38. Kapitel Ein geistreicher Ausspruch
Die weisen, praktischen, menschenfreundlichen, wohlgenährten Leute, welche die Mugsborougher gewählt hatten, damit sie deren Angelegenheiten verwalteten - oder denen sie dies gestatteten, ohne dass sie gewählt worden waren, fuhren während des ganzen Winters fort, mit dem „Problem" der Arbeitslosigkeit und der Not zu ringen oder vielmehr so zu tun, als rängen sie damit. Sie hielten weiterhin Versammlungen ab, Gerümpelbasare, Vergnügungen und Sondergottesdienste. Sie fuhren fort, die schäbigen, abgelegten Kleidungsstücke und Stiefel sowie die Ernährungsscheine zu verteilen. Die Armen taten ihnen allen so leid, besonders die „lieben kleinen Kinder". Sie unternahmen vielerlei Dinge, um den Kindern zu helfen. Ja, es gab nichts, was sie für die Kinder täten, außer eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund einzuführen. Das wäre gänzlich unangebracht. Es könnte die Eltern von der Wohltätigkeit völlig abhängig machen und das elterliche Verantwortungsgefühl zerstören. Offensichtlich glaubten sie, es sei besser, die Gesundheit und sogar das Leben der „lieben kleinen Kinder" zu zerstören, als die Eltern
von der Wohltätigkeit abhängig zu machen oder das elterliche Verantwortungsgefühl zu untergraben. Diese Leute schienen zu glauben, die Kinder seien das Eigentum ihrer Eltern. Sie hatten nicht genügend Verstand, um zu sehen, dass Kinder in keiner Weise das Eigentum ihrer Eltern sind, sondern das der Gesellschaft. Wenn sie erst mal zu Männern und Frauen herangewachsen sind, so fallen sie der Gesellschaft zur Last, falls sie geistig oder körperlich behindert sind; werden sie Verbrecher, so berauben sie die Gesellschaft; sind sie dagegen gesund, gut erzogen und in guter Umgebung aufgewachsen, so werden sie zu nützlichen Bürgern, die in der Lage sind, nicht nur ihren Eltern, sondern auch der Gesellschaft wertvolle Dienste zu leisten. Deshalb sind Kinder das Eigentum der Gesellschaft, und es ist Aufgabe der Gesellschaft und liegt in deren Interesse, dafür zu sorgen, dass die Gesundheit dieser Kinder nicht durch Hunger untergraben wird. Der Sekretär des örtlichen Gewerkschaftsrats - einer Körperschaft, die aus Delegierten aller Gewerkschaften der Stadt gebildet worden war - schrieb einen Brief, in dem diese Ansicht vertreten wurde, an den „Verdunkler". Er wies nach, dass in ihrer Stadt eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund eine Summe von achthundert Pfund ergäbe, was mehr als genügte, um für alle hungernden Schulkinder Nahrung zu beschaffen. In der nächsten Nummer der Zeitung erschienen mehrere Briefe hervorragender Bürger der Stadt, darunter selbstverständlich auch von Sweater, Rushton, Didlum und Schinder, die sich über den Vorschlag des Gewerkschaftsrats lustig machten und diesen mit den beleidigenden Bezeichnungen „Biertischpolitiker", „trunksüchtige Agitatoren" und dergleichen mehr bedachten. Sie sprachen ihm das Recht ab, als Vertreter der Arbeiter aufzutreten, und Schinder, der mit den Tatsachen vertraut war, da er sich bei Arbeitern erkundigt hatte, erklärte, es gäbe im Ort kaum eine Gewerkschaft, die mehr als ein Dutzend Mitglieder habe, und da Schinders Behauptung den Tatsachen entsprach, konnte der Sekretär nichts darauf entgegnen. Die Arbeiter waren in ihrer Mehrzahl gleichfalls sehr entrüstet, als sie von dem Brief des Gewerkschaftssekretärs hörten; sie sagten, die Steuern seien so schon
hoch genug, und sie verhöhnten ihn, weil er sich erkühnt hatte, überhaupt an die Zeitung zu schreiben.
„Wer, zum Teufel, ist das schon?" sagten sie. „Das ist doch kein Herr! Ist doch man bloß 'n einfacher Arbeiter genau wie wir - 'n ganz gewöhnlicher Tischler! Was zum Kuckuck versteht 'n der davon? Nichts. Will sich bloß aufspielen, das ist alles. Was für 'ne Idee - unsereins und an die Zeitungen schreiben!"
Eines Tages, als Owen nichts Besseres zu tun hatte, betrachtete er einige Bücher, die vor einem Altwarenladen auf einem Tisch zum Verkauf ausgelegt waren. Besonders ein Buch erregte seine Aufmerksamkeit. Mit großem Interesse las er mehrere Seiten darin und bedauerte, dass er die nötigen sechs Pence nicht hatte, um es zu kaufen. Der Titel des Buches hieß: „Die Tuberkulose. Ihre Ursachen und ihre Heilung." Der Autor war ein bekannter Arzt, der dem Studium dieser Krankheit seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Unter anderem enthielt das Buch Regeln für die Ernährung schwächlicher Kinder, und es standen auch mehrere Beispiele einer Diät darin, die einzuhalten den an dieser Krankheit leidenden Erwachsenen empfohlen wurde. Einer dieser Speisezettel belustigte Owen sehr, denn was die meisten der an Tuberkulose leidenden Menschen betraf, so hätte der brave Doktor ebenso gut auch eine Fahrt auf den Mond verschreiben können:
„Des Morgens gleich nach dem Erwachen ein Viertelliter Milch - heiß, wenn möglich - mit einem Scheibchen Butterbrot.
Zum Frühstück: Ein Viertelliter Milch mit Kaffee, Kakao oder Hafermehl; Eier mit Speck, Butterbrot oder trockenem Toast.
Um 11 Uhr: Ein Viertelliter Milch mit einem darin verquirlten Ei oder Fleischbrühe und Butterbrot.
Um 13 Uhr: Ein Viertelliter warme Milch mit Zwieback oder einem belegten Brot.
Um 14 Uhr: Fisch und Hammelbraten oder ein Hammelkotelett mit möglichst viel Fett, Geflügel, Wildbret usw.; hierzu evtl. Gemüse und Milchpudding.
Um 17 Uhr: Heiße Milch mit Kaffee oder Kakao, Butterbrot, Brunnenkresse usw.
Um 18 Uhr: Ein Viertelliter Milch mit Hafermehl oder Kakao, Kleberbrot oder zwei weich gekochte Eier mit Butterbrot.
Vor dem Zubettgehen: Ein Glas warme Milch.
Während der Nacht empfiehlt es sich, für den Patienten ein Glas Milch mit einem Zwieback oder einer Scheibe Butterbrot neben das Bett zu stellen und es im Falle des Erwachens zu essen."
Während Owen in diesem Buch las, unterhielten sich Crass, Harlow, Philpot und Easton auf der anderen Straßenseite miteinander, und nach einer Weile bemerkte Crass Owen. Sie hatten über den Brief des Sekretärs wegen der Steuer von einem halben Penny gesprochen, und da Owen Mitglied des Gewerkschaftsrats war, schlug Crass vor, hinüberzugehen und ihn deshalb anzusprechen.
„Wie hoch ist dein Haus besteuert?" fragte Owen, nachdem er Crass' Einwänden etwa eine Viertelstunde lang zugehört hatte.
„Vierzehn Pfund", erwiderte Crass.
„Das bedeutet, du hättest sieben Pence im Jahr zu zahlen, wenn wir die Steuer von einem halben Penny pro Pfund einführten. Wäre es dir nicht sieben Pence im Jahr wert, zu wissen, dass es in der Stadt keine hungernden Kinder gibt?"
„Warum soll ich 'n dabei helfen müssen, die Kinder von 'nem Mann zu ernähren, der zu faul zum Arbeiten ist oder sein ganzes Geld für den Suff ausgibt?" schrie Crass. „Was willste 'n mit so einem machen?"
„Wenn die Kinder eines solchen Mannes hungern, sollten wir ihnen zuerst zu essen geben und ihn dann hinterher bestrafen."
„Die Steuern sind so schon hoch genug", brummte Harlow, der selbst vier Kinder hatte.
„Das ist richtig, aber du darfst nicht vergessen, dass die von den Arbeitern gezahlten Steuern augenblicklich vorwiegend zum Nutzen anderer verwendet werden. Gute Straßen werden für Leute instand gehalten, die in Autos und Wagen fahren; der Park und die städtische Musikkapelle werden für die unterhalten, welche Muße haben, sich ihrer zu erfreuen, die Polizei, um das Eigentum von denen zu schützen, die etwas zu verlieren haben, und so weiter. Zahlen wir aber diese Steuer, so werden wir für unser Geld auch etwas erhalten."
„Wir haben auch was von 'ner guten Straße, wenn wir 'nen Karren mit 'ner Ladung Farbe und Leitern schieben müssen", sagte Easton.
„Natürlich", meinte Crass, „und außerdem kommt alles andre den Arbeitern auch zugute, weil das alles Arbeit schafft."
„Na, was mich betrifft", meinte Philpot, „würd's mir nischt ausmachen, meinen Teil zu 'ner Steuer von 'nem halben Penny das Pfund beizutragen, wenn ich auch selber keine Kinder nicht hab."
Die Feindseligkeit, mit der die meisten Arbeiter die vorgeschlagene Steuer ansahen, war fast ebenso groß wie die der „besseren" Leute - der edelgesinnten Menschenfreunde, die stets vor Mitleid mit den „lieben Kleinen" zerflossen, der ekelhaften Heuchler, die vorgaben, es bestehe keine Notwendigkeit, eine Steuer zu erheben, da sie bereit seien. . in Form von Wohltätigkeitsspenden soviel Geld wie erforderlich beizusteuern; die Kinder aber hungerten trotzdem weiter.
„Ekelhafte Heuchler" mag ein hartes Wort scheinen; es war jedoch allgemein bekannt, dass die Mehrzahl der Kinder, welche die Grundschulen der Stadt besuchten, unterernährt waren. Zugestandenermaßen wäre das Geld, das eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund ergeben hätte, mehr als ausreichend gewesen, um allen diesen Kindern täglich eine gute Mahlzeit zu geben. Die Wohltätigkeitskrämer, die angeblich so außerordentliches Mitleid mit den „lieben kleinen Kindern" hatten, widersetzten sich dieser Steuer, „weil sie für die ärmeren Steuerzahler eine Härte bedeutet hätte", und erklärten, sie seien bereit, mehr Geld in freiwilligen Wohltätigkeitsspenden zu geben, als die Steuer erbracht hätte; die „lieben kleinen Kinder" aber, wie sie diese so gern nannten, gingen trotzdem weiterhin hungrig zur Schule.
Urteilte man nach den Versicherungen und nach den Taten dieser Leute, so ergab sich, dass diese gütigen,
freundlichen Menschen bereit waren, alles unter der Sonne für die „lieben kleinen Kinder" zu tun, außer zu erlauben, dass man ihnen zu essen gab.
Hätten diese Leute wirklich tun wollen, was sie behaupteten, so wäre es ihnen gleichgültig gewesen, ob sie das Geld dem Steuereinnehmer oder dem Sekretär eines Wohltätigkeitsvereins zahlten, und sie hätten vorgezogen, ihr Ziel auf eine möglichst wirksame und billige Art zu erreichen.
Doch obgleich sie nicht gestatten wollten, dass die Kinder zu essen erhielten, gingen sie juwelenglitzernd zur Kirche und zur Kapelle, den fetten Leib in reiche Gewänder gehüllt, saßen dort mit selbstzufriedenem Lächeln auf dem Gesicht und hörten den dicken Predigern zu, die aus einem Buch vorlasen, das keiner von diesen verstehen zu können schien, denn sie lasen folgendes:
„Jesus rief ein Kind zu sich und stellete es mitten unter sie und sprach: ... Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.
Sehet zu, dass ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel."
Und ferner: „Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet...
Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig oder als einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan."
Das waren die Worte, welche die ungläubigen Prediger in den Tempeln der Ungläubigen ihren reich gekleideten
ungläubigen Gemeinden vorplapperten, die hörten, aber nicht verstanden, denn ihre Herzen waren hart geworden und ihre Ohren taub. Und inzwischen wurden rings um sie her in den Gassen und Elendsvierteln und - schlimmer noch, da es verborgener war - in den besseren Straßen, wo die ehrbaren, qualifizierten Facharbeiter wohnten, aus Mangel an ausreichender Kost die kleinen Kinder täglich magerer und blasser, und sie gingen früh zu Bett, da kein Feuer brannte.
Sir Raffall von Einfriedland, der Parlamentsabgeordnete für den Wahlkreis, war einer der erbittertsten Gegner der Steuer von einem halben Penny pro Pfund; da er aber der Meinung war, wahrscheinlich werde bald wieder eine Allgemeine Parlamentswahl stattfinden, und da er wollte, dass die Väter der Kinder auch diesmal für ihn stimmten, war er bereit, auf andere Weise etwas für diese zu tun. Er hatte eine kleine, zehnjährige Tochter, die in dem Monat Geburtstag hatte; daher ließ der gutherzige Baron alle Schulkinder der Stadt zu Ehren dieses Tages mit Tee bewirten. Der wurde in den Klassenräumen serviert, und jedes Kind erhielt eine goldumrandete Karte, auf der ein Bild der kleinen Gastgeberin gedruckt war und in Goldbuchstaben die Worte standen: „Von Deiner kleinen Freundin Honoria von Einfriedland." Am Nachmittag fuhr das kleine Mädchen in Begleitung Sir Raffalls und Lady Einfriedlands mit dem Auto in alle Schulen, in denen der Tee getrunken wurde; der Baron sprach einige Worte, und Honoria hielt jedes Mal eine hübsche kleine Ansprache, die sie für die Gelegenheit eigens einstudiert hatte; sie wurden mit lebhaftem Beifall begrüßt und sehr bewundert. Die Begeisterung beschränkte sich nicht auf die Jungen und Mädchen, denn während drinnen die Reden gehalten wurden, versammelten sich draußen vor dem Eingang geradezu kleine Menschenmengen von erwachsenen Kindern, die das Auto anhimmelten, und wenn die Gesellschaft herauskam, himmelte die Menge auch diese an und konnte die Wohltätigkeit der Herrschaften und ihre schöne Kleidung gar nicht genug bewundern und loben.
Mehrere Wochen lang war jedermann in der Stadt in heller Begeisterimg über diesen Tee - das heißt, jedermann außer einer kläglichen kleinen Minderheit von Sozialisten, die sagten, das sei nichts als ein Bestechungsmanöver und ein Wahltrick gewesen und bringe keinerlei wirklichen Nutzen, und sie fuhren fort, lärmend eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund zu fordern.
Ein gleichfalls nach außen hin einnehmend aussehender Betrug war das „Notstandskomitee". Diese Körperschaft -oder vielmehr diese Leiche, denn es war nicht viel Lebenskraft darin - existierte angeblich zu dem Zweck, für „würdige Fälle" Arbeit zu beschaffen. Es mag verzeihlich erscheinen, wenn jemand der Ansicht ist, ein Mann - gleichgültig, wie auch immer sein Vorleben war -, der willens ist, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten, sei ein „würdiger Fall" - das war indessen offensichtlich nicht die Meinung der Leute, welche die Regeln aufgestellt hatten, nach denen dieses Komitee verfuhr. Jedem, der Arbeit beantragte, wurde sofort eine zeitraubende Beschäftigung gegeben, zu deren Ausübung ihm ein großer Doppelbogen Papier überreicht wurde. Hätte nun das Komitee beabsichtigt, den Antragsteller mit Material zu versorgen, um sich daraus eine angemessene Kopfbedeckung zu fabrizieren, so hätte niemand dem Komitee einen Vorwurf machen können. Auf diese Weise sollte der Doppelbogen jedoch nicht verwendet werden. Er wurde Karteibogen genannt, und drei Seiten waren mit beleidigenden, neugierigen Fragen bedruckt, die nichts mit der Sache zu tun hatten und die Privatangelegenheiten sowie die Vergangenheit des „Falles" betrafen, der Erlaubnis zu erhalten wünschte, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten; und alle diese Fragen mussten sowohl zur Zufriedenheit der Herren von Einfriedland, Schwätzer, Sweater, Rushton, Didlum und Schinder als auch der übrigen Mitglieder des Komitees beantwortet werden, ehe der „Fall" auch nur die geringste Aussicht hatte, eine Arbeit zu bekommen.
Trotz der beleidigenden Natur der Fragen auf dem Antragsbogen hatten im Laufe der fünf Monate, während der das Komitee amtierte, nicht weniger als 1237 geduckte und gedemütigte „Löwenjungen" die Formulare ausgefüllt und so sanftmütig, als seien sie Schafe, die Fragen beantwortet. Die Geldmittel des Komitees bestanden aus fünfhundert Pfund, die es von der Schatzkammer des Königreichs erhalten hatte, und etwa zweihundertfünfzig Pfund aus Wohltätigkeitsspenden. Dieses Geld wurde benutzt, um Löhne für gewisse Arbeiten zu zahlen, von denen einige auch dann hätten ausgeführt werden müssen, wenn das Komitee nie bestanden hätte; und wäre jedem der 1237 Antragsteller der gleiche Anteil Arbeit zugeteilt worden, so hätte der von einem jeden erhaltene Lohn ungefähr zwölf Schilling betragen. Dies war, was die „praktischen", die „Geschäftsleute" „das Problem der Arbeitslosigkeit anpacken" nannten. Man stelle sich vor, seine Familie fünf Monate lang mit zwölf Schilling erhalten zu müssen!
Oder, wenn man will, nehme man einmal an, der von der Regierung bewilligte Betrag sei viermal größer gewesen und die Wohltätigkeitsspenden hätten viermal mehr betragen, als es der Fall war, und dann stelle man sich vor, seine Familie fünf Monate lang mit zwei Pfund acht Schilling erhalten zu müssen!
Es ist wohl richtig, dass einige der Mitglieder des Komitees sehr froh gewesen wären, hätten sie jedem Mann, der zu arbeiten gewillt war, die Gelegenheit vermitteln können, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen; sie wussten jedoch einfach nicht, was sie tun sollten oder wie sie es tun sollten. Die Realität des Übels, das sie angeblich „anpackten", war ihnen nicht unbekannt - furchtbare Beweise standen ihnen ja ringsum gegenüber, und da die Leute dieses Komitees schließlich menschliche Wesen und keine Teufel waren, wären sie sehr froh gewesen, das Übels zu mildern, hätten sie es tun können, ohne sich selbst zu schaden; aber die Wahrheit war, dass sie nicht wussten, was sie machen sollten!
Das sind nun die „praktischen" Leute, die ein Monopol auf die Intelligenz besitzen, die weisen Persönlichkeiten, welche die Angelegenheiten der Welt kontrollieren; gemäß den Ideen solcher Leute werden die Lebensbedingungen der Menschen geregelt. Die Lage ist folgende:
Zugegebenermaßen war es noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit möglich, die lebensnotwendigen Dinge in einem solchen Überfluss zu produzieren wie jetzt.
Die Regelung der Angelegenheiten der Welt - die Aufgabe, die Bedingungen zu ordnen, unter denen wir leben -liegt gegenwärtig in den Händen der praktischen, besonnenen, vernünftigen Geschäftsleute.
Das Ergebnis ihrer Verwaltung ist, dass die Mehrzahl der Menschen einen harten Kampf führen muss, um existieren zu können. Eine große Anzahl von diesen lebt in beständiger Armut; eine noch größere Anzahl befindet sich periodisch am Verhungern; viele sterben tatsächlich vor Not, Hunderte begehen lieber Selbstmord, als noch weiter zu leben und zu leiden.
Fragt man die praktischen, besonnenen, vernünftigen Geschäftsleute, weshalb sie diesen Zustand der Dinge nicht verändern, so antworten sie, sie wüssten nicht, was sie tun sollten - oder, es sei unmöglich, ihn zu verändern!
Und doch gibt man zu, dass es jetzt möglich ist, die lebensnotwendigen Dinge in größerer Fülle herzustellen als jemals zuvor.!
Mit verschwenderischer Güte hat das Höchste Wesen alles bereitgestellt, was für die Existenz und das Glück seiner Geschöpfe notwendig ist. Zu behaupten, dem sei nicht so, hieße, eine lästerliche Lüge aussprechen, es hieße behaupten, das Höchste Wesen sei nicht gütig noch auch nur gerecht. Ringsum gibt es ein überquellendes Zuviel an den für die Herstellung der lebensnotwendigen Dinge notwendigen Rohstoffen, und aus diesen Rohmaterialien kann alles, dessen wir bedürfen, im Überfluss hergestellt werden -durch die Arbeit. Hier nun war eine Armee von Menschen unbeschäftigt, denen es an den Dingen mangelte, die durch die Arbeit hergestellt werden. Sie waren willig zu arbeiten, fähig zu arbeiten, drängten danach, dass man ihnen gestattete zu arbeiten, und die praktischen, besonnenen, vernünftigen Geschäftsleute wussten nicht, was zu tun sei!
Freilich war die wirkliche Ursache der Schwierigkeiten die, dass die Rohstoffe, die zur Benutzung und zum Wohle aller geschaffen wurden, von einer kleinen Anzahl Menschen gestohlen worden sind, die sich dagegen wehren, dass diese Rohstoffe für die Zwecke verwendet werden, für die sie bestimmt sind. Diese zahlenmäßig unbedeutende Minderheit lehnt es ab, der Mehrheit zu erlauben, dass diese arbeitet und die Dinge produziert, die sie braucht - und das bisschen Arbeit, das auszuführen diese Minderheit gnädigst gestattet, wird nicht mit dem Ziel geleistet, für die Arbeitenden die lebensnotwendigen Dinge zu produzieren, sondern zu dem Zweck, für deren Herren Profite zu schaffen.
Und, was das Merkwürdigste ist: anstatt zu versuchen, die Ursachen ihres Elends zu ergründen und selbst ein Heilmittel dagegen ausfindig zu machen, verbringen die Leute, die so schwer kämpfen müssen, um überhaupt existieren zu können, oder die in schrecklicher Armut leben und zuweilen sogar am Verhungern sind, ihre gesamte Zeit damit, den praktischen, vernünftigen, besonnenen Geschäftsleuten, die ihre Angelegenheiten verpfuschen und schlecht verwalten, Beifall zu spenden, und sie bezahlen den Herren dafür noch große Gehälter. Sir Raffall von Einfriedland zum Beispiel war „Staatssekretär" und erhielt fünftausend Pfund im Jahr. Zuerst, als er diesen Posten erhielt, betrug seine Bezahlung nur den Bettellohn von zweitausend Pfund; da er es jedoch unmöglich fand, mit weniger als hundert Pfund in der Woche auszukommen, beschloss er, sein Gehalt auf jenen Betrag zu erhöhen; die törichten Leute, die so hart kämpfen müssen, um überhaupt existieren zu können, bezahlten das bereitwillig, und als sie das prachtvolle Auto, die wundervollen Kleider und die herrlichen Juwelen sahen, die er seiner Frau mit diesem Geld gekauft hatte, und als sie die „großartige Rede" hörten, die er hielt - worin er ihnen erzählte, die Knappheit an allen Dingen werde durch die Überproduktion und die ausländische Konkurrenz verursacht -, klatschten sie in die Hände und rasten vor Bewunderung!
Das einzige, was sie bedauerten, war, dass keine Pferde vor das Auto gespannt waren; denn wäre das der Fall gewesen, so hätten sie die losmachen und sich selbst davorspannen können.
Nichts entzückte die kindlichen Gemüter dieser armen Menschen mehr, als einer Rede so eines Mannes zu lauschen oder Auszüge daraus zu lesen; zu ihrer Unterhaltung hielt deshalb hin und wieder einer der großen Staatsmänner inmitten all des Jammers eine „prachtvolle Rede" voller trügerischer Phrasen, die dazu bestimmt waren, die Narren, die ihn gewählt hatten, an der Nase herumzuführen. In derselben Woche, in der Sir Raffalls Gehalt auf fünftausend Pfund jährlich erhöht wurde, waren alle Zeitungen voll von einer glänzenden Rede, die er gehalten hatte. Sie erschienen mit großen Schlagzeilen wie der folgenden:
PRACHTVOLLE REDE
SIR RAFFALLS VON EINFRIEDLAND
SEHR GEISTREICHER AUSSPRUCH!
Keiner sollte mehr haben, als er braucht, solange
noch irgend jemand weniger hat, als er braucht!
Niemandem schien die Heuchelei eines solchen Ausspruchs im Munde eines Mannes aufzufallen, der fünftausend Pfund im Jahr bezog. Im Gegenteil, die gedungenen Schreiberlinge der kapitalistischen Presse füllten ganze Spalten mit Worten der Bewunderung für dieses elende Gewäsch, und die Arbeiter, die den Mann gewählt hatten, waren hingerissen von diesem „geistreichen Ausspruch", als sei er etwas Gutes zu essen. Sie schnitten ihn aus der Zeitung und trugen ihn mit sich herum; sie zeigten ihn einander und wiederholten ihn sich gegenseitig, sie bewunderten ihn und waren entzückt darüber, sie grinsten einander an und schnatterten einer mit dem anderen im Überschwang ihrer schwachsinnigen Begeisterung.
Das Notstandskomitee war nicht die einzige Körperschaft, die so tat, als „packe" sie das „Problem" der Armut an; es wurde in seinen Bemühungen von allen übrigen bereits erwähnten Unternehmungen ergänzt - dem Arbeitshof, den Gerümpelverkäufen, dem Wohltätigkeitsverein und dergleichen mehr, von einem äußerst menschenfreundlichen Plan ganz zu schweigen, den die Direktion des Warenhauses Sweater ersonnen hatte: durch einen in der Presse des Ortes veröffentlichten Brief gab sie bekannt, sie sei bereit, eine Woche lang fünfzig Mann gegen eine Bezahlung von einem Schilling und einem halben Laib Brot pro Tag damit zu beschäftigen, Plakatschilder umherzutragen.
Sie erhielt die Leute: einige ungelernte Arbeiter, ein paar alte, verbrauchte Arbeiter, die das Elend des letzten Restes an Stolz oder Scham beraubt hatte, eine Anzahl von Trunkenbolden und gewohnheitsmäßigen Herumtreibern sowie eine nicht näher zu beschreibende Menge armer, zerlumpter alter Männer - ehemalige Soldaten und Leute, von denen man unmöglich hätte sagen können, was sie einstmals gewesen waren.
Die Prozession der Plakatträger wurde von dem Halbbetrunkenen und dem benebelten Tropf angeführt, und jedes der Schilder, das sie trugen, war mit einem großen gedruckten Plakat beklebt, auf dem es hieß: „Im Kaufhaus Adam Sweater augenblicklich großer Ausverkauf von Damenblusen."
Neben diesem scharfsinnigen Plan Sweaters, billig zu einer guten Reklame zu kommen, wurden noch zahlreiche andere Projekte zur Arbeitsbeschaffung oder zur Linderung des herrschenden Elends in den Spalten der Zeitungen des Ortes und in den verschiedenen Versammlungen erwogen, die abgehalten wurden. Mit Sicherheit fand jeder törichte, dumme, nutzlose Vorschlag achtungsvolle Aufmerksamkeit; jeder schlaue, von diesem oder jenem aus der Bande von Ausbeutern und Grundherren, welche die Stadt beherrschten, zu dessen eigenem Nutzen und Profit erdachte Plan wurde mit Gewissheit von den übrigen Einwohnern Mugsboroughs gutgeheißen, die in der Mehrzahl Menschen von schwachem Verstand waren und nicht nur zuließen, dass sie von einigen gerissenen Gaunern ausgeplündert und ausgebeutet wurden, sondern diese dafür auch noch verehrten und mit Beifall bedachten. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |