41. Kapitel Vive le Systeme!
Die Änderungen im Kiosk auf der Großen Paradeallee, zu denen sich die Gemeinde verpflichtet hatte, verschafften etwa drei Wochen lang einer Anzahl von Tischlern und Stuckateuren Arbeit, und danach fanden dort noch einige Maler Beschäftigung. Diese Tatsache genügte, um dem Stadtrat bei der Verpachtung des Gebäudes an Schinder die bedingungslose Zustimmung der Arbeiter zu sichern, und diese lehnten ebenso von ganzem Herzen auch den Einspruch des Ratsherrn Schwächling ab, ohne sich zu bemühen, dessen Gründe kennen zu lernen und sie zu begreifen. Alles, was sie wussten und was sie kümmerte, war, dass er versucht hatte, die Arbeit zu verhindern, und dass er in beleidigenden Worten von den Arbeitern der Stadt gesprochen hatte. Welches Recht hatte er, sie halbverhungerte, verelendete arme Teufel zu nennen? Was die Armut betraf, so ging es ihm allen Berichten nach selbst nicht gerade rosig. Bei manchen von diesen Kerlen, die in Gehrock und Zylinderhüten umherstolzierten, würde es sich herausstellen, dass sie genauso knapp bei Kasse waren wie nur sonst jemand.
Und was die von der Gemeinde beschäftigten Arbeiter betraf, so war's ganz richtig, dass ihre Löhne herabgesetzt werden mussten. Warum sollten die mehr Geld bekommen als andere?
„Wir sind doch diejenigen, die das Geld aufbringen müssen", sagten sie. „Wir sind die Steuerzahler, und warum solln wir denen denn höhere Löhne zahlen, als wir selbst kriegen? Und warum sollen denn die, im Gegensatz zu uns, für Feiertage bezahlt werden?"
Während der nächsten Wochen hielt der Beschäftigungsmangel an, denn natürlich änderten die Arbeiten am Kiosk
und die wenigen anderen, die ausgeführt wurden, nicht viel an der allgemeinen Lage. Gruppen von Arbeitern standen an den Ecken oder schlenderten ziellos in den Straßen umher. Die meisten von ihnen machten sich gar nicht mehr die Mühe, zu den verschiedenen Firmen zu gehen und nach Arbeit zu fragen, denn für gewöhnlich wurde ihnen dort gesagt, man werde sie holen, sobald sie gebraucht würden.
Während dieser Zeit tat Owen sein Bestes, um die arideren Arbeiter zu seinen Ansichten zu bekehren. Er hatte eine kleine Bibliothek sozialistischer Bücher und Broschüren zusammengetragen und lieh davon denen, die er zu beeinflussen hoffte. Einige nahmen die Bücher und versprachen - mit einer Miene, als täten sie ihm einen großen Gefallen -, sie zu lesen. Wenn sie sie ihm dann zurückgaben, so geschah es in der Regel mit allgemein zustimmenden Bemerkungen; gewöhnlich aber wichen sie einer näheren Erörterung der Schriften aus, weil sie in neun von zehn Fällen nicht versucht hatten, sie zu lesen. Und bei denen, die sich tatsächlich mit halbem Herzen die Mühe machten, war meistens der Verstand durch die langen Jahre, in denen sie ihn nicht gebraucht hatten, dermaßen eingerostet und verkümmert, dass die Argumente - obwohl die Broschüren im allgemeinen in so einfachen Worten geschrieben waren, dass ein Kind sie hätte verstehen können - gewöhnlich nicht von den Leuten verstanden wurden, deren Hirne durch die ihnen von ihren liberalen oder konservativen Herren erzählten Märchen verblödet waren. Einige weigerten sich, Bücher und Broschüren überhaupt anzunehmen, wenn Owen anbot, sie ihnen zu leihen, und andere, die ihm den großen Gefallen taten, sie anzunehmen, prahlten danach, sie hätten sie als Klosettpapier benutzt.
Häufig ließ sich Owen in lange Diskussionen mit den anderen Arbeitern ein und sagte, es sei Pflicht des Staates, produktive Arbeit für alle zu beschaffen, die willens seien, sie zu leisten. Einige wenige hörten ihm zu, als verständen sie ihn zwar nur ungefähr, als seien sie jedoch bereit, sich überzeugen zu lassen.
„Freilich, Mann, 's stimmt schon, was du sagst", pflegten sie zu bemerken. „Irgendwas müsste getan werden."
Andere machten sich lustig über diese Lehre von der Beschäftigung durch den Staat: das war ja alles ganz schön und gut, aber woher sollte denn das Geld kommen? Hierauf fielen diejenigen, die geneigt gewesen waren Owen zuzustimmen, in ihre alte Apathie zurück.
Andere wiederum gab es, die ihm nicht so ruhig zuhörten, sondern heftig fluchten und brüllten, solche Kerle wie Owen seien es, die an der Wirtschaftskrise die Schuld trügen. Dieses ganze Gerede über den Sozialismus und die Beschäftigung durch den Staat scheuche das Kapital aus dem Land. Wer Geld besitze, habe Angst, es in der Industrie zu investieren oder irgendwelche Arbeiten ausführen zu lassen, aus Furcht, es werde ihnen geraubt werden. Als Owen Statistiken anführte, um zu beweisen, dass das letzte Jahr, was den Handel und die Produktion von Waren aller Art betraf, ein Rekordjahr gewesen war, wurden sie nur um so wütender und sprachen drohend von dem, was sie gerne mit den verfluchten Sozialisten täten, die alles durcheinander brächten.
Crass, einer der Verteidiger des herrschenden Systems, fuhr Owen eines Tages tüchtig über den Mund. Sie standen mit einer kleinen Gruppe von Leuten am Lohnsklavenmarkt in der Nähe des Springbrunnens und unterhielten sich. Im Laufe der Diskussion bemerkte Owen, unter den gegenwärtigen Umständen lohne es sich nicht zu leben, und Crass sagte, wenn er das wirklich meine, so liege kein Zwang dazu vor; wenn's ihm nicht gefalle -wenn er nicht zu leben wünsche -, könne er ja sterben. Warum zum Teufel ginge er denn nicht hin und schlage ein Loch ins Wasser oder schnitte sich die verdammte Kehle durch?
Diesmal war das Streitobjekt - zuerst - die kürzlich vorgenommene Gehaltserhöhung für den städtischen Gutachter auf siebzehn Pfund pro Woche. Owen erklärte, das sei Diebstahl, aber die Mehrheit der übrigen drückte ihre Zustimmung zu der Gehaltserhöhung aus. Sie fragten Owen, ob er von einem solchen Mann erwarte, dass der umsonst arbeite! Es sei doch nicht, als wäre er ihresgleichen! Und was den Diebstahl betreffe, meinten sie, so wäre Owen bestimmt froh, wenn er Gelegenheit hätte, das Geld selbst zu bekommen. Die meisten von ihnen schienen zu glauben, wenn jemand gern siebzehn Pfund in der Woche erhielte,
so beweise das, wie richtig es sei, dass sie dem städtischen Gutachter diese Summe bezahlten!
Gewöhnlich, wenn Owen über die grobe Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit der herrschenden gesellschaftlichen Unordnung nachdachte, gewann er die Überzeugung, dass sie auf keinen Fall von Dauer sein könne; infolge ihrer eigenen Fäulnis musste sie auseinander fallen. Sie war nicht gerecht, sie widersprach dem gesunden Menschenverstand, und daher konnte sie nicht überdauern. Jedes Mal aber nach einem solchen Gespräch oder vielmehr Streit mit seinen Arbeitskollegen fiel er beinahe wieder in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zurück; denn dann kam ihm zum Bewusstsein, wie weitläufig und wie stark die Festungswälle sind, die das gegenwärtige System umgeben - die großen Schanzen und Bollwerke der unbezwinglichen Unwissenheit, Apathie und Selbstverachtung, die niedergerissen werden müssen, ehe das Gesellschaftssystem, das sie schützen, fortgespült werden kann.
Zu anderen Zeiten wiederum kam ihm dieses großartige System, wenn er daran dachte, so absurd vor, dass es fast komisch wirkte, so dass er lachen musste und sich fragte, ob es tatsächlich existiere oder etwa nur ein Gespinst seines eigenen wirren Hirns sei.
Eines der Dinge, die Menschen benötigten, um existieren zu können, war eine Unterkunft; daher hatten sie in viel mühseliger Arbeit eine große Anzahl von Häusern gebaut. Tausende von diesen standen jetzt leer, während Millionen von Menschen, die beim Bau der Häuser geholfen hatten, entweder obdachlos waren oder in engen Hütten zusammengepfercht wohnten.
Diese menschlichen Wesen hatten ein so seltsames System, ihre Angelegenheiten zu regeln, dass jemand, der sich daranmachen wollte, eine große Anzahl von Häusern niederzubrennen, denen, die sie gebaut hatten, einen großen Gefallen täte, weil durch eine solche Handlung „'ne Menge Arbeit beschafft würde!"
Eine andere sehr komische Sache war, dass Tausende von Menschen zerrissene Stiefel und zerlumpte Kleidung trugen, während Millionen Paar Stiefel und eine Unmenge von Kleidungsstücken, bei deren Herstellung sie geholfen hatten, in Warenlagern eingeschlossen waren, und das System hatte die Schlüssel.
Tausenden von Menschen fehlte es an den lebensnotwendigen Dingen. Alle lebensnotwendigen Dinge werden durch die Arbeit hergestellt. Die Menschen, denen sie fehlten, bettelten um die Erlaubnis, arbeiten und die Dinge, deren sie bedurften, herstellen zu dürfen. Das System hinderte sie jedoch daran, es zu tun.
Fragte jemand das System, weshalb es diese Leute daran hinderte, die Dinge zu produzieren, an denen es ihnen mangelte, so antwortete es: „Weil sie schon zuviel produziert haben. Die Märkte sind übersättigt. Die Lagerhäuser sind zum Bersten gefüllt, und es gibt für diese Leute nichts mehr zu tun."
Es existierte eine riesige Anhäufung aller notwendigen Dinge. Eine große Anzahl der Menschen, deren Arbeit diesen großen Vorrat produziert hatte, lebten jetzt in Not; das System aber sagte, man könne ihnen nicht gestatten, an den Dingen teilzuhaben, die sie geschaffen hatten. Und dann, nach einiger Zeit, wenn diese Menschen auf die letzte Stufe des Elends hinabgedrückt worden waren und sich laut darüber beschwerten, dass sie und ihre Kinder am Verhungern waren, schloss das System widerwillig die Tore der großen Lagerhäuser auf, nahm einen kleinen Teil der dort aufbewahrten Dinge heraus und verteilte sie unter die hungernden Arbeiter, wobei es sie daran erinnerte, dies sei nichts als Barmherzigkeit, denn alle Dinge in den Lägern seien jetzt das Eigentum der Nichtstuer, obgleich sie von den Arbeitern hergestellt worden waren.
Und dann fielen die hungernden, stiefellosen, zerlumpten und dummen armen Teufel nieder und beteten das System an; sie boten für seine Altäre ihre Kinder als lebende Opfer dar und sagten dazu:
„Dieses wunderschöne System ist das einzig mögliche und das beste, das menschliche Weisheit ersinnen kann. Das System möge ewig leben! Verflucht seien jene, die das System zu zerstören suchen!"
Als sich die Widersinnigkeit der Sache Owens Bewusstsein aufdrängte, musste er laut lachen, trotz des Kummers, den er beim Anblick all des ihn umgebenden Elends empfand, und er sagte sich, wenn er bei Verstand sei, müssten alle diese Leute wahnsinnig sein.
Angesichts so riesenhafter Dummheit war es absurd, auf eine unmittelbar bevorstehende Besserung zu hoffen. Das wenige bereits Erreichte war das Werk einiger sich aufopfernder Enthusiasten, die gegen den Widerstand derer ankämpften, denen sie zu nützen suchten, und das Ergebnis ihrer Arbeit war in vielen Fällen gleich Perlen, die vor die Säue geworfen wurden, während diese bereitstanden und nur auf eine Gelegenheit warteten, sich auf ihre Wohltäter zu stürzen und sie zu verschlingen.
Es gab nur eine Hoffnung. Es war möglich, dass die Monopolisten, durch die außerordentliche Dummheit und Apathie der Menschen ermutigt, ihnen eine noch größere Last aufbürdeten, bis sich diese armen Teufel schließlich, angestachelt durch ihre Leiden und da ihr unbeholfener Verstand keinen anderen Ausweg sah, gegen ihre Unterdrücker wendeten und diese samt deren System in einem Meer von Blut ertränkten.
Neben der Arbeit am Kiosk begannen sich die Dinge gegen Ende März nach und nach auch anderswo zu bessern. Mehrere Firmen gingen dazu über, ein paar Arbeiter einzustellen. Einige große Häuser, die vermietet worden waren, mussten für neue Mieter hergerichtet werden, und in anderen ergaben sich aus dem jährlichen Frühjahrs-Großreinemachen eine ansehnliche Menge von Innenarbeiten. Es war zwar nicht genügend Arbeit vorhanden, um alle zu beschäftigen, und die meisten von denen, die eingestellt wurden, brachten es in der Regel nur auf einige Stunden Arbeitszeit in der Woche; das war jedoch besser als völlige Arbeitslosigkeit, und man begann auch von mehreren großen Außenarbeiten zu sprechen, die in Angriff genommen werden sollten, sobald das Wetter beständig würde.
Das schlechte Wetter war, nebenbei gesagt, eine Art Geschenk für die Verteidiger des gegenwärtigen Systems, denen es an vernünftigen Argumenten fehlte, um die Ursache der Armut erklären zu können. Eine der Hauptursachen war natürlich das Wetter, das alles aufhielt. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass es stets reichlich Arbeit gäbe und die Armut abgeschafft würde, wenn das Wetter es nur zuließe.
Rushton & Co. erhielten einen beträchtlichen Anteil an den vorhandenen Aufträgen, und Crass, Sawkins, Slyme und Owen wurden ziemlich regelmäßig beschäftigt, obgleich sie erst um halb neun mit der Arbeit begannen und bereits um vier Uhr Feierabend machten. In mehreren Häusern in den verschiedensten Stadtteilen mussten sie Decken abwaschen und tünchen, alte Tapeten von den Wänden reißen und die Zimmer neu anstreichen und tapezieren, und zuweilen mussten Rolläden repariert und gestrichen werden. Gelegentlich wurden für einige Tage ein paar Arbeiter zusätzlich beschäftigt und wieder entlassen, sobald die Arbeit beendet war, für die man sie eingestellt hatte.
Die Verteidiger des herrschenden Systems mögen vielleicht glauben, das Bewusstsein, dass sie entlassen würden, sobald die Arbeit getan war, sei ein sehr guter Anreiz zum Fleiß, und natürlich täten sie unter diesen Umständen ihr Bestes, um mit der Arbeit so schnell wie nur möglich fertig zu werden. Aber man darf nicht vergessen, dass die meisten unter den Verteidigern des herrschenden Systems so veranlagt sind, dass sie alles glauben können, vorausgesetzt, es ist nicht wahr und ist genügend dumm.
Trotzdem war es so, dass die Arbeiter ihr Bestes taten, die Arbeit so schnell wie möglich zu schaffen, denn sie wussten zwar, dass es ihrem eigenen Interesse widersprach, das zu tun, doch sie wussten auch, dass es ihrem Interesse sehr widersprochen hätte, es nicht zu tun. Ihre einzige Aussicht darauf, weiterbeschäftigt zu werden, wenn neue Aufträge kamen, war, sich ins Zeug zu legen, so sehr sie nur konnten. Infolgedessen wurde der größte Teil der Arbeit überstürzt, gepfuscht, geschludert und in der Hälfte der Zeit überschmiert, die nötig gewesen wäre, um sie ordentlich auszuführen. Zimmer, für die der Kunde drei Anstriche bezahlte, wurden ein- oder zweimal überpinselt. Was Elend über das Pfuschen und Betrügen bei der Arbeit noch nicht wusste, schlugen ihm die Arbeiter vor und zeigten sie ihm
in der Hoffnung, Gnade in seinen Augen zu finden, damit sie den anderen vorgezogen und geholt würden, wenn der nächste Auftrag kam. Das Hauptanreizmittel, welches das gegenwärtige System bietet, ist der Betrug. Diese Leute betrogen die Kunden um ihr Geld. Sie betrogen sich selbst und ihre Arbeitskollegen um die Arbeit und ihre Kinder um das Brot; aber all das geschah zu einem guten Zweck -nämlich, um für ihren Herrn Profite zu schaffen.
Harlow und Slyme führten eine Arbeit aus - sie richteten ein Zimmer her, das dreimal zu streichen Rushton & Co. sich verpflichtet hatten. Nach zwei Anstrichen war es fertig, und die Arbeiter räumten ihre Farbtöpfe fort. Als Slyme am nächsten Tag dorthin ging, um das Zimmer zu tapezieren, sagte die Hausfrau, die Malerarbeiten seien noch nicht beendet - ein Anstrich fehle noch. Slyme versicherte ihr, es seien bereits drei gemacht worden; da die Frau aber auf ihrer Meinung bestand, ging Slyme in den Laden und holte Elend. Harlow hatte aussetzen müssen, da gerade kein anderer Auftrag „hereingekommen" war, glücklicherweise aber stand er zufällig auf der Straße vor der Werkstatt; sie riefen ihn also, und alle drei gingen zu der Arbeitsstelle hinüber und schworen, das Holzwerk des Zimmers habe drei Anstriche erhalten. Die Dame widersprach, dem sei nicht so. Sie habe den Verlauf der Arbeit beobachtet. Außerdem sei es unmöglich; sie seien ja nur drei Tage dort gewesen. Am ersten Tag hätten sie überhaupt nichts gestrichen; sie hätten die Decke hergerichtet und die Tapete von den Wänden gerissen; erst am zweiten Tag hätten sie mit dem Streichen begonnen. Wie könnten also drei Anstriche gemacht worden sein? Elend erklärte das Geheimnis: er sagte, für den ersten Anstrich hätten sie eine ganz besondere, sehr schnell trocknende Farbe genommen -eine Farbe, die so schnell trocknete, dass sie zwei Anstriche an einem Tag vornehmen konnten. Ein Mann striche zum Beispiel das Fenster, der zweite die Tür; seien sie damit fertig, so begäben sich beide an die Scheuerleisten; hätten sie diese gestrichen, so seien inzwischen die Tür und das Fenster genügend getrocknet, um den zweiten Anstrich zu erhalten, und am folgenden Tag würde der letzte vorgenommen.
Natürlich sei diese besondere schnelltrocknende Farbe sehr teuer, aber der Firma mache das nichts aus. Sie wisse, dass die meisten Kunden die Arbeit so schnell wie möglich zu Ende geführt haben wollten, und sie bemühe sich, ihre Kunden zufrieden zu stellen. Diese Erklärung genügte der Dame - einer armen Witwe, die sich notdürftig durch Zimmervermieten ihren Lebensunterhalt verdiente -, und sie ließ sich um so leichter betrügen, als sie Elend für einen sehr frommen Mann hielt, da sie ihn häufig auf der Straße beim Predigen gesehen hatte.
Eine andere Arbeit, gleichfalls in einem Fremdenheim, wurde von Owen und Easton ausgeführt; zwei Zimmer sollten dreimal mit Farbe gestrichen und einmal lackiert werden, das machte im ganzen vier Anstriche. So lautete die Verpflichtung, welche die Firma übernommen hatte. Da die alte Farbe in diesen Zimmern von ziemlich dunklem Ton gewesen war, ließ es sich absolut nicht umgehen, drei Farbanstriche vorzunehmen, ehe lackiert werden konnte. Elend wünschte, es bei zwei Anstrichen zu belassen; Owen machte ihn jedoch darauf aufmerksam, wenn sie das täten, werde es so scheußlich aussehen, dass ihnen die Arbeit niemals abgenommen würde. Nachdem Elend einige Minuten lang über die Sache nachgedacht hatte, wies er sie an, den dritten Anstrich vorzunehmen. Dann ging er nach unten und verlangte die Hausherrin zu sprechen. Er erklärte ihr, da die alte Farbe so dunkel gewesen sei, habe es sich als notwendig erwiesen, vor dem Lackieren viermal zu streichen, damit die Arbeit gut werde. Freilich sei verabredet worden, nur dreimal zu streichen; da der Firma aber stets daran liege, eine Arbeit erstklassig auszuführen und nicht eine schlechte Arbeit zu liefern, werde sie den letzten Anstrich auch unentgeltlich ausführen; er sei jedoch sicher, das wünsche die Dame nicht. Diese sagte, sie wolle nicht, dass sie umsonst arbeiteten, und sie wünsche, dass die Arbeit richtig ausgeführt werde. Sei es nötig, noch einen Anstrich vorzunehmen, so müssten sie es eben tun, sie werde dafür zahlen. Wie viel sollte es kosten? Elend teilte ihr den Preis mit. Die Dame war einverstanden, und Elend befand sich im siebenten Himmel. Dann ging er wieder nach oben und schärfte Owen und Easton ein, wenn sie gefragt würden, sollten sie auch bestimmt sagen, es seien vier Anstriche vorgenommen worden.
Es wäre unvernünftig, wollte man Elend oder Rushton Vorwürfe machen, weil sie keine gute, ehrliche Arbeit ausführen wollten - hierzu gab es ja gar keinen Anreiz. Wenn sie einen Kontrakt abschlossen und zuerst daran gedacht hätten, die Arbeit so gut wie möglich zu leisten, so hätten sie nicht soviel Profit gemacht. Es bestand kein Anreiz dafür, die Arbeit möglichst gut auszuführen, sondern nur dafür, so wenig wie nur irgend möglich zu tun. Es war kein Anreiz vorhanden, gute Arbeit zu leisten, sondern nur der, sich einen guten Profit zu sichern.
Dieselbe Regel galt auch für die Arbeiter. Man konnte sie gerechterweise nicht dafür tadeln, dass sie keine gute Arbeit leisteten - es gab keinen Anreiz hierzu. Eine gute Arbeit zu leisten erfordert Zeit und Mühe. Die meisten unter ihnen hätten gern Zeit und Mühe angewandt, denn jeder, der fähig ist, eine gute Arbeit zu leisten, findet Freude und Glück in ihrer Ausführung und ist stolz auf sie, wenn sie getan ist; aber es bestand kein Anreiz dazu, wenn man nicht die Gewissheit, entlassen zu werden, einen Anreiz nennen will; denn es war von vornherein gewiss, dass ein Mann, der dabei erwischt wurde, Zeit und Mühe auf seine Arbeit zu verwenden, unverzüglich an die Luft gesetzt wurde. Es gab jedoch reichlich Anreiz zu hetzen, zu schludern und zu pfuschen.
Ein andermal hatte die Firma den Auftrag, in einem Fremdenheim zwei Zimmer zu streichen und zu tapezieren. Der Wirt zahlte für die Arbeit; die Mieterin hatte jedoch das Recht, sich die Tapete auszuwählen. Sie konnte jedes Muster haben, solange es nicht teurer war als ein Schilling die Rolle, denn Rushtons Kostenanschlag bezog sich auf eine Tapete in dieser Preislage. Elend sandte der Mieterin zur Auswahl mehrere Tapetenmuster zu sechs Pence die Rolle, die mit einem Preis von einem Schilling ausgezeichnet waren; da ihr aber keine davon gefiel, sagte sie, sie werde zum Laden gehen und dort ihre Wahl treffen. Deshalb raste Hunter in großer Eile dahin, um vor ihr dort zu sein. In seiner Hast, vom Fahrrad abzusteigen, fiel er hinunter und auf die schmutzige Straße, und fast hätte er die Schaufensterscheibe mit seiner Lenkstange eingeschlagen, als er das Rad vor den Laden stellte, um hineinzugehen.
Ohne erst seinen Anzug vom Straßenschmutz zu säubern, befahl er Budd, dem pickligen Verkäufer, sämtliche Rollen aller Tapeten zu sechs Pence, die sie besaßen, hervorzuholen; dann begaben sich beide an die Arbeit und änderten den darauf vermerkten Preis von sechs Pence in einen Schilling um. Danach holten sie eine Anzahl von Tapetenrollen zu einem Schilling heraus und änderten den darauf stehenden Preis, indem sie aus einem Schilling anderthalb machten.
Als die unglückliche Frau ankam, erwartete Elend sie bereits mit wohlwollendem Lächeln auf seinem langen Gesicht. Er zeigte ihr alle Muster zu sechs Pence, aber ihr gefiel keins darunter; daher bemerkte Nimrod nach einer Weile, vielleicht ziehe sie eine Tapete von etwas besserer Qualität vor, sie könne die kleine Differenz ja aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. Danach zeigte er der Dame die Tapeten zu einem Schilling, die er mit einem Schilling sechs Pence ausgezeichnet hatte, und schließlich wählte sie eine von diesen und zahlte selbst, wie Nimrod vorgeschlagen hatte, sechs Pence pro Rolle dazu. Im ganzen waren es fünfzehn Rollen Tapete - sieben für ein Zimmer und acht für das andere, so dass die Firma außer dem üblichen Profit am Verkauf der Tapete, der etwa zweihundertfünfundsiebzig Prozent betrug, aus diesem Geschäft noch sieben Schilling sechs Pence zusätzlich herausschlug. Die Arbeit selbst hätte ihr noch mehr eingebracht, wäre Slyme nicht für das Tapezieren im Akkordlohn bezahlt worden; denn da in beiden Zimmern das gleiche Muster geklebt wurde, hätte er gut mit vierzehn Rollen auskommen können; das war es auch, was er wirklich verbrauchte. Die übrig gebliebene Rolle zerschnitt er jedoch und vernichtete sie teilweise, damit er das Kleben für sie anrechnen konnte.
Owen arbeitete dort gleichzeitig mit Slyme, denn das Holzwerk wurde nicht vor dem Tapezieren der Zimmer gestrichen; der letzte Anstrich wurde erst vorgenommen, nachdem die Tapete schon geklebt war. Er bemerkte, wie Slyme die Rolle zerstörte, und da er den Grund dafür erriet, fragte er Slyme, wie der ein solches Verhalten mit seinem religiösen Bekenntnis vereinen könne.
Slyme erwiderte, dass er Christ sei, bedeute ja nicht, er tue nie etwas Unrechtes; beginge er aber eine Sünde, so sei er noch immer Christ, und um Christi Blut willen werde sie ihm vergeben werden. Und was die Sache mit der Tapete betreffe, so sei das eine Angelegenheit zwischen ihm und Gott, und Owen habe kein Recht, sich als Richter aufzuspielen.
Neben diesen Arbeiten gab es auch eine Anzahl von Beerdigungen. Crass und Slyme verdienten recht gut an all dem; den ganzen Tag über waren sie mit Weißen oder Malen beschäftigt, und während eines Teils der Nacht strichen sie zuweilen noch Rolläden an, oder sie polierten und lieferten Särge, ganz zu schweigen davon, dass sie die Leichen in den Sarg betteten und danach das Amt des Leichenträgers verrichteten.
Im Laufe der Zeit nahm die Anzahl der kleinen Aufträge zu, und als die Tage länger wurden, durften die Arbeiter ihre Arbeitszeit verlängern. Die meisten Firmen hatten ein wenig Arbeit; diese reichte jedoch niemals aus, um alle Männer der Stadt gleichzeitig zu beschäftigen. Die Sache wurde folgendermaßen gehandhabt: Jede Firma hatte eine gewisse Anzahl von Leuten, die als ihre ständigen Arbeiter galten. War Arbeit vorhanden, so wurden sie Fremden oder Außenseitern vorgezogen. War viel zu tun, so wurden vorübergehend auch Außenseiter eingestellt. Ließ das Geschäft nach, so waren die Aushilfsarbeiter die ersten, die „feiern" mussten. Ließ das Geschäft weiter nach, so mussten die alten Arbeiter gleichfalls in der Reihenfolge ihrer Beschäftigungsdauer aussetzen; die älteren Arbeiter wurden fremden vorgezogen - vorausgesetzt freilich, dass sie nicht alt im Sinne von bejahrt oder untüchtig waren.
So ging es gewöhnlich während des ganzen Frühlings und des Sommers weiter. In guten Jahren gelang es den Arbeitern sämtlicher Berufszweige, den Tischlern, den Maurern, den Stuckateuren, den Malern und den übrigen, fast regelmäßig Arbeit zu haben, ausgenommen, wenn nasses Wetter herrschte.
Der Unterschied zwischen einem guten Frühling oder Sommer und einem schlechten ist, dass in guten Jahren zuweilen einige Überstunden gemacht werden können und die Perioden der Arbeitslosigkeit kürzer und seltener sind als in schlechten. Selbst in guten Jahren geschieht es nicht oft, dass ein Aushilfsarbeiter länger als ein, zwei oder drei Monate ohne Unterbrechung von einer Firma beschäftigt wird. Gewöhnlich arbeiten sie einen Monat lang bei einer Firma, danach vierzehn Tage bei einer anderen, dann vielleicht sechs Wochen lang an einer dritten Stelle, und oft liegen dazwischen zwei, drei Tage oder selbst Wochen erzwungener Untätigkeit. So geht es während des ganzen Frühlings, Sommers und Herbstes. |
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