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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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31. Kapitel Die Briganten halten Kriegsrat ab

Da man sich augenblicklich in der Jahreszeit befand welche „die festliche" genannt wird - vielleicht, weil während dieser Zeit mehr Menschen unter Hunger und Kälte leiden als während irgendeiner anderen -, wird es den Leser wohl nicht überraschen, wenn wir ihn noch einmal zu einer kleinen festlichen Zusammenkunft einladen, die am Tage nach der soeben von uns verlassenen stattfand. Ihr Schauplatz war das Büro Mr. Sweaters. Mr. Sweater saß an seinem Schreibtisch, hatte aber seinen Drehstuhl herumgeschwungen, damit er seinen Gästen gegenübersaß - den Herren Rushton, Didlum und Schinder, die gleichfalls Platz genommen hatten.
„Irgendwas muss geschehen, und zwar sehr bald", sagte Schinder gerade; „lange können wir so wie bisher nicht weitermachen. Was mich betrifft - ich glaube, das beste ist, den ganzen Krempel über Bord gehen zu lassen; die Gesellschaft ist praktisch jetzt schon pleite, und je länger wir warten, desto schlimmer wird's."
„Genau meine Meinung", sagte Didlum niedergeschlagen. „Wenn wir die Elektrizität zum selben Preis wie Gas liefern könnten oder noch 'n bisschen billiger, hätten wir vielleicht 'ne Chance; aber das können wir nicht. Tatsache ist, dass unsere maschinelle Ausrüstung nicht 'nen Pfifferling wert ist, sie ist zu schwach und abgenutzt; darum ist die Elektrizität, die wir liefern, minderwertiger als Gas und kostet mehr."
„Ja, ich glaube, diesmal sind wir geschlagen", meinte Rushton. „Selbst wenn die Gasgesellschaft ihr Werk nicht hinter die Stadtgrenze verlegt hätte, wären wir trotzdem nicht in der Lage gewesen, mit ihr zu konkurrieren."
„Natürlich nicht", antwortete Schinder. „Die Sache verhält sich genauso, wie Didlum 's sagt. Unsre Ausrüstung ist zu schwach, ist abgenutzt und taugt zu nichts als nur dazu, auf den Schrotthaufen geschmissen zu werden. 's bleibt uns also nur eins übrig - den Bankrott zu erklären.
„Das seh ich nicht ein", bemerkte Sweater.
„Na, was schlagen Sie 'n vor?" fragte Schinder. „Die Gesellschaft wieder auf die Beine stellen? Von den Aktionären neues Geld verlangen? Das Werk niederreißen und neu aufbauen? Neue Maschinen kaufen? Und dann höchstwahrscheinlich trotzdem nicht auf 'nen grünen Zweig kommen? Ohne mich, alter Junge! Mir reicht's! Das werden Sie nicht erleben, dass ich auf die Weise gutes Geld für 'ne schlechte Sache herausschmeiße!"
„Ich auch nicht!" sagte Rushton.
„Kommt nicht in Frage!" bemerkte Didlum sehr entschieden.
Sweater lachte leise. „Ich bin doch kein solcher Dummkopf, etwas Derartiges vorzuschlagen!" sagte er. „Sie scheinen zu vergessen, dass ich selbst einer der größten Aktionäre bin. Nein. Was ich vorschlage, ist, wir verkaufen unsre Anteile."
„Verkaufen!" erwiderte Schinder mit verächtlichem Lachen, in das die anderen einstimmten. „Wer soll 'n die Aktien von 'ner Gesellschaft kaufen, die praktisch pleite ist und noch nie 'ne Dividende gezahlt hat?"
„Ich hab schon 'n paar Mal versucht, mein Anteilchen abzustoßen", sagte Didlum sauer lachend, „aber keiner will's."
„Wer sie kaufen soll?" sagte Sweater als Antwort auf Schinders Frage. „Natürlich die Stadt! Die Steuerzahler. Weshalb soll sich denn Mugsborough nicht mit dem Sozialismus einlassen, genau wie's andre Städte machen?"
Rushton, Didlum und Schinder schnappten geradezu nach Luft; die Kühnheit des Vorschlags ihres Anführers lähmte sie fast.
„Ich fürchte, das würden sie uns nicht abkaufen!" stieß Didlum hervor, sobald er wieder sprechen konnte. „Wenn die Leute dahinter kommen, gibt's 'nen Mordskrach."
„Leute! Krach!" erwiderte Sweater verächtlich. „Die Mehrzahl der Leute wird nie etwas darüber erfahren! Hören Sie mal zu... "
„Sind Sie sicher, dass wir nicht gehört werden können?" unterbrach ihn Rushton und blickte nervös zur Tür hinüber und im Raum umher.
„Ist alles in Ordnung", antwortete Sweater, senkte jedoch trotzdem seine Stimme fast bis zum Flüstern, während die
übrigen ihre Stühle näher zu ihm heranzogen und sich vorlehnten, um ihm zuzuhören.
„Sie wissen ja, dass wir immer noch ein bisschen Geld bei der Hand haben; was ich vorschlage, ist also dies: Nächste Woche findet, wie Sie ja wissen, die Jahresversammlung statt, und wir werden dafür sorgen, dass der Sekretär dort einen äußerst befriedigenden Bericht verliest und werden eine Dividende von fünfzehn Prozent ausschütten - das können wir unter uns irgendwie in Ordnung bringen. Selbstverständlich müssen wir die Bilanz ein bisschen frisieren, aber ich sorge dafür, dass es richtig gemacht wird. Die anderen Aktionäre werden keine unbequemen Fragen stellen, und wir verstehen uns ja."
Sweater hielt inne und blickte die übrigen drei Briganten eindringlich an. „Können Sie mir folgen?" fragte er.
„Freilich, freilich", sagte Didlum eifrig. „Sprechen Sie weiter." Und Rushton sowie Schinder nickten zustimmend.
„Danach sorge ich dafür", fuhr Sweater fort, „dass im ,Wöchentlichen Ananias' ein günstiger Bericht über die Jahresversammlung erscheint. Ich werde den Chefredakteur beauftragen, ihn selbst zu schreiben, und werde ihm genau sagen, was darin stehen soll. Ich werde auch veranlassen, dass er einen Leitartikel dazu schreibt, in dem er sagt, es sei sicher, dass die Elektrizität in sehr naher Zukunft für Beleuchtungszwecke das Gas ablösen werde. Dann wird der Artikel die riesigen Profite erwähnen, die die Gasgesellschaft einheimst, und erklären, es wäre bedeutend besser gewesen, wenn die Stadt das Gaswerk bereits vor Jahren angekauft hätte, und dass diese Profite zur Senkung der Abgaben hätten benutzt werden können, ebenso wie es in anderen Städten geschehen ist. Schließlich wird der Artikel erklären, es sei sehr schade, dass das Elektrizitätswerk in privaten Händen ist, und vorschlagen, man solle den Versuch machen, es für die Stadt zu erwerben.
Inzwischen können wir alle herumgehen - natürlich sehr ruhig und vorsichtig - und prahlen, was für eine gute Sache wir da haben, und sagen, wir beabsichtigen nicht zu verkaufen. Wir sagen, dass wir alle bei der Einrichtung des Werks entstandenen Anfangsunkosten und Schwierigkeiten überwunden haben - dass wir erst beginnen, den Lohn für unseren Fleiß und unseren Unternehmungsgeist zu ernten und so weiter.
Danach", fuhr der Chef fort, „können wir dafür sorgen, dass auf der Ratssitzung vorgeschlagen wird, die Stadt möge das Elektrizitätswerk aufkaufen."
„Aber nicht durch einen von uns vieren, wissen Sie", sagte Schinder mit schlauem Blinzeln.
„Selbstverständlich nicht; das würde die Katze sofort aus dem Sack lassen. Mehrere Mitglieder der Bande sind, wie Sie wissen, keine Aktionäre der Gesellschaft; einige von ihnen werden wir veranlassen, den größten Teil des Redens zu besorgen. Wir als Direktoren dieser Gesellschaft müssen so tun, als wären wir gegen den Verkauf und müssen auf unserem eigenen Preis bestehen, und wenn wir endlich einwilligen, betonen wir, dass wir unser Privatinteresse dem Wohle der Stadt opfern. Wir lassen ein Komitee ernennen, einen Ingenieur als Sachverständigen aus London kommen - ich kenne einen Mann, der sich ausgezeichnet für unsern Zweck eignen würde; wir zahlen ihm eine Kleinigkeit, und dann sagt er, was wir ihm auftragen -, und danach peitschen wir die ganze Sache durch, ehe man es sich versieht und ehe die Steuerzahler Zeit haben, gewahr zu werden, was geschieht. Nicht, als müssten wir uns ihretwegen viel Sorgen machen. Die meisten von ihnen interessieren sich nicht für öffentliche Angelegenheiten; aber selbst wenn etwas gesagt wird, schert uns das nicht viel, wenn wir das Geld einmal haben. Die Sache wird vorübergehend ein bisschen Staub aufwirbeln, und dann werden wir nichts mehr davon hören."
Als der Chef geendet hatte, schwiegen die übrigen Briganten gleichfalls, sprachlos vor Bewunderung über seine Klugheit.
„Nun, was halten Sie davon?" fragte er.
„Was ich davon halte!" rief Schinder begeistert. „Ich halte's für großartig! Nichts könnte besser sein. Wenn wir nur mit der Sache durchkommen, glaube ich, ist das eins von den pfiffigsten Dingern, die wir je gedreht haben!"
„Pfiffig ist gar kein Ausdruck", bemerkte Rushton.
„Kein Zweifel - 's ist 'ne fabelhafte Idee!" rief Didlum
aus, „und grad ist mir noch was eingefallen, was uns dabei helfen würde. Wir könnten dafür sorgen, dass 'ne Menge Briefe zugunsten des Projekts an den ,Verdunkler' und an den ,Ananias' und an das ,Chloroform der Woche' geschickt werden."
„Ja, 'ne gute Idee", sagte Schinder. „Die Redakteure könnten die Briefe schließlich selbst an sich schreiben und ,Ein Freund des Fortschritts', ,Ein Steuerzahler' und ,Ein Befürworter der Entwicklung Mugsboroughs' und so ähnlich unterzeichnen."
„Ja, das wäre ganz gut", meinte der Chef nachdenklich, „aber wir müssen aufpassen, dass wir es nicht übertreiben; natürlich muss eine gewisse Reklame gemacht werden, aber wir wollen nicht zuviel Interesse dafür wecken."
„Wenn ich's mir recht überlege", sagte Rushton hochmütig, „weshalb sollten wir uns denn überhaupt um die Meinung der Steuerzahler kümmern? Weshalb sollen wir uns die Mühe machen, die Bücher zu fälschen, 'ne Dividende auszuschütten, die Artikel in den Zeitungen erscheinen zu lassen oder sonst was tun? Wir halten das Spiel in den Händen, wir haben die Mehrheit im Stadtrat, und wie Mr. Sweater sagt, machen sich nur 'n paar Menschen die Mühe, die Sitzungsberichte zu lesen."
„Ja, das stimmt schon", meinte Schinder. „Aber 's sind grade die paar, die 'ne Menge Wind machen und reden; eben die sind die Leute, an die wir denken müssen. Wenn wir's nur fertig bringen, denen 'nen blauen Dunst vorzumachen, ist alles in Ordnung, und das geht nur so, wie Mr. Sweater vorschlägt."
„Ja, ich glaube", sagte der Chef. „Wir müssen aber sehr vorsichtig vorgehen. Ich kann's beim ,Ananias' und beim ,Chloroform' in Ordnung bringen, und Sie müssen natürlich zusehen, dass uns der ,Verdunkler' unterstützt."
„Das lassen Sie nur meine Sorge sein", sagte Schinder grimmig.
Die drei Ortszeitungen wurden von Gesellschaften m.b.H. herausgegeben. Sweater besaß fast alle Aktien des „Ananias" sowie des „Chloroforms der Woche" und kontrollierte Politik und Inhalt dieser Zeitungen. Schinder nahm die gleiche Stellung beim „Verdunkler" ein. Die
Chefredakteure waren eine Art Marionetten, die tanzten, wie Sweater und Schinder die Fäden zogen.
„Wie Dr. Schwächling es wohl aufnehmen wird?" bemerkte Rushton.
„Daran habe ich auch eben grade gedacht!" rief Didlum aus. „Meinen Sie nicht, 's wär gut, dafür zu sorgen, dass jemand schlecht wird - Sie wissen doch, dass er auf der Straße genau vor dem Rathaus mit 'nem Anfall oder so was Ähnlichem hinfällt, grad eh die Sache im Stadtrat vorgebracht wird, und dann müsste jemand kommen und Schwächling rausrufen, um den Kranken zu behandeln, und ihn draußen festhalten, bis die Sache erledigt ist."
„Ja, das ist 'ne großartige Idee", meinte Schinder nachdenklich. „Aber wer soll 'n den Anfall haben? 's muss jemand sein, dem wir trauen können, wissen Sie."
„Wie ist's denn mit Rushton? Sie würden doch nichts dagegen haben, was?" fragte Didlum.
„Ich verwahre mich schärfstem dagegen", erwiderte Rushton hochmütig. Er betrachtete den Vorschlag, er solle eine so würdelose Rolle spielen, als eine Art Lästerung.
„Dann werde ich's, wenn nötig, selbst machen", sagte Didlum. „Ich bin nicht stolz, wenn's drum geht, Geld zu verdienen; für 'nen ehrlichen Broterwerb mache ich alles."
„Nun, ich denke, soweit sind wir uns alle einig", bemerkte Sweater. Die übrigen nickten zustimmend.
„Und ich denke, wir haben einen Schluck verdient", fuhr der Chef fort, wobei er eine Karaffe und eine Kiste Zigarren aus dem Schrank neben seinem Schreibtisch nahm. „Geben Sie mal die Wasserflasche her, die hinter Ihnen steht, Didlum."
„Ich nehme doch an, dass niemand reinkommt?" fragte der besorgt. „Sie wissen doch, ich bin Abstinenzler."
„Ach, geht in Ordnung", erwiderte Sweater, nahm vier Gläser aus dem Schrank und schenkte den Whisky ein. „Ich habe angeordnet, dass wir auf keinen Fall gestört werden. Sagen Sie halt."
-Also, ich trinke auf den Erfolg des Sozialismus!" rief Schinder, hob sein Glas und nahm einen großen Schluck.
„Amen - Bravo! meine ich", sagte Didlum, sich hastig verbessernd.
„Was mir an dem Geschäft gefällt", fuhr Schinder fort und lachte, „ist, dass wir nicht nur für uns was Gutes damit tun, sondern gleichzeitig den Sozialisten 'ne Menge Schaden machen. Wenn die Steuerzahler das Werk gekauft haben und anfangen, Radau zu schlagen, weil sie Geld dran verlieren, können wir ihnen sagen, das wär eben der Sozialismus! Und dann werden sie sagen: wenn das der Sozialismus ist, wollen wir nichts mehr davon wissen!"
Die anderen Briganten lachten fröhlich, und Didlum verschluckte sich an seinem Whisky und bekam beinahe einen Erstickungsanfall.
„Sie könnten 'nen Mann auch gleich umbringen", versicherte er, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. „Sie könnten 'nen Mann auch gleich umbringen, anstatt dass Sie 'n zum Ersticken bringen!"
„Und jetzt habe ich eine gute Nachricht für Sie", sagte der Chef, als er sein leeres Glas niedersetzte.
Sogleich wurden die anderen ernst.
„Obwohl es für unseren Wettbewerb mit den Leuten von der Gasgesellschaft bei uns hart auf hart gegangen ist, und obwohl wir die Unterlegenen sind, ist's für sie auch nicht gerade rosig gewesen, wissen Sie. Die haben sich auch nicht gerade amüsiert; wir haben ihnen tüchtig eins versetzt, als wir den Kohlenzoll erhöht haben."
„Und das war gut", sagte Schinder gehässig.
„Nun", fuhr Sweater fort, „sie haben den Kampf gründlich satt, denn selbstverständlich wissen sie nicht genau, wie schwer es uns getroffen hat. Soweit sie informiert sind, hätten wir den Kampf unbegrenzt fortsetzen können, und -um es kurz zu sagen, ich habe mit dem Direktor und ein, zwei anderen Herren eine Unterredung gehabt, und sie sind bereit, uns mit hereinzunehmen. Wir können also das Geld, das wir für das Elektrizitätswerk bekommen, in Gasaktien anlegen!"
Dies war eine so prächtige Nachricht, dass sie noch ein Glas darauf tranken, und Didlum meinte, eines der ersten Dinge, die sie zu tun hätten, wäre, den Kohlenzoll völlig abzuschaffen, da er so hart auf den Armen laste.

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