21. Kapitel Die Schreckensherrschaft. Der große Geldtrick
Während der nächsten vier Wochen dauerte in der „Höhle" die übliche Schreckensherrschaft an. Unter der aufmerksamen Bewachung von Crass, Elend und Rushton schufteten die Männer, als seien sie Sträflinge. Keiner fühlte sich auch nur einen einzigen Augenblick lang unbeobachtet. Oft geschah es, dass ein Mann, der - wie er glaubte - allein arbeitete, sich umwandte und Hunter oder Rushton hinter sich stehen sah; oder wenn einer von der Arbeit aufblickte, gewahrte er ein Gesicht, das ihn durch
eine Tür, ein Fenster oder über das Geländer hinweg beobachtete. Arbeiteten sie in einem Zimmer im Erdgeschoß oder, gleichgültig in welchem Stockwerk, an einem Fenster so waren sie sich bewusst, dass sowohl Rushton wie Hunter die Gewohnheit hatte, sich zwischen den Bäumen, die das Haus umgaben, zu verstecken und sie auf diese Art zu bespitzeln.
Draußen arbeitete ein Klempner, der die rings um die untere Dachkante laufende Regenrinne reparierte. Das Leben dieses armen Teufels war eine wahre Qual: er lebte in dem Wahn, Hunter oder Rushton in jedem Busch versteckt zu sehen. Er arbeitete von zwei Leitern aus, und seit diese in Gebrauch waren, hatte sich Elend etwas Neues ausgedacht, um die Leute zu bespitzeln. Da er feststellte, dass es ihm niemals gelang, irgend jemand bei etwas Verbotenem zu erwischen, solange er das Haus durch eine der Türen betrat, wandte er nun die Taktik an, eine der Leitern hinaufzuklettern, durch eines der oberen Fenster einzusteigen, sich leise die Treppen hinabzustehlen und in die Zimmer hinein- und wieder herauszuschleichen. Selbst so erwischte er niemals jemand, aber das schadete nichts, denn sein Hauptziel erreichte er doch - jedermann schien sich zu fürchten, auch nur einen Augenblick lang die Arbeit zu unterbrechen.
Das Ergebnis all dessen war natürlich, dass diese sich schnell ihrem Ende näherte. Die Arbeiter brummten und fluchten; trotzdem aber legte sich jeder von ihnen ins Zeug, sosehr er nur konnte. Crass selbst leistete zwar fast nichts, überwachte jedoch die anderen und trieb sie an. Er war mit der Aufsicht über die Arbeit betraut, und er wusste: gelang es ihm nicht, dafür zu sorgen, dass sich die Arbeit bezahlt machte, so würde man ihn nie mehr mit einer Aufsicht betrauen. Sorgte er aber dafür, dass sie sich bezahlt machte, so wurde er den anderen vorgezogen und von der Firma gehalten, solange sie Arbeit hatte. Nur so lange aber zog ihn die Firma den anderen vor, wie es sich für sie bezahlt machte.
Was die Arbeiter betraf, so wusste ein jeder von ihnen, dass keine Aussicht bestand, gegenwärtig irgendwo anders Arbeit zu finden; Dutzende waren bereits arbeitslos. Und selbst wenn es irgendwo anders Aussicht auf Beschäftigung für sie gegeben hätte, wussten sie doch, dass die Arbeitsbedingungen bei allen Firmen mehr oder weniger die gleichen waren. Bei manchen war es sogar noch schlimmer als frier. Jeder Arbeiter war sich darüber klar, dass Crass ihn als Bummler melden würde, falls er nicht sein Äußerstes hergab. Sie wussten auch, dass die Anzahl der beschäftigten Leute eingeschränkt wurde, sobald sich die Arbeit ihrem Ende näherte, und wenn es so weit war, wurden diejenigen Arbeiter behalten, die am meisten schafften, und wer langsamer war, wurde entlassen. Jeder von ihnen hoffte, einer der Bevorzugten zu sein, und während er im stillen die übrigen verwünschte, weil sie sich so ins Zeug legten, legte er sich aus Gründen der Selbsterhaltung seinerseits ins Zeug.
Alle verfluchten Crass, dabei wären die meisten von ihnen froh gewesen, mit ihm zu tauschen, und hätte einer von ihnen tatsächlich dessen Platz eingenommen, so wäre er gezwungen gewesen, entweder ebenso zu handeln wie Crass - oder aber seine Stellung zu verlieren.
Alle schimpften auf Hunter, aber die meisten hätten auch mit ihm getauscht, und hätte wirklich einer dessen Stelle eingenommen, so wäre er gezwungen gewesen, entweder das gleiche zu tun wie Hunter oder aber seine Stellung zu verlieren.
Alle hassten und beschuldigten Rushton. Doch hätten sie dessen Stelle eingenommen, so wären sie gezwungen gewesen, die gleichen Methoden anzuwenden wie er oder aber Bankrott zu machen; denn es ist offensichtlich, dass der einzige Weg, gegen andere Unternehmer, die Blutsauger sind, erfolgreich zu konkurrieren, der ist, selbst ein Blutsauger zu werden. Deshalb kann kein Anhänger des gegenwärtigen Systems, wenn er konsequent ist, irgendeinem dieser Männer die Schuld geben. Gebt dem System die Schuld!
Wärest du, lieber Leser, einer der Arbeiter gewesen -hättest du dann langsamer gearbeitet? Hättest du vielleicht vorgezogen, zu verhungern und zuzusehen, wie deine Familie verhungert? Und hättest du an Crass' Stelle etwa lieber gekündigt, als eine so schmutzige Arbeit verrichtet? Und hättest du auf Hunters Stellung vielleicht verzichtet, und wärest du freiwillig auf die Stufe der einfachen Arbeiter hinabgestiegen? Und hättest du in Rushtons Haut lieber Bankrott gemacht, als deine Arbeiter und deine Kunden in der gleichen Weise behandelt, wie deine Konkurrenten die ihren behandelten? Vielleicht hättest du - als edles Vorbild, das du bist - in einem solchen Falle selbstlos gehandelt. Niemand aber hat ein Recht, von dir zu erwarten, du sollest dich zum Wohle anderer Leute opfern, die dich doch für alle deine Mühe nur einen Narren nennen.
Es mag wahr sein, dass jeder der Arbeiter - Owen zum Beispiel -, wäre er Unternehmer gewesen, das gleiche getan hätte wie andere Unternehmer. Manche Leute scheinen zu glauben, das beweise die Richtigkeit des gegenwärtigen Systems! In Wirklichkeit beweist das jedoch nur, dass das gegenwärtige System zur Eigensucht zwingt. Man muss entweder auf anderen herumtreten, oder es wird auf einem selbst herumgetreten. Zwar besteht eine Möglichkeit des Glücks, wenn alle selbstlos wären, wenn ein jeder an das Wohl des Nachbarn dächte, ehe er an seines denkt. Da es jedoch auf der Welt nur eine geringe Anzahl derartig selbstloser Menschen gibt, hat das gegenwärtige System die Erde zu einer Art Hölle gemacht. Unter dem gegenwärtigen System gibt es von allem nicht genügend, damit ein jeder alles ausreichend bekommt. Infolgedessen findet ein Kampf statt - die Christen nennen ihn den „Kampf ums Dasein". In diesem Kampf erhalten einige mehr, als sie brauchen, einige kaum genügend, einige sehr wenig und einige überhaupt nichts. Je aggressiver, listiger, hartgesottener und selbstsüchtiger man ist, um so besser wird es einem gehen. Solange dieses System des „Kampfes ums Dasein" anhält, haben wir kein Recht, anderen Menschen den Vorwurf zu machen, dass sie die gleichen Dinge tun, zu denen wir selbst gezwungen sind. Gebt dem System die Schuld!
Aber genau das war es, was die Arbeiter nicht taten. Sie gaben einander die Schuld, sie gaben Crass, sie gaben Hunter und Rushton die Schuld, aber mit dem großartigen System, zu dessen Opfern sie mehr oder minder alle zählten, waren sie ganz zufrieden, da sie überzeugt waren, es sei die einzig mögliche und die beste Ordnung, welche menschliche Weisheit ersinnen konnte. Der Grund, weshalb alle das glaubten, war, dass sich kein einziger von ihnen jemals die Mühe gemacht hatte zu fragen, ob es nicht möglich wäre, die Dinge anders einzurichten. Sie waren mit dem gegenwärtigen System zufrieden. Wären sie nicht zufrieden gewesen, so hätten sie den Wunsch gehabt, einen Weg zu seiner Veränderung zu finden. Sie hatten sich aber niemals darum bemüht, ernsthaft zu untersuchen, ob es möglich war, einen besseren Weg zu finden, und obgleich alle auf eine nebelhafte Weise wussten, dass bereits Vorschläge gemacht worden waren, wie man die Ordnung auf der Welt nach anderen Methoden einrichten konnte, unterließen sie es doch, danach zu forschen, ob diese anderen Methoden durchführbar waren und etwas taugten, und stets waren sie bereit und willens, sich mit unwissendem Spott oder brutaler Gewalt gegen einen jeden zu stellen, der töricht oder donquichottisch genug war, zu versuchen, ihnen die Einzelheiten von dem, was er für einen besseren Weg hielt, zu erklären. Sie nahmen das gegenwärtige System auf die gleiche Weise hin, auf die sie den Wechsel der Jahreszeiten hinnahmen. Sie wussten, dass es Frühling und Sommer, Herbst und Winter gab. Davon, wie diese verschiedenen Jahreszeiten zustande kamen oder was sie verursachte, hatten sie nicht die geringste Ahnung, und es ist sehr zweifelhaft, ob eine solche Frage auch nur einem von ihnen jemals in den Sinn gekommen war; gewiss aber ist, dass nicht einer von ihnen die Antwort wusste. Von Kindheit an waren sie dazu erzogen worden, ihrem eigenen Verstand zu misstrauen und die Verwaltung aller Angelegenheiten dieser Welt - und was das betraf, auch die der anderen Welt - den „besseren Leuten" zu überlassen; daher waren nun die meisten unter ihnen völlig unfähig, über irgendeine abstrakte Sache nachzudenken. Fast alle „besseren Leute" - das heißt, die Leute, die nichts ton - stimmten darin überein, das gegenwärtige System sei ein sehr gutes, und es sei unmöglich, es abzuändern oder zu verbessern. Daher nahmen es Crass und seine Kollegen, obgleich sie selbst nicht das geringste darüber wussten, als eine erwiesene, unumstößliche Tatsache hin, dass der bestehende Zustand der Dinge unveränderlich sei. Sie glaub-
ten das, weil es ihnen jemand anders gesagt hatte. Alles hätten sie geglaubt - unter einer Bedingung: nämlich dass einer der „besseren Leute" sie aufgefordert hatte, es zu glauben. Sie meinten, für ihresgleichen schickte es sich gewiss nicht zu glauben, sie wüssten es besser als Leute, die gebildeter waren als sie und genügend Zeit hatten zum Studieren.
Als die Arbeit im Salon voranging, gab Crass die Hoffnung auf, Owen werde sie versauen. Da einige der Zimmer im Obergeschoß zum Tapezieren fertig waren, musste Slyme jetzt mit dieser Arbeit beginnen, und Bert wurde Owen weggenommen, um Slyme beim Leimaufstreichen zu assistieren; dabei wurde abgemacht, Crass solle Owen helfen, sooft dieser jemand brauchte, ihm zur Hand zu gehen.
Häufig kam Sweater während dieser vier Wochen, denn er interessierte sich für den Fortgang der Arbeit. Bei seinen Besuchen richtete es Crass stets so ein, dass er gleichfalls im Salon war, und das Reden besorgte zum größten Teil er. Owen war mit dieser Lösung sehr zufrieden, denn er fühlte sich niemals wohl, wenn er sich mit einem Menschen wie Sweater unterhielt, der in einer beleidigend herablassenden Weise sprach und von gewöhnlichen Menschen verlangte, sich vor ihm zu verneigen und ihn bei jedem zweiten Wort mit „Sir" anzureden. Crass dagegen schien das gern zu tun. Er kroch nicht direkt auf dem Boden vor Sweater, aber es gelang ihm, den Eindruck zu vermitteln, dass er das, wenn gewünscht, gern tun werde.
Draußen hatten Bundy und seine Kameraden tiefe Gräben in dem feuchten Boden ausgehoben und legten Abflussrohre hinein. Wie die Malerarbeiten drinnen im Hause, neigte sich auch diese Arbeit ihrem Ende zu. Es war eine elende Arbeit. Während der letzten Zeit war das Wetter schlecht gewesen, und der Boden hatte sich vom Regen voll gesogen, überall stand Schlamm; Kleidung und Stiefel der Leute waren mit einer dicken Kruste bedeckt. Das Schlimmste aber an der Arbeit war der Geruch. Jahrelang waren die alten Abflussrohre schadhaft und leck gewesen. Einige Fuß tief unter der Oberfläche war der Boden mit fauliger Flüssigkeit gesättigt, und der geöffneten Erde entströmte ein Gestank wie von tausend verwesenden Leichen. Dieser furchtbare Geruch haftete an der Kleidung der Leute, die in den Gräben arbeiteten, und sogar an ihnen selbst.
Sie sagten, sie könnten ihn fortgesetzt riechen und schmecken, sogar fern der Arbeitsstelle, zu Hause und selbst bei den Mahlzeiten. Obgleich sie während der Arbeit ununterbrochen Pfeife rauchten, wozu ihnen Elend widerwillig die Erlaubnis gegeben hatte, erlitten Bundy und ein oder zwei seiner Kameraden mehrmals Brechanfälle.
Als den Leuten bewusst wurde, dass bereits das Ende der Arbeit in Sicht war, wurden sie von einer Art Panik ergriffen, besonders die zuletzt Eingestellten, die ja als erste „aussetzen" mussten. Easton freilich erwartete recht zuversichtlich, Crass werde sich nach Kräften bemühen, ihn zu halten, bis die Arbeit beendet war, denn in letzter Zeit waren sie ganz gute Freunde geworden und verbrachten gewöhnlich jede Woche ein paar Abende gemeinsam in den „Cricketers".
„Jetzt gibt's hier bald 'n lausiges Gemetzel", bemerkte Harlow eines Tages zu Philpot, als sie das Treppengeländer strichen. „Ich nehme an, nächste Woche werden die Innenarbeiten so ziemlich erledigt sein."
„Und draußen wird's nicht sehr lange dauern, weißte", antwortete Philpot.
'ne andre Arbeit haben sie nicht reinbekommen, was?"
„Nicht, dass ich wüsste", erwiderte Philpot düster, „und 'ne andere Firma wird woll auch keine nicht haben."
„Kennste die kleine Bude, die sie ,Kiosk' nennen, unten auf der Großen Paradeallee in der Nähe von der Musikbühne?" fragte Harlow nach einer Pause.
„Wo sie immer Erfrischungen verkauft haben?"
„Ja; die gehört der Gesellschaft, weißte."
„Vor kurzem ist sie zugemacht worden, nicht?"
„Ja. Die Leute, die sie gehabt haben, sind nicht auf ihre Kosten gekommen; aber gestern Abend hab ich gehört, dass der Obsthändler Schinder sie wieder aufmachen will. Wenn das stimmt, wird's dort für jemand 'n bisschen Arbeit geben; sie muss nämlich in Ordnung gebracht werden."
„Na, hoffentlich wird's was", antwortete Philpot. „Das würde für 'n paar arme Hunde Arbeit geben."
„Ob sie wohl schon jemand an die Jalousien von diesem Haus hier gesetzt haben?" bemerkte Harlow nach einer Weile.
„Weiß nicht", antwortete Philpot. Eine Zeitlang schwiegen sie wieder. „Wie spät mag's 'n sein?" sagte Philpot schließlich. „Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich fange an, Kohldampf zu schieben."
„Dachte grade dasselbe; 's kann nicht mehr lange dauern. 's ist schon fast 'ne halbe Stunde her, dass Bert runtergegangen ist, den Tee machen. Der Morgen kommt mir heut furchtbar lang vor."
„Mir auch", sagte Philpot. „Geh mal leise rauf und frag Slyme, wie spät's ist."
Harlow legte seinen Pinsel quer über den Farbtopf und ging nach oben. Er trug Stoffschuhe und trat leise auf, damit Crass nicht hörte, dass er die Arbeit verließ, und so geschah es, dass Harlow, ohne die Absicht, Slyme zu bespitzeln, ungehört die Tür des Zimmers erreichte, in dem dieser arbeitete, und als er unerwartet eintrat, überraschte er Slyme, der beim Kamin stand und eine ganze Rolle Tapete über dem Knie durchbrach, so, wie man etwa einen Stock zerbricht. Neben ihm, auf dem Fußboden, lag, was eine zweite Rolle gewesen war - in zwei Hälften zerbrochen. Bei Harlows Eintritt fuhr Slyme zusammen, und sein Gesicht wurde puterrot vor Verlegenheit. Hastig sammelte er die durchgebrochenen Tapetenrollen auf, bückte sich, stieß die Stücken in den Rauchfang hinauf und schloss die Klappe wieder.
„Was soll 'n das bedeuten?" fragte Harlow. Slyme lachte mit gespielter Sorglosigkeit, doch seine Hände zitterten, und sein Gesicht war jetzt ganz blass.
„Wir müssen doch irgendwie auf unsre Kosten kommen, weißte, Fred", sagte er.
Harlow erwiderte nichts. Er verstand nicht. Nachdem er sich einige Minuten lang den Kopf zerbrochen hatte, gab er es auf.
„Wie spät ist es denn?" fragte er. „Drei Viertel zwölf", antwortete Slyme und fügte, als Harlow fortging, hinzu: „Sag aber wegen dem Papier da nichts zu Crass oder einem von den andren."
Ich sag nichts", erwiderte Harlow.
Als Harlow über die Sache nachgrübelte, begriff er nach und nach, was für einen Sinn die Zerstörung der beiden Rollen Tapete hatte. Slyme tapezierte im Akkord - er erhielt soundso viel für jede geklebte Rolle. Vier Zimmer im Obergeschoß hatten die gleiche Tapete erhalten, und offenbar hatte Hunter, der in solchen Dingen nicht allzu bewandert war, mehr Rollen als nötig geschickt. Wenn Slyme diese beiden Rollen beiseite brachte, konnte er den Anschein erwecken, er habe zwei Rollen mehr geklebt, als tatsächlich der Fall war. Zerbrochen hatte er die Rollen, damit er sie aus dem Haus schaffen konnte, ohne abgefasst zu werden, und im Rauchfang hatte er sie versteckt, um eine günstige Gelegenheit dazu abzuwarten. Gerade war Harlow zu dieser Lösung des Rätsels gekommen, als er unten Treppenstufen knarren hörte; er spähte über das Geländer und sah Elend heraufschleichen. Der kam, um nachzusehen, ob irgend jemand vorzeitig aufgehört hatte zu arbeiten. Schweigend ging er an den beiden Arbeitern vorbei, stieg zur nächsten Etage hinauf und betrat das Zimmer, in dem Slyme arbeitete.
„Machen Sie dies Zimmer lieber noch nicht", sagte Hunter, „'s sollen 'n neuer Rost und 'n neuer Kaminsims gesetzt werden."
Er ging zum Kamin, blieb einige Minuten lang davor stehen und betrachtete ihn nachdenklich.
„Eigentlich gar nicht so übel, der Rost, was?" bemerkte er. „Irgendwo wer'n wir 'n noch mal benutzen können."
„Ja, schlecht ist er nicht", sagte Slyme, dessen Herz wie ein Dampfhammer schlug.
„Für 'n Vorderzimmer in 'nem kleinen Häuschen würd's langen", fuhr Elend fort und bückte sich, um den Rost näher zu betrachten. „Kaputt ist nichts, soweit ich sehe." Er legte die Hand auf die Verschlussklappe und versuchte vergeblich, sie aufzustoßen.
„Hm, hier ist irgendwas nicht in Ordnung", bemerkte er und drückte fester dagegen.
„Ist wahrscheinlich 'n Ziegelstein oder 'n bisschen Putz, der runtergefallen ist", schluckte Slyme und kam herbei, um Elend zu helfen. „Soll ich mal versuchen, sie aufzumachen?"
„Lassen Sie man", antwortete Nimrod und erhob sich. „'s wird schon so sein, wie Sie sagen. Ich werd dafür sorgen, dass der neue Rost nach dem Essen rauf geschickt wird. Bundy kann ihn heut Nachmittag anbringen, und dann können Sie weitertapezieren, sobald Sie wollen."
Damit ging Elend aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zum Hause hinaus. Slyme wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann kniete er nieder, öffnete die Verschlussklappe, holte die zerbrochenen Tapetenrollen heraus und versteckte sie im Rauchfang des Nebenzimmers. Währenddessen schrillte Crass' Pfeife durchs Haus.
„Gott sei's gepfiffen und getrommelt!" rief Philpot inbrünstig aus, während er seine Pinsel über den Farbtopf legte und sich dem allgemeinen Sturm auf die Küche anschloss. Das Bild, das diese bot, ist dem Leser bereits vertraut: als Sitzgelegenheiten die beiden Leitern, im rechten Winkel zum Feuer in etwa zweieinhalb Meter Entfernung und parallel zueinander auf die Seite gelegt, mit dem langen Brett darüber; die umgestülpten Eimer und die Schubladen des Büfetts; der Fußboden ungefegt und voller Schmutz, Papierfetzen, Gipsbrocken, Bleirohrenden und getrocknetem Lehm; in der Mitte der dampfende Eimer mit dem gekochten Tee neben der Sammlung angestoßener Tassen, Marmeladengläser und Kondensmilchbüchsen; und auf den Sitzen die Männer in ihrer schäbigen - ja, in einigen Fällen zerlumpten - Kleidung, die dasaßen, ihr ärmliches Essen verzehrten und Witze rissen.
Ein mitleiderregendes, erstaunliches und gleichzeitig auch ein verächtliches Schauspiel. Mitleiderregend, weil menschliche Wesen gezwungen waren, den größeren Teil ihres Lebens in einer solchen Umgebung zu verbringen, denn man darf nicht vergessen, dass sie den größten Teil ihrer Zeit auf dieser oder jener Arbeitsstelle zubrachten. War „die Höhle" fertig, so gingen sie an eine ähnliche Stelle auf Arbeit, falls sie das Glück hatten, eine solche zu finden. Erstaunlich, da sie zwar wussten, dass sie mehr als ihr Teil bei der Herstellung der lebensnotwendigen und zum Leben angenehmen Dinge leisteten, aber nicht der Ansicht waren, sie hätten ein Recht auf einen angemessenen Anteil der
guten Dinge, die sie schaffen halfen! Und verächtlich, weil sie sich weigerten - obwohl sie ihre Kinder zu dem gleichen Leben der Würdelosigkeit, der Zwangsarbeit und der Entbehrungen verurteilt sahen -, bei der Herbeiführung besserer Zustände zu helfen. Die meisten von ihnen meinten, was gut genug für sie gewesen, sei auch gut genug für ihre Kinder.
Es schien, als betrachteten sie ihre eigenen Kinder mit einer Art Verachtung als Wesen, die nur dazu taugten heranzuwachsen, um Dienstboten für die Kinder von Leuten wie Rushton und Sweater abzugeben. Man darf jedoch nicht vergessen, dass den Arbeitern schon als Kinder Selbstverachtung beigebracht worden war. In den so genannten „christlichen" Schulen, die sie besucht hatten, waren sie gelehrt worden, sich „Leuten, die höhergestellt waren als sie, demütig und ehrfürchtig zu beugen", und jetzt schickten sie tatsächlich ihre Kinder, nun ihrerseits die gleiche entwürdigende Lektion zu lernen. Sie hatten große Hochachtung vor Leuten, die höher standen als sie, und vor deren Kindern, sehr wenig aber vor ihren eigenen Kindern, voreinander und vor sich selbst.
Deshalb saßen sie dort in ihren Lumpen, nahmen ihr ärmliches Essen zu sich, rissen dabei ihre groben Witze, tranken ihren scheußlichen Tee und waren zufrieden! Solange sie reichlich Arbeit und reichlich zu essen - irgend etwas - und die von jemand anders abgelegten Kleidungsstücke anzuziehen hatten, waren sie zufrieden! Stolz waren sie darauf. Sie prahlten damit. Sie waren der festen Überzeugung, dass die guten Dinge des Lebens nicht für „ihresgleichen" oder ihre Kinder bestimmt seien, und versicherten dies einander immer wieder.
„Was ist 'n aus dem Professor geworden?" fragte der Herr auf dem umgestülpten Eimer in der Ecke und meinte damit Owen, der noch nicht von seiner Arbeit heruntergekommen war.
„Vielleicht bereitet er seine Predigt vor", bemerkte Harlow und lachte.
„In der letzten Zeit haben wir überhaupt keinen Vortrag von ihm gehört, seit er in dem Zimmer da arbeitet", bemerkte Easton. „Stimmt's nicht?"
„Na, ein Segen, Mann!" rief Sawkins. „Mir wird übel, wenn ich ihm zuhöre - immer wieder derselbe Kohl!"
„Armer Frank", sagte Harlow. „Regt sich mächtig über alles auf, was?"
„Wenn er so dumm ist!" sagte Bundy. „Ich werd mich verflucht hüten, mich über so 'nen verdammten Schiet zu Tode zu sorgen, wie der's macht."
„Darum sieht er wohl auch so schlecht aus", bemerkte Harlow. „Heut früh ist mir's 'n paar Mal aufgefallen, wie er immerzu gehustet hat."
„Ich dachte, in der letzten Zeit ging's ihm 'n bisschen besser", sagte Philpot, „er kam mir 'n bisschen fröhlicher und glücklicher vor und mehr dazu aufgelegt, mal 'nen Spaß zu machen."
„'n komischer Kauz ist das, was?" meinte Bundy. „An einem Tag ist er ganz vergnügt, singt, macht Witze und erzählt allerhand Geschichten, und am nächsten kannste kaum 'n Wort aus ihm rausbringen."
„Alberner Quatsch ist das", fiel der Mann auf dem Eimer ein. „Wozu soll 'n das gut sein, wenn sich unsereiner den Kopf über Polletik zerbricht?"
„Oh, der Meinung bin ich nicht", antwortete Harlow. „Wir haben ja 's Wahlrecht, und schließlich sind ja wir die Leute, die über alles, was das Land angeht, zu bestimmen haben, da müssen wir also doch wohl 'n bisschen Interesse dafür aufbringen; aber in all diesem sozialistischen Blödsinn, von dem Owen immer redet, kann ich keinen Sinn finden."
„Kann doch keiner", sagte Crass mit höhnischem Gelächter.
„Selbst wenn sie tatsächlich das ganze lausige Geld auf der Welt gleichmäßig an alle austeilen würden", sagte tiefsinnig der Mann auf dem Eimer, „würde's auch nichts helfen! In sechs Monaten wär alles wieder in denselben Händen wie vorher!"
„Natürlich", meinten alle.
„Aber neulich hatte er doch so 'ne Glanzidee, das Geld wär zu überhaupt nichts gut!" bemerkte Easton. „Wisst ihr nicht mehr, dass er sagte, Geld wär die Hauptursache für die Armut?"
„Es ist auch die Hauptursache der Armut", sagte Owen, der in diesem Augenblick eintrat.
„Hurra!" schrie Philpot und gab den Ton an für ein Beifallsgebrüll, in das die übrigen einstimmten. „Der Professor ist angekommen und wird jetzt 'n paar Bemerkungen reden!"
Ein Sturm der Heiterkeit begrüßte diesen Witz.
„Lasst uns doch, in drei Teufels Namen, erst mal unser Mittag essen", flehte Harlow in gespielter Verzweiflung.
Als Owen sich an seinem gewohnten Platz niederließ, nachdem er seine Tasse mit Tee gefüllt hatte, erhob sich Philpot feierlich, blickte in die Runde und sagte:
„Meine sehr verehrten Herren, sowie der Professor fertig ist mit seinem Mittagbrot, wird er mit Ihrer gütigen Erlaubnis seinen berühmten Vortrag halten, betitelt ,Das Geld als Hauptursache für die Pleite', in dem er beweist, dass Geld niemand nichts nützt. Am Schluss des Vortrags wird 'ne Sammlung durchgeführt, um dem Vortragenden 'ne kleine Unterstützung zukommen zu lassen."
Unter lautem Beifall nahm Philpot seinen Platz wieder ein.
Sobald sie gegessen hatten, begannen einige der Leute Anspielungen auf den Vortrag zu machen; Owen aber lachte nur und las weiter in dem Stück Zeitung, aus dem er sein Mittagbrot gewickelt hatte.
Gewöhnlich gingen die meisten der Leute nach dem Mittagessen spazieren; da es aber heute regnete, waren sie entschlossen, wenn möglich, Owen dahin zu bringen, das von Philpot in seinem Namen gegebene Versprechen einzulösen.
„Pfeifen wir'n doch mal aus", sagte Harlow, und sogleich wurde der Vorschlag in die Tat umgesetzt: Johlen und Pfeifen und Miauen erfüllte den Raum, untermischt mit Rufen wie „Pfui" - „Schummel!" - „Betrüger!" - „Unser Geld zurück!" - „Wir haun alles kurz und klein!" und dergleichen mehr.
„Na los!" rief Philpot und legte Owen die Hand auf die Schulter. „Beweis mal, dass Geld die Ursache für die Armut ist.
„Sagen und Beweisen ist eben zweierlei!" höhnte Crass, der ungeduldig auf eine Gelegenheit wartete, den lange zurückgehaltenen Ausschnitt aus dem „Verdunkler" hervorzuziehen.
„Das Geld ist tatsächlich die wahre Ursache der Armut",
sagte Owen.
„Beweis es doch", wiederholte Crass. „Das Geld ist deshalb die Ursache der Armut, weil es das Mittel ist, mit dessen Hilfe diejenigen, die zur Arbeit zu faul, die Arbeiter der Früchte ihres Fleißes berauben."
„Beweis es", sagte Crass.
Langsam faltete Owen das Stück Zeitung zusammen, in dem er gelesen hatte, und steckte es in die Tasche.
„Na, schön", antwortete er, „ich will euch zeigen, wie der große Geldtrick angewandt wird."
Owen öffnete seinen Essenkorb und nahm zwei Scheiben Brot; da sie aber nicht ausreichten, verlangte er, alle, die noch Brot übrig hatten, möchten es ihm geben. Sie reichten ihm mehrere Schnitten, die er zu einem Haufen auf ein sauberes Stück Papier legte, und nachdem er noch von Easton, Harlow und Philpot die Taschenmesser ausgeborgt hatte, mit denen sie ihr Mittagbrot zu schneiden und zu essen pflegten, hielt er folgende Rede:
„Diese Brotscheiben sind die Rohstoffe, die sich zum Gebrauch der Menschheit von Natur aus auf und in der Erde vorfinden; kein menschliches Wesen hat sie gemacht, sondern sie sind vom Großen Geist zum Wohle und zum Unterhalt aller geschaffen worden ebenso wie die Luft und das Sonnenlicht."
„So 'nen guten Redner hab ich schon lange nicht mehr gehört", sagte Harlow und blinzelte den anderen zu.
„Jawoll, Mann", sagte Philpot. „Damit ist doch jeder einverstanden! Das ist so klar wie Kloßbrühe."
„Jetzt bin ich ein Kapitalist", fuhr Owen fort, „oder vielmehr: ich stelle die Grundbesitzer- und Kapitalistenklasse dar. Das heißt, alle diese Rohstoffe gehören mir. Für unsere gegenwärtige Diskussion spielt es keine Rolle, wie sie in meinen Besitz gelangt sind oder ob ich wirklich ein Anrecht darauf habe; wichtig ist jetzt einzig die zu-
gegebene Tatsache, dass alle Rohstoffe, die zur Produktion der lebensnotwendigen Dinge nötig sind, heute der Grundbesitzer- und Kapitalistenklasse gehören. Ich bin diese Klasse: alle die Rohstoffe hier sind mein Eigentum."
„Lässt sich hören", stimmte Philpot zu.
„Ihr drei stellt nun die Arbeiterklasse vor: ihr habt nichts - und was mich betrifft, obgleich ich alle diese Rohstoffe hier habe, sind sie mir zu nichts nütze; was ich brauche, sind die Dinge, die aus diesen Rohstoffen durch Arbeit hergestellt werden können; da ich aber zu faul bin, selbst zu arbeiten, habe ich den Geldtrick erfunden, um euch für mich arbeiten zu lassen. Zuerst muss ich aber erklären, dass ich außer den Rohstoffen noch etwas anderes besitze. Diese drei Messer hier stellen sämtliche Produktionsinstrumente vor: die Fabriken, Werkzeuge, Eisenbahnen und so weiter, ohne die man die lebensnotwendigen Dinge nicht in großen Mengen herstellen kann. Und diese drei Münzen" - damit nahm er drei halbe Pence aus der Tasche - „stellen mein Barkapital vor.
Doch bevor wir weitergehen", unterbrach sich Owen, „ist es äußerst wichtig, dass ihr euch erinnert: ich bin nicht einfach nur ,ein' Kapitalist. Ich stelle die ganze Kapitalistenklasse vor. Ihr seid nicht einfach nur drei Arbeiter -ihr stellt die ganze Arbeiterklasse vor."
„Schon gut, schon gut", sagte Crass ungeduldig, „das haben wir alle kapiert. Mach schon weiter."
Owen zerschnitt nun eine der Brotscheiben in eine Anzahl kleiner Würfel.
„Dies stellt die Gegenstände vor, die mit Hilfe der Maschinen durch die Arbeit aus den Rohstoffen geschaffen werden. Nehmen wir an, drei von diesen Würfeln stellen das Ergebnis einer Arbeitswoche vor. Und nehmen wir mal an, dass für die Arbeit einer Woche ein Pfund bezahlt wird; nehmen wir weiter an, jeder dieser halben Pence ist ein Goldsovereign. Besser könnten wir den Trick ja ausführen, wenn wir richtige Sovereigns hätten, aber ich habe vergessen, welche mitzubringen."
„Ich würd dir ja 'n paar leihen", sagte Philpot bedauernd, „aber ich hab mein Portjuchhe zu Haus auf dem Flügel liegenlassen."
Da durch einen merkwürdigen Zufall gerade niemand Goldstücke bei sich hatte, wurde beschlossen, mit den Halbpennystücken vorliebzunehmen.
„Der Trick wird also auf folgende Weise angewandt..." „Eh du weitermachst", unterbrach Philpot besorgt „glaubste nicht, wir stellen lieber jemand als Wache ans Tor, falls 'n Bulle kommt? Wir wolln schließlich nicht eingelocht werden, weißte."
„Ich glaube nicht, dass es nötig ist", antwortete Owen „es gibt nur einen Polizisten, der uns dabei stören würde dieses Spiel zu spielen, und das ist Wachtmeister Sozialismus."
„Lass man 'n Sozialismus beiseite", sagte Crass gereizt. „Mach weiter mit dem verdammten Trick."
Owen wandte sich nun an die Arbeiterklasse, dargestellt von Philpot, Harlow und Easton.
„Ihr sagt, ihr alle braucht Beschäftigung, und da ich die gutherzige Kapitalistenklasse bin, werde ich mein gesamtes Geld in verschiedene Industrien investieren, damit ihr reichlich Arbeit habt. Jedem von euch zahle ich ein Pfund die Woche, und die Arbeit für eine Woche ist: ihr müsst jeder drei von diesen Würfeln produzieren. Dafür, dass ihr diese Arbeit macht, bekommt ihr euren Lohn; das Geld gehört euch, und ihr könnt damit tun, was ihr wollt; die Dinge, die ihr produziert, gehören natürlich mir, und ich kann damit tun, was ich will. Jeder von euch nimmt nun eine dieser Maschinen, und sobald ihr die Arbeit einer Woche geleistet habt, bekommt ihr euer Geld."
Die Arbeiterklasse machte sich also ans Werk, und die Kapitalistenklasse setzte sich hin und sah zu. Sobald die drei fertig waren, reichten sie Owen die neun kleinen Würfel; er legte diese auf ein Stück Papier neben sich und zahlte den Arbeitern ihren Lohn aus.
„Diese Würfel hier stellen die lebensnotwendigen Dinge vor. Ohne einige davon zu haben, könnt ihr nicht leben, aber da sie mir gehören, müsst ihr sie mir abkaufen; der Preis, den ich für diese Würfel verlange, ist ein Pfund das Stück."
Da die Arbeiterklasse die lebensnotwendigen Dinge brauchte und das nutzlose Geld weder essen, trinken noch sich darin kleiden konnte, war sie gezwungen, auf die Bedingungen der freundlichen Kapitalistenklasse einzugehen. Jeder der Arbeiter kaufte ein Drittel seines Arbeitsproduktes zurück und verzehrte es sogleich. Die Kapitalistenklasse verschlang ebenfalls zwei Würfel, und das Nettoergebnis der Arbeitswoche war also, dass der gutherzige Kapitalist einen zwei Pfund werten Teil der Waren verzehrt hatte, welche die Arbeit der anderen geschaffen hatte, und berechnete man die Würfel zu ihrem Marktpreis von einem Pfund das Stück, so hatte er sein Kapital mehr als verdoppelt, denn er besaß noch immer seine drei Pfund in Bargeld und dazu noch Waren im Werte von vier Pfund. Was die Arbeiterklasse betraf, Philpot, Harlow und Easton, so war sie, nachdem die lebensnotwendigen Dinge im Werte von einem Pfund, die sie mit ihrem Lohn gekauft hatte, verzehrt waren, wieder in genau der gleichen Lage wie zu Beginn ihrer Arbeit - sie hatte nichts.
Dieser Prozess wurde mehrmals wiederholt: für die Arbeit jeder Woche erhielten die Produzenten ihren Lohn ausgezahlt. Sie fuhren fort zu arbeiten und ihren gesamten Verdienst auszugeben. Der gutherzige Kapitalist verzehrte doppelt soviel wie jeder von ihnen, und der Berg seiner Reichtümer wuchs ständig. Nach einem kleinen Weilchen besaß er - die kleinen Würfel zu ihrem Marktpreis von einem Pfund das Stück gerechnet - ein Vermögen von etwa hundert Pfund, und die Arbeiterklasse befand sich noch in der gleichen Lage wie zu Beginn und legte sich noch immer ins Zeug, als hinge ihr Leben davon ab.
Nach einer Weile begannen die übrigen zu lachen, und ihre Belustigung steigerte sich noch, als der gutherzige Kapitalist, gerade nachdem er jedem seiner drei Arbeiter für ein Pfund lebensnotwendige Dinge verkauft hatte, ihnen plötzlich ihr Werkzeug wegnahm - die Produktionsinstrumente: die Messer - und ihnen mitteilte, infolge der Überproduktion seien alle seine Warenhäuser mit lebensnotwendigen Dingen voll gestopft, und er habe beschlossen, das Werk stillzulegen.
»Ja, was zum Teufel soll'n wir 'n jetzt machen?" fragte Philpot.
„Das geht mich nichts an", antwortete der gutherzige Kapitalist. „Ich hab euch euren Lohn gezahlt und euch lange Zeit hindurch reichlich mit Arbeit versorgt. Gegenwärtig habe ich keine mehr für euch. Kommt in ein paar Monaten wieder mal vorbei, dann werde ich sehen, was sich machen lässt."
„Aber wie steht's mit den lebensnotwendigen Dingen?" fragte Harlow. „Wir müssen doch was zu essen haben."
„Natürlich müsst ihr das", antwortete liebenswürdig der Kapitalist, „und ich will euch sehr gern etwas verkaufen."
„Aber, verflucht noch mal, wir haben doch kein Geld!"
„Nun, ihr könnt doch nicht von mir verlangen, dass ich euch meine Waren umsonst gebe! Ihr habt doch auch nicht umsonst für mich gearbeitet. Ich habe euch für eure Arbeit bezahlt, und ihr hättet etwas sparen sollen, ihr hättet haushalten sollen wie ich. Seht nur, wie ich vorangekommen bin, weil ich sparsam war!"
Verdutzt sahen die Arbeitslosen einander an, aber die übrigen lachten nur, und nun begannen die drei Arbeitslosen den gutherzigen Kapitalisten zu beschimpfen und verlangten, er solle ihnen einige von den lebensnotwendigen Dingen geben, die er in seinem Warenhaus aufgestapelt hatte, oder aber sie arbeiten und für ihre eigenen Bedürfnisse weiterproduzieren lassen; sie drohten sogar, sich mit Gewalt etwas zu nehmen, wenn er ihre Forderungen nicht erfülle. Doch der gutherzige Kapitalist meinte, sie sollten nicht unverschämt werden, und redete über Ehrlichkeit; er sagte, wenn sie sich nicht in acht nähmen, werde er ihnen durch die Polizei die Köpfe einschlagen lassen oder, wenn nötig, das Militär rufen und sie wie Hunde niederschießen lassen, genau wie er es bereits in Featherstone und Belfast getan habe.
„Freilich", fuhr der gutherzige Kapitalist fort, „wenn die ausländische Konkurrenz nicht wäre, könnte ich all die Dinge verkaufen, die ihr hergestellt habt, und dann wäre ich in der Lage, euch wieder reichlich Arbeit zu geben - aber bis ich sie an irgend jemand verkauft oder selbst aufgebraucht habe, werdet ihr feiern müssen."
„Ja, das ist doch wirklich die Höhe, Himmeldonnerwetter noch mal", sagte Harlow.
„Soweit ich sehe", sagte Philpot trauernd, „ist das einzige, was da zu tun ist, 'ne Arbeitslosendemonstration abhalten."
„Das ist 'ne Idee", meinte Harlow, und die drei begannen im Gänsemarsch rings um die Küche zu stapfen und zu singen:
„Wir haben nichts zu tu-u-un!
Wir haben nichts zu tu-u-un!
Nur weil wir zuviel geschuftet haben,
haben wir jetzt nichts zu tu-u-un!"
Während sie im Kreis herummarschierten, verhöhnte sie die Zuschauermenge und machte beleidigende Bemerkungen. Crass sagte, jeder könne sehen, dass sie ein Haufen fauler, versoffener Nichtstuer seien, die in ihrem Leben noch nicht richtig gearbeitet und auch gar keine Absicht hätten, das jemals zu tun.
„Auf die Weise wer'n wir nie was bekommen, wisst ihr", sagte Philpot. „Versuchen wir's mal auf die religiöse Masche."
„Na, gut", stimmte Harlow zu, „was woll'n wir ihnen denn vorsetzen?"
„Ich weiß!" rief Philpot, nachdem er einen Augenblick lang überlegt hatte. „,Lass mein Lichtlein brennen.' Das bringt sie immer dazu, was rauszurücken."
Die drei Arbeitslosen nahmen also ihren Marsch um die Küche wieder auf und sangen wehleidig, das übliche Jammern der Straßensänger nachahmend:
„O Brüder, euer Lichtlein putzet,
denn draußen in des Sturmes To-o-sen
vielleicht in schlimmer Seenot nu-u-tzet
es einem einsamen Matrosen,
der nach dem Hafen strebt verzwei-ei-felt.
Darum, ach, lasst mein Lichtlein brennen
und senden übers Meer den Schein,
denn einem schiffbrüchigen Seemann
es Trost und Rettung wohl mag sein."
„Werte Freunde", sagte Philpot, nahm die Mütze ab und wandte sich an die Anwesenden, „wir sind lauter ehrliche britische Arbeiter, aber von wegen der ausländischen Konkurrenz und der Überproduktion haben wir die letzten zwanzig Jahre keine Arbeit nicht gehabt. Wir kommen nicht deswegen hier raus, weil wir etwa zu faul zum Arbeiten sind, sondern weil wir keine Arbeit nicht kriegen können. Wenn die ausländische Konkurrenz nicht wär, könnten die gutherzigen englischen Kapitalisten ihre Waren verkaufen und uns reichlich Arbeit geben, und wenn sie das könnten, so versichere ich euch, würden wir alle froh und glücklich sein und uns für das Wohl unsrer Herren bis ans Ende unsrer Tage die Finger blutig schuften. Wir sind durchaus bereit zu arbeiten, weiter wolln wir ja nichts - bloß reichlich Arbeit; aber weil wir sie nicht kriegen können, sind wir gezwungen, hier rauszukommen und euch zu bitten, für 'nen Kanten Brot und 'n Nachtquartier 'n paar Kupfermünzen zu spenden."
Als Philpot seine Mütze nach milden Gaben ausstreckte, versuchten einige hineinzuspucken, aber die mitleidigeren unter den Zuschauern legten nur Schlackestückchen oder Schmutz vom Fußboden hinein, und der gutherzige Kapitalist war vom Anblick ihres Elends so ergriffen, dass er ihnen einen der Goldsovereigns aus seiner Tasche schenkte; da der ihnen aber nichts nützte, tauschten sie die Münze gegen einen kleinen Würfel der lebensnotwendigen Dinge sogleich wieder bei ihm ein, teilten den Würfel unter sich und verschlangen ihn gierig. Und als sie fertig gegessen hatten, versammelten sie sich um ihren Wohltäter und sangen „Hoch soll er leben", und danach schlug Harlow vor, ihn zu fragen, ob sie ihn nicht ins Parlament wählen dürften. |
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