel zu drei Pence und eine Stoffpuppe zu sechs Pence.
Auf dem Heimweg gingen sie in den Gemüseladen, in dem Owen vor drei Wochen einen kleinen Weihnachtsbaum bestellt und bezahlt hatte, und als sie um die Ecke der Straße bogen, in der sie wohnten, trafen sie Crass, der halb betrunken war und über seine Schulter geworfen eine prächtige Gans beim Hals hielt. Er begrüßte die Owens leutselig und hielt den Vogel zu ihrer Begutachtung hoch.
„Nicht schlecht für 'n Sechser, was?" sagte er unter Schlucken. „Mit der hier haben wir zwei. Ich hab sie, zusammen mit 'ner Kiste Zigarren - fünfzig Stück sind drin -für 'nen Sechser gewonnen, und die andre hab ich durch den Klub von unsrer Missionsgemeinde - drei Pence die Woche, achtundzwanzig Wochen lang, macht sieben ,Eier'. Aber", fügte er vertraulich hinzu, „für den Preis könnteste sie im Laden nicht kaufen, weißte. Sie kosten das Komitee 'n gutes Stück mehr als das, en gros, aber wir haben 'n paar reiche Onkels drin, und die kommen für die Differenz auf." Und mit einem Kopfnicken und listigem Blinzeln schwankte er davon.
Als sie nach Hause kamen, schlief Frankie fest und ebenso das Kätzchen, das zusammengerollt auf dem Federbett am Fußende des Bettes lag. Nachdem sie etwas zu Abend gegessen hatten, stellte Owen, obwohl es bereits nach elf Uhr war, den Baum in einen großen Blumentopf, der schon öfter dem gleichen Zweck gedient hatte, und Nora holte eine Schachtel mit glitzerndem Baumschmuck von dem Platz, an dem er seit dem letzten Weihnachtsfest verstaut lag - Kugeln aus versilbertem, vergoldetem oder bemaltem Glas, Vögel. Schmetterlinge und Sterne. Einige dieser Dinge hatten bereits bei drei Weihnachtsfesten gedient, und obgleich manche ihren Glanz ein wenig eingebüßt hatten, waren doch die meisten so gut wie neu. Neben diesen Sachen und dem heute Abend gekauften Spielzeug war noch eine Schachtel mit Knallbonbons da und eine mit kleinen farbigen Wachskerzen, die beide zu den Dingen gehörten, die sie vom Kaufmann für das Weihnachtsspargeld erhalten hatten, dazu noch viele bunte Tüten mit Süßigkeiten sowie eine Anzahl Spielsachen und Tiere aus Zuckerwerk und Schokolade, von denen sie seit mehreren Wochen jeweils zwei oder drei auf einmal gekauft und für diesen Tag
zurückgelegt hatten. Für jedes Kind, das kommen sollte, war etwas Passendes da, außer für Bert White. Sie hatten beabsichtigt, mit ihren Einkäufen heute Abend ein Taschenmesser zu sechs Pence für ihn zu erwerben; da sie sich das jedoch nicht leisten konnten, beschloss Owen, ihm einen Satz alter Marmorierkämme aus Stahl zu schenken, die sich der Junge, wie Owen wusste, häufig gewünscht hatte. Die dieses Werkzeug enthaltende Blechschachtel wurde also in rotes Seidenpapier gehüllt und mit den übrigen Sachen an den Baum gehängt.
Sie gingen so leise wie möglich umher, um die Leute nicht zu stören, die in den Zimmern unter ihnen schliefen; denn schon lange, ehe sie fertig waren, hatten sich die übrigen Hausbewohner zur Ruhe begeben, und in den verlassenen Straßen draußen herrschte Schweigen. Während sie die letzte Hand an ihr Werk legten, wurde die tiefe Stille der Nacht plötzlich durch die Stimmen eines Chors unterbrochen, der Weihnachtslieder sang.
Bei diesen Klängen wurden die beiden von Erinnerungen an andere, glücklichere Zeiten überwältigt, und impulsiv streckte Nora Owen ihre Hand entgegen, der sie eng an sich zog.
Sie waren seit etwas über acht Jahren verheiratet, und obwohl sie während der ganzen Zeit niemals frei von Sorgen um die Zukunft gewesen waren, hatten sie doch an keinem vorhergehenden Weihnachtsfest solche Armut gelitten wie diesmal. Während der letzten Jahre waren die Perioden der Arbeitslosigkeit nach und nach immer häufiger und länger geworden, und der von Owen zu Beginn des Jahres unternommene Versuch, in einer anderen Stadt Arbeit zu finden, hatte nur dazu geführt, sie in noch größere Armut zu stürzen als zuvor. Trotzdem aber gab es viel, wofür sie dankbar sein mussten; arm, wie sie waren, ging es ihnen doch bedeutend besser als vielen Tausenden anderer Menschen; sie hatten noch immer Nahrung und Unterkunft, sie hatten einander und den Jungen.
Ehe sie zu Bett gingen, trug Owen den Baum in Frankies Schlafzimmer und stellte ihn so, dass der Junge ihn in all seiner glitzernden Pracht erblicken konnte, sobald er am Weihnachtsmorgen erwachte.

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