Anhang Mugsborough
Mugsborough war eine Stadt von etwa achtzigtausend Einwohnern, ungefähr dreihundertzwanzig Kilometer von London entfernt. Sie lag in einem grünen Tal.
Blickte man vom Springbrunnen auf der Großen Paradeallee im Zentrum der Stadt aus nach Westen, Norden oder Osten, so sah man eine Reihe aufeinander folgender tannenbewachsener Hügel. Nach Süden hin dehnte sich, so weit das Auge blicken konnte, eine große bestellte Ebene, die sich bis zu der hundertsechzig Kilometer entfernten Südküste erstreckte. Das Klima der Gegend galt als kühl im Sommer und milde im Winter.
Die eigentliche Stadt schmiegte sich in das Tal; im Westen lag der schönste und geschützteste Teil, die Vorstadt Irene; hier standen die Häuser der wohlhabenden Bürger und reichen Kaufleute sowie zahlreiche Fremdenheime zur Unterbringung begüterter Besucher. Im Osten dehnte sich die Stadt den Abhang hinauf zur Spitze des Hügels und auf der anderen Seite wieder hinab zur Vorstadt Windley, wo der größte Teil der Arbeiterschaft wohnte.
Vor Jahren, als Reisen ins Ausland mehr Geld kosteten und seltener unternommen wurden, war Mugsborough ein bevorzugter Erholungsaufenthalt der oberen Klassen gewesen; in den letzten Jahren aber haben die meisten dieser Patrioten die Gewohnheit angenommen, auf das europäische Festland zu fahren, um das Geld auszugeben, das sie von den arbeitenden Menschen Englands eingenommen haben. Mugsborough bewahrte jedoch einen Schein des Wohlstands. Im Sommer wie im Winter hielten sich gewöhnlich recht viele so genannte „feine" Besucher als Feriengäste oder zur Kur in der Stadt auf. Auf der Großen Paradeallee drängten sich gewöhnlich die Wagen und die wohlgekleideten Leute. Die Läden schienen viel zu tun zu haben, und zur Zeit unserer Geschichte herrschte eine Atmosphäre des Wohlstands in der Stadt. Dieser äußerlich glänzende Schein täuschte jedoch. In Wahrheit war die Stadt ein großes übertünchtes Grab, denn trotz der natürlichen Vorzüge der Gegend fristete die Mehrzahl der Einwohner ihr Leben im Zustand ständiger Armut, die in vielen Fällen an Elend grenzte. Einer der Gründe hierfür war, dass ein großer Teil des Einkommens der Ladeninhaber und der Fremdenheimbesitzer sowie etwa ein Drittel der Löhne der Arbeiter für Miete und Steuern draufging.
Seit Jahren borgte die Stadtverwaltung Gelder zur Ausführung der notwendigen öffentlichen Arbeiten und Verbesserungen, und im gleichen Verhältnis, in dem die Schulden der Stadt anwuchsen, stiegen auch die Steuern, denn die einzigen vom Stadtrat durchgeführten Arbeiten und von ihm betriebenen Unternehmungen waren solche, die kein Einkommen brachten. Sämtliche öffentlichen Unternehmungen, die in der Lage waren, Profit abzuwerfen, befanden sich in den Händen privater Gesellschaften, und die Aktien der privaten Gesellschaften befanden sich in den Händen der Mitglieder des Stadtrats; die Mitglieder des Stadtrats wiederum befanden sich in den Händen der vier fähigsten und intelligentesten unter ihnen: der Ratsherren Sweater, Rushton, Didlum und
Schinder, von denen jeder Direktor einer oder mehrerer der zahlreichen Gesellschaften war, die sich von der Stadt mästeten.
Da waren die Straßenbahngesellschaft, die Wasserwerksgesellschaft, die Gesellschaft für öffentliche Bäder, die Wintergarten-Gesellschaft, die Grand-Hotel-Gesellschaft und zahlreiche andere. Eine Gesellschaft aber gab es, von der Sweater, Rushton, Didlum und Schinder keine Aktien besaßen, und das war die Gas-Gesellschaft - die älteste und blühendste von allen. Diese Institution war mit der Stadt gewachsen; die meisten ihrer ursprünglichen Gründer waren tot, und die Mehrzahl ihrer gegenwärtigen Aktienbesitzer waren Stadtfremde; obwohl sie von der Stadt lebten, lebten sie doch nicht darin.
Die von dieser Gesellschaft eingenommenen Profite waren so groß, dass sie es häufig - durch das Gesetz daran gehindert, eine größere Dividende als zehn Prozent auszuschütten - schwierig fand zu entscheiden, was mit dem Gelde geschehen solle. Sie zahlten ihren Direktoren und leitenden Angestellten - die natürlich selbst Aktionäre waren - riesige Gehälter. Sie baute teure Geschäftsräume und richtete diese verschwenderisch ein, und den Rest gab sie den Aktionären in Form von Extradividenden.
Es gab eine Weise, auf welche die Gesellschaft einige ihrer Profite hätte verwenden können: sie hätte den Arbeitern, deren Gesundheit durch die furchtbare Arbeit in den Gasbereitungshäusern und den Kalkschuppen zerstört und deren Leben verkürzt wurde, eine kürzere Arbeitszeit und höhere Löhne gewähren können; aber natürlich dachte keiner der Direktoren oder der Aktionäre jemals daran, so etwas zu tun. Es war nicht Aufgabe der Gesellschaft, sich ihretwegen Sorgen zu machen.
Vor Jahren, als man es für einen verhältnismäßig geringen Betrag hätte tun können, schlug eine Anzahl hirnverbrannter Sozialisten vor, die Stadt solle das Gaswerk kaufen; dieses Projekt aber wurde von den Einwohnern zunichte gemacht, auf welche die bloße Erwähnung des Wortes „Sozialisten" die gleiche Wirkung hatte, die der volkstümlichen Meinung nach der Anblick eines roten Tuchs auf den Stier ausüben soll.
Natürlich wäre es auch jetzt noch möglich gewesen, die Gesellschaft auszukaufen, dies kostete aber angeblich so viel, dass es nach allgemeiner Ansicht undurchführbar war.
Obgleich die Leute von Mugsborough ablehnten, das Gaswerk zu kaufen, mussten sie doch das Gas kaufen. Der Betrag, den die Gemeinde der Gesellschaft für die Straßenbeleuchtung zahlen musste, nahm einen großen Platz unter den Ausgaben des Stadtrats ein. Es gelang diesem, zu einem Teil wieder auf seine Kosten zu kommen, indem er einen Einfuhrzoll von zwei Schilling pro Tonne auf die in das Stadtgebiet eingeführte Kohle legte; der bedeutete zwar für das Gaswerk viel Geld an Kohleabgaben, aber die Gasgesellschaft kam ihrerseits wieder auf ihre Kosten, indem sie den Preis für das Gas erhöhte, das sie den Einwohnern der Stadt verkaufte...
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