Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
http://nemesis.marxists.org

37. Kapitel Der Wohltätigkeitsverein

Eines der wichtigsten Unternehmen zur Linderung der Not war der Wohltätigkeitsverein. Diese Organisation erhielt Gelder aus vielen Quellen: den Ertrag des Karnevalszuges; die Sammelgelder von mehreren Kirchen
und Kapellen, in denen besondere Gottesdienste zugunsten der Arbeitslosen abgehalten wurden; die von den Angestellten verschiedener Firmen und Geschäftshäuser des Ortes veranstalteten wöchentlichen Sammlungen sowie die Überschüsse aus Konzerten, Verkaufsbasaren und Vergnügungen, ferner Spenden von wohltätigen Personen und schließlich die Beitragszahlungen der Mitglieder des Vereins. Er erhielt gleichfalls große Mengen von abgelegten Kleidungsstücken und Stiefeln sowie Gutscheine für die Aufnahme in Krankenhäuser oder Genesungsheime und für die Armenapotheken, entweder von Geldgebern dieser Einrichtungen oder von Leuten wie Rushton & Co., die Sammelbüchsen in ihren Werkstätten und Büros stehen hatten.
Im ganzen hatte der Verein während des letzten Jahres aus den verschiedensten Quellen etwa dreihundert Pfund in bar erhalten. Dieses Geld war zur Unterstützung von Bedürftigen bestimmt.
Der größte Posten im Haushalt des Vereins war das Gehalt des Sekretärs Mr. Sawney Schinder - ein höchst „unterstützungswürdiger Fall" -, der hundert Pfund jährlich erhielt.
Nach dem Tode des vorhergehenden Sekretärs gab es so viele Bewerber für den frei gewordenen Posten, dass die Wahl des neuen Sekretärs eine recht aufregende Angelegenheit war. Die Aufregung war um so intensiver, als sie im Zaume gehalten wurde. Eine Sondersitzung des Vereins fand statt; den Vorsitz führte der Bürgermeister, Ratsherr Sweater, und unter den Anwesenden befanden
sich die Ratsherren Rushton, Didlum und Schinder, ferner
Mrs, Hungerlaß, Pfarrer Schwätzer, eine Anzahl der reichen, halb schwachsinnigen alten Frauen, die bei der Eröffnung des Arbeitshofs geholfen hatten, sowie verschiedene andere „Damen". Einige von diesen waren die bereits erwähnten Bezirksbesucherinnen, zumeist Ehefrauen wohlhabender Bürger und im Ruhestand lebender Geschäftsleute - prunkend gekleidete, unwissende, freche, hochmütige alte Schrauben, die, nachdem sie sich in ihren luxuriösen Wohnungen mit guten Dingen voll gestopft hatten, in die elenden Behausungen ihrer armen „Schwestern
hineintänzelten und zu diesen über die „Religion" sprachen, ihnen Vorträge über Enthaltsamkeit und Sparsamkeit hielten und ihnen zuweilen Gutscheine im Werte von einem Schilling für Suppe, für Lebensmittel oder für Kohle gaben. ginige dieser überfütterten Weiber - zum Beispiel die Gattinnen von Ladenbesitzern - gehörten deshalb dem Wohltätigkeitsverein an und beschäftigten sich zu dem Zweck mit dieser „Arbeit", weil sie die Bekanntschaft von Leuten aus höheren Gesellschaftsschichten machen wollten; ein Vereinsmitglied war Hauptmann, und Sir Raffall von Einfriedland, das Parlamentsmitglied für den Wahlkreis, gehörte gleichfalls dem Verein an und besuchte gelegentlich dessen Versammlungen. Andere Frauen betrachteten die Wohlfahrtsbesuche als ihr Steckenpferd; sie hatten nichts zu tun, und da sie äußerst unwissend und in ihrer Denkweise beschränkt waren, hatten sie weder den Wunsch noch die Fähigkeit zu irgendeiner geistigen Beschäftigung. Daher unternahmen sie diese Arbeit des Vergnügens halber, um sehr billig die große Dame und überlegene Persönlichkeit spielen zu können. Wieder andere „Wohlfahrtsdamen" waren unverheiratete Frauen mittleren Alters, die ein kleines Privateinkommen hatten und von denen einige wohlmeinend, mitleidig und sanft waren und diese Arbeit verrichteten, weil sie den ehrlichen Wunsch hatten, anderen zu helfen, und keinen besseren Weg kannten. Sie beteiligten sich nicht häufig an den Versammlungen; sie zahlten ihre Beiträge und halfen, die abgelegten Kleider und Stiefel an Leute zu verteilen, die diese benötigten, und zuweilen erlangten sie vom Sekretär einen Gutschein über Lebensmittel, Kohlen oder Brot für irgendeine im Elend lebende Familie. Die armen, abgearbeiteten Frauen, die sie besuchten, hießen sie jedoch mehr um ihres schwesterlichen Mitleids willen als wegen der Gaben willkommen, die sie brachten. Manche Wohlfahrtsdamen waren von dieser Art - jedoch nicht viele. Sie glichen einigen wenigen duftenden Blumen inmitten einer dichten Menge schädlichen Unkrauts. Sie waren edle Beispiele der Bescheidenheit und der Güte, die aus einer hässlichen und verächtlichen Masse von Scheinheiligkeit, Überheblichkeit und Heuchelei hervorglänzten.
Als der Vorsitzende die Versammlung eröffnet hatte beantragte Mr. Rushton, die Versammlung möge den Verwandten des verstorbenen Sekretärs, den er in den höchsten Tönen pries, ihr Beileid aussprechen.
„Die Armen Mugsboroughs haben einen gütigen' und mitleidigen Freund verloren ... einen, der sein Leben der Hilfe für die Bedürftigen gewidmet hat" und so weiter und so fort. (Tatsächlich hatte der Verstorbene den größten Teil seiner Zeit der Selbsthilfe gewidmet; hiervon erwähnte Rushton indessen nichts.)
Mr. Didlum unterstützte in ähnlichen Worten den Kondolenzantrag, und dieser wurde einstimmig angenommen. Dann erklärte der Vorsitzende, ihre nächste Aufgabe sei es nun, für den verblichenen Helden einen Nachfolger zu wählen, und sogleich erhoben sich nicht weniger als neun Mitglieder, um eine geeignete Person vorzuschlagen; jeder von ihnen hatte einen edelmütigen Freund oder Verwandten, der willens war, sich zum Wohle der Armen zu opfern.
Die neun Wohltätigen standen da und sahen einander und den Vorsitzenden an mit einem gezwungenen Lächeln auf dem scheinheiligen Gesicht. Es war ein dramatischer Augenblick. Niemand sprach. Man musste vorsichtig sein. Ein Wettbewerb wäre unzweckmäßig. Der Sekretär des Wohltätigkeitsvereins wurde gewöhnlich vom uneingeweihten Publikum als eine Art Menschenfreund betrachtet, und es war notwendig, diese Fiktion aufrechtzuerhalten.
Ein oder zwei Minuten lang herrschte betretenes Schweigen. Dann nahm einer nach dem andern zögernd wieder seinen Platz ein, mit Ausnahme von Mr. Arnos Schinder, der sagte, er schlage seinen Neffen vor, Mr. Sawney Schinder, einen jungen Mann von äußerst wohltätiger Veranlagung, der den Wunsch hegte, sich auf dem Altar der Barmherzigkeit zum Wohle der Armen zu opfern - oder Worte ähnlichen Inhalts.
Mr. Didlum unterstützte den Antrag, und da kein anderer Vorschlag kam - denn alle wussten, dass sie das Spiel verrieten, falls ein Wettbewerb um die Stellung entbrannte -. ließ der Vorsitzende über den Antrag abstimmen, und die Versammlung nahm diesen einstimmig an.
Ein anderer beachtlicher Posten im Ausgabenetat des Vereins war die Miete für die Büroräume, die ein Haus in, einer Seitengasse einnahmen. Der Hauswirt dieses Gebäudes war gleichfalls ein sehr unterstützungswürdiger „Fall". Es gab noch viele andere Ausgaben: für Briefpapier und
-marken, für Druckkosten und dergleichen mehr, und der Rest des Geldes wurde zu dem Zweck verwendet, zu dem er gespendet worden war - wobei ein angemessener Betrag für künftige Unkosten als Kassenbestand zurückgehalten wurde. Alle Einzelheiten waren selbstverständlich in dem auf der Jahresversammlung abgegebenen Rechenschaftsund Kassenbericht ordnungsgemäß vermerkt. Niemals wurde den Reportern eine Durchschrift dieses Dokuments zur Veröffentlichung ausgehändigt; es wurde auf der Versammlung durch den Sekretär verlesen, die Pressevertreter machten sich Notizen, und in den Berichten über die Versammlung, die danach in den Zeitungen des Ortes erschienen, war die Sache derartig verworren und durcheinander gebracht, dass die wenigen Leute, die sie lasen, nicht daraus klug werden konnten. Das einzige, was klar hervorging, war, dass der Verein irgend jemand viel Gutes getan hatte und dass dringend mehr Geld gebraucht wurde, damit die Arbeit fortgesetzt werden konnte. Gewöhnlich sah das etwa folgendermaßen aus:

„HILFE FÜR DIE BEDÜRFTIGEN
Wohltätigkeitsverein von Mugsborough
hält Jahresversammlung im Rathaus ab.
Glänzendes Zeugnis einer vielseitigen
und wertvollen Arbeit.

Im Rathaus fand gestern die Jahresversammlung des oben genannten Vereins statt. Den Vorsitz führte Bürgermeister Ratsherr Sweater, und unter den Anwesenden befanden sich Sir Raffall von Einfriedland, Lady Einfriedland, Lady Elendswirt, Pfarrer Schwätzer, Mr. Käsemann, Mrs. Baumann, Mrs. Krämer, Mrs. Milchhaus, Mrs. Fleischmann, Mrs. Schneider, Mrs. Bäcker, Mrs. Hungerlaß, Mrs. Zimmerwirt, Mrs. D. Umkopf, Mrs. Keinhirn, Mrs. L. Eerhaupt, Mr. Rushton. Mr. Didlum, Mr. Schinder und...
(Hier folgte etwa eine Viertelspalte von Namen der übrigen wohltätigen Persönlichkeiten, die sämtlich zahlende Mitglieder des Vereins waren.)
Der Sekretär verlas den Jahresbericht, der unter anderem folgende interessanten Ziffern enthielt:
Im Laufe des Jahres liefen 1972 Unterstützungsanträge ein, und von diesen wurde 1302 in folgender Weise stattgegeben: Brot- oder Lebensmittelgutscheine: 273; Kohleoder Koksgutscheine: 57; Ernährung (Anm.: Dies war die Bezeichnung des Sekretärs für die ausgegebenen Suppengutscheine.): 579 (Applaus); Stiefelpaare ausgegeben: 29; Kleidung: 105; Krücke für armen Mann bewilligt: 1; Pflegerinnen gestellt: 2; Krankenhausscheine: 26; ins Lungensanatorium verschickt: 1; 29 Personen wurden, da es sich um chronische Fälle handelte, an den Armenverweserrat verwiesen; Arbeit für 19 Personen gefunden (Beifall); Hausierergenehmigungen: 4; Armenapothekengutscheine: 24; Bettzeug eingelöst: 1; Anleihen für Mietzahlungen bewilligt: 8 (lebhafter Beifall); Gutscheine für Zahnbehandlung: 2; Eisenbahnfahrscheine für Leute, welche die Stadt verließen, um anderswo Beschäftigung zu suchen: 12 (stürmischer Beifall); Anleihen bewilligt: 5; Anzeigen für Stellensuchende: 4-und so fort."

Etwa noch eine weitere Viertelspalte war mit ähnlichen Einzelheiten gefüllt, deren Verlesung von Beifall unterbrochen worden war, und die Liste schloss mit den Worten: „Übrig blieben 670 Fälle, denen zu helfen der Verein aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage war." Der Bericht stellte dann weiter fest, dass die Überprüfung der Bedürftigkeit von Antragstellern von Seiten des Sekretärs viel Arbeit erfordert hatte; einige Fälle beanspruchten sogar mehrere Tage. Nicht weniger als 649 Briefe wurden vom Büro des Vereins versandt sowie 97 Postkarten. (Beifall.) Bargeldunterstützung wurde nur in wenigen Fällen ausgezahlt, denn es war äußerst notwendig, sich gegen einen Missbrauch der Barmherzigkeit zu schützen. (Hört, hört!)
Nun folgte ein sehr bemerkenswerter Abschnitt mit der Überschrift „Der Kassenbericht", der, so hieß es, „folgendes enthielt": „folgendes" war eine verworrene Liste von Ausgaben, Beitragssummen, Spenden, Vermächtnissen und Sarnmelergebnissen, die mit den Worten schloss: „Der Endbetrag ergab einen Kassenbestand von 178 Pfund 4 Schilling 6 Pence." (Der Verein hielt stets einen hohen Kassenbestand zu seiner Verfügung zurück, wegen des Gehalts des Sekretärs und wegen der Büromiete.)
Nach diesem sehr aufschlussreichen Finanzbericht kam der wichtigste Teil der Rechenschaftslegung: „Der Verein spricht folgenden Personen seinen Dank aus: Mr. Raffall von Einfriedland für eine Spende von 2 Guineen, Mrs. Krämer für 1 Guinee, Mrs. Hungerlaß für Krankenhausscheine, Lady Elendswirt für einen Einlassbrief an das Genesungsheim, Mrs. Keinhirn für 1 Guinee, Mrs. D. Umkopf für 1 Guinee, Mrs. L. Eerhaupt für 1 Guinee, Mrs. Zimmerwirt für Spenden von Kleidungsstücken" - und noch eine Viertelspalte lang so fort; das Ganze schloss mit einer Danksagung an den Sekretär und mit dem dringenden Aufruf an die wohltätige Bevölkerung, weitere Summen zu spenden, um es dem Verein zu ermöglichen, sein edles Werk fortzusetzen.
Inzwischen blieb trotz dieser und verwandter Organisationen die Lage der unterbezahlten, verelendeten und beschäftigungslosen Arbeiter die gleiche. Obwohl die Leute, welche die Lebensmittel- und die Kohlengutscheine, die „Ernährung", die abgelegten Kleidungsstücke und die alten Stiefel erhalten hatten, darüber sehr froh waren, brachten diese Dinge doch mehr Schaden als Nutzen. Sie demütigten und erniedrigten diejenigen, welche sie erhielten, und stempelten diese zu Almosenempfängern; dazu verhinderte das Bestehen der Vereine, dass das Problem auf vernünftige und praktische Weise angepackt wurde. Den Menschen fehlten die lebensnotwendigen Dinge: die lebensnotwendigen Dinge werden durch die Arbeit hergestellt; diese Menschen waren gewillt zu arbeiten, wurden jedoch von dem idiotischen Gesellschaftssystem daran gehindert, das zu verewigen diese „barmherzigen" Leute entschlossen sind, ihr Bestes zu tun.
Wenn die Leute, die erwarten, dass man sie wegen ihrer Wohltätigkeit preist und in den Himmel hebt, keinen roten Heller mehr spendeten, so wäre das für die fleißigen Armen
bedeutend besser, denn dann wäre die Gesellschaft als Ganzes gezwungen, sich mit den heute herrschenden widersinnigen und unnötigen Verhältnissen zu befassen, unter denen Millionen von Menschen in Elend und Armut leben und sterben, in einem Zeitalter, in dem Wissenschaft und Technik es möglich gemacht haben, so reichlich von allem zu produzieren, dass ein jeder einen behaglichen Überfluss genießen könnte. Wäre diese so genannte Wohltätigkeit nicht, so würden die hungernden Arbeitslosen im ganzen Land verlangen, dass man sie arbeiten und die Dinge produzieren ließe, mangels derer sie umkommen, und sie wären nicht - wie sie es gegenwärtig sind - damit zufrieden, die abgelegten Kleidungsstücke ihrer Herren zu tragen und die Krumen zu essen, die von deren Tisch fallen.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur