48. Kapitel Die Leichenfledderer
An dem Tage arbeitete Barrington nicht mehr; bevor er jedoch heimkehrte, ging er zu dem Arzt ins Haus, und der verband ihm die Wunden an Kopf und Armen. Philpots Leiche wurde mit dem Krankenwagen zur Leichenhalle gebracht.
Kurz danach kam Hunter zum Haus und begann sogleich zu brüllen und zu schimpfen, weil sie noch immer nicht begonnen hatten, den Giebel zu streichen. Als er von dem Unfall hörte, gab er ihnen die Schuld, da sie das Seil genommen hatten; er sagte, sie hätten ein neues verlangen sollen. Ehe er davonging, unterhielt er sich lange unter vier Augen mit Crass; der berichtete ihm, Philpot habe keine Verwandten gehabt, und sein Leben sei bei einer Kasse versichert gewesen, bei der auch Crass Mitglied war. Er wusste, dass Philpot festgelegt hatte, im Falle seines Todes solle das Geld der alten Frau ausgezahlt werden, bei der er zur Untermiete wohnte und die ihm eine nahe Freundin war. Im Ergebnis dieses vertraulichen Gesprächs kamen Crass und Hunter zu dem Schluss, höchstwahrscheinlich werde die alte Frau sehr erleichtert sein, wenn man sie von der Sorge um das Begräbnis befreite, und Crass, als enger Freund des Verstorbenen und Mitglied der gleichen Kasse, sei der geeignetste, die Sache für sie zu erledigen. Er kannte die alte Dame bereits flüchtig; er wollte daher unverzüglich zu ihr gehen und sich Vollmacht erteilen lassen, in ihrem Auftrag zu handeln. Natürlich konnten sie nicht viel tun, bis die Leichenschau vorüber war, aber den Sarg konnten sie schon anfertigen lassen; da Hunter den Wärter der Leichenhalle kannte, dürfte es nicht schwer sein, einen Augenblick hineinzugelangen und das Maß der Leiche zu nehmen.
Nachdem diese Angelegenheit in die Wege geleitet war, begab sich Hunter fort, um ein neues Seil zu bestellen, und kurz darauf schlich Crass - nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle reichlich zu tun hatten, während er fort war - davon, um Philpots Wirtin zu besuchen. So heimlich entfernte er sich, dass die Leute seine Abwesenheit überhaupt nicht bemerkten, bis sie ihn kurz vor zwölf Uhr zurückkommen sahen.
Das neue Seil wurde gegen ein Uhr ins Haus gebracht, und diesmal wurde die Leiter ohne Unfall aufgerichtet. Harlow erhielt den Auftrag, den Giebel zu streichen; er war so nervös, dass Sawkins die ganze Zeit über daneben stehen und die Leiter halten durfte. Alle waren sie an diesem Nachmittag nervös, und jeder war bei der Arbeit ungewöhnlich vorsichtig.
Als Bert den Keller fertiggekalkt hatte, gab ihm Crass draußen Arbeit und ließ ihn das Tor des Seiteneingangs anstreichen. Während der Junge damit beschäftigt war, sprach ihn ein feierlich aussehender Mann an und befragte ihn nach dem Unfall. Der feierlich aussehende Fremde
zeigte sich sehr mitfühlend und erkundigte sich nach dem Namen des Getöteten und ob er verheiratet gewesen sei. Bert teilte ihm mit, dass Philpot Witwer gewesen war und keine Kinder hatte.
„Ah, um so besser, nicht?" sagte der Fremde und schüttelte betrübt den Kopf. „'s ist etwas Schreckliches, wissen Sie, wenn unversorgte Kinder da sind. Sie wissen nicht zufällig, wo er gewohnt hat, wie?"
„Doch", sagte Bert, nannte die Adresse und begann sich verwundert zu fragen, wozu der feierlich aussehende Mann das wissen wollte und weshalb es ihm um Philpot so leid zu sein schien, da er ihn doch ganz offensichtlich überhaupt nicht gekannt hatte.
„Vielen Dank", sagte der Mann, zog sein Notizbuch heraus und machte eine Eintragung. „Vielen Dank. Guten Tag!" Damit eilte er fort.
„Guten Tag, mein Herr", sagte Bert und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Crass kam den Gartenweg entlang, als der geheimnisvolle Fremde gerade um die Ecke verschwand.
„Was wollte denn der?" fragte Crass, der gesehen hatte, dass der Mann mit Bert sprach.
„Genau weiß ich's nicht; hat sich nach dem Unfall erkundigt, und ob Joe Kinder hinterlassen hat und wo er gewohnt hat. Muss 'n sehr anständiger Kerl sein, mein ich. Scheint ihm richtig leid zu tun."
„So, wirklich?" sagte Crass und sah merkwürdig drein. „Weißte denn nicht, wer das ist?"
„Nö", erwiderte der Junge, „aber ich dachte, vielleicht ist das 'n Reporter von irgend'ner Zeitung."
„Das ist kein Reporter, das ist der olle Schnappse, der Beerdigungsfritze. Schnüffelt nach 'nem Auftrag rum; aber diesmal kriegt er 'n nicht, wenn er sich auch mächtig schlau vorkommt."
Barrington kam am nächsten Morgen wieder zur Arbeit, und während der Frühstückspause wurde viel über den Unfall gesprochen. Die Arbeiter meinten, Hunter habe über das Seil gut reden, er habe schon lange gewusst, dass es fast völlig abgenutzt war. Newman sagte, erst vor drei Wochen, als sie an einem anderen Arbeitsplatz eine Leiter hochzogen, habe er ihm das Seil gezeigt, und Elend habe geantwortet, es sei ganz in Ordnung. Außer Newman behaupteten noch einige andere, die Sache Hunter gegenüber erwähnt zu haben, und jeder sagte, er habe die gleiche Antwort erhalten. Als aber Barrington vorschlug, sie sollten an der Leichenschau teilnehmen und es bezeugen, wurden plötzlich alle still, und bei einer späteren Unterhaltung mit Barrington erklärte Newman, Philpot helfe es ja doch nicht, wenn er so handelte. Ihn brächte es nicht zurück, und sich selbst schadete Newman ganz bestimmt sehr damit. Er würde nie wieder bei Rushton Arbeit erhalten, und wahrscheinlich setzten ihn viele der anderen Unter nehmer gleichfalls auf die „schwarze Liste".
„Wenn du etwas darüber sagst", schloss Newman, „nenn also bitte nicht meinen Namen."
Barrington war gezwungen, zuzugeben, dass Newman, alles in allem betrachtet, recht hatte, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er dachte, es wäre nicht gerecht, ihn oder sonst jemand zu drängen, etwas zu tun oder zu sagen, was ihnen Schaden brächte.
Gegen elf Uhr kam Elend zum Haus und teilte mehreren der Arbeiter mit, sie werden, da es nicht viel Arbeit gebe, bei der Lohnauszahlung ihren rückständigen Tageslohn erhalten. Er sagte, die Firma habe sich um ein oder zwei Aufträge beworben; deshalb könnten sie also gegen Mittwoch mal vorbeikommen; dann wäre es ihm vielleicht möglich, ein paar von ihnen wieder einzustellen. Barrington gehörte nicht zu denen, die „abgebaut" wurden, obgleich er es wegen seiner Rede auf dem Betriebsausflug eigentlich erwartet hatte, und alle sagten, bestimmt hätte man ihn hinausgesetzt, wenn nicht der Unfall gewesen wäre.
Ehe er fortging, beauftragte Nimrod Owen und Crass, sofort zum Gerätehof zu gehen; dort fänden sie Payne, den Tischler, der Philpots Sarg anfertigte; bis sie dorthin kämen, wäre der fertig, damit Crass ihn firnissen konnte.
Elend sagte zu Owen, er habe das Sargschild und die Anweisungen bei Payne gelassen, und er setzte hinzu, Owen dürfe nicht zuviel Zeit auf das Schreiben verwenden, denn es sei nur ein sehr billiger Sarg.
Als sie auf dem Gerätehof ankamen, war Payne gerade dabei, den Sarg fertig zu stellen, der aus Ulmenholz war. Nur die Innenfugen mussten noch mit Pech ausgestrichen werden, und Payne war gerade damit beschäftigt, den Topf mit dem kochenden Pech vom Feuer zu heben, um diese Arbeit zu verrichten.
Da der Sarg so billig war, hatte Crass keine Zeit, ihn richtig zu polieren; so ging er also daran, zweimal Firnis darüber zu streichen, und währenddessen schrieb Owen das Sargschild - eine dünne Zinkplatte, die überlackiert war, damit sie wie Messing aussah:
JOSEPH PHILPOT
gestorben
am 1. September 19—
im Alter von
56 Jahren
Die Leichenschau wurde am nächsten Montagmorgen abgehalten, und da es sowohl Rushton als auch Hunter für möglich hielten, dass Barrington versuchen werde, ihnen einen Teil der Schuld zu geben, hatten sie es hinter den Kulissen fertig gebracht, dass mehrere ihrer Freunde unter den Geschworenen saßen. Ihre Sorge war jedoch unbegründet, denn Barrington konnte nicht sagen, er selbst habe den Zustand des Seils bemerkt oder Hunters Aufmerksamkeit darauf gelenkt, und die Namen der anderen wollte er ohne ihre Zustimmung nicht nennen. Crass und die übrigen vorgeladenen Arbeiter bezeugten, es sei der reine Zufall gewesen. Niemand habe bemerkt, dass das Seil nicht fest war. Hunter schwor ebenfalls, er habe nichts davon gewusst - keiner der Leute habe ihn jemals darauf aufmerksam gemacht; wäre das geschehen, so hätte er sofort ein neues Seil besorgt.
Philpots Wirtin und Mr. Rushton wurden gleichfalls als Zeugen geladen, und das Ende war, dass der Spruch der Geschworenen auf Tod infolge eines Unfalls lautete, und sie setzten hinzu, sie glaubten nicht, dass irgend jemand eine Schuld daran trage.
Der Leichenbeschauer entließ die Geschworenen, und als sie und die Zeugen aus dem Raum traten, folgte Hunter Rushton nach draußen, in der Hoffnung, durch ein kleines Gespräch über den befriedigenden Ausgang des Falles geehrt zu werden; Rushton ging jedoch davon, ohne Notiz von ihm zu nehmen, und so kehrte Hunter in den Raum zurück, in dem die Verhandlung stattgefunden hatte, um sich vom Leichenbeschauer die Bestattungsgenehrnigung zu holen. Dieses Dokument wird gewöhnlich den Freunden des Verstorbenen oder dem Beerdigungsinstitut ausgehändigt, das sie vertritt. Als Hunter in den Raum zurückkehrte, stellte er fest, dass der Leichenbeschauer den Schein in seiner Abwesenheit Philpots Wirtin gegeben und diese ihn mitgenommen hatte. Deshalb eilte er wieder hinaus, um die Frau darum zu bitten; sie war jedoch nirgends zu sehen.
Crass und die übrigen Leute waren gleichfalls fort, sie waren an die Arbeit zurückgeeilt, und nachdem Hunter einen Augenblick gezögert hatte, entschied er, es komme nicht sehr auf die Bescheinigung an. Crass hatte ja die Sache mit der Wirtin abgesprochen, und den Schein konnte er auch später von ihr holen. Nachdem Hunter zu diesem Schluss gelangt war, beschäftigten sich seine Gedanken nicht mehr mit der Angelegenheit; er hatte an dem Nachmittag noch mehrere Kostenanschläge auszuarbeiten, Berechnungen für Aufträge, um welche die Firma sich bewerben wollte.
Nachdem Crass und Sawkins zum Tee zu Hause gewesen waren, trafen sie sich am Abend, wie vorgesehen, in der Tischlerwerkstatt, um den Sarg zur Leichenhalle zu bringen, wo Elend sich um halb neun Uhr mit ihnen verabredet hatte. Hunters Plan war, die Beerdigung von der Leichenhalle aus stattfinden zu lassen, die nur eine Viertelstunde vom Gerätehof entfernt lag; heute Abend wollten sie also nur die Leiche in den Sarg legen und den Deckel aufschrauben.
Heftig blies der Wind, und dicht fiel der Regen, als Crass und Sawkins sich mit dem Sarg auf den Schultern, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt war, auf den Weg machten. Sie nahmen auch ein paar kleine Böcke mit, um den Sarg daraufzustellen. Einen davon trug Crass über dem Arm und Sawkins den anderen.
Auf ihrem Weg mussten sie an den „Cricketers" vorbei, und das Wirtshaus sah so einladend aus, dass sie beschlossen, dort Haltzumachen und ein Glas Bier zu trinken -bloß um sich die Nässe vom Leib zu halten, und da sie ja den Sarg nicht gut mit hineinnehmen konnten, stellten sie ihn aufrecht gegen die Backsteinwand in geringer Entfernung von der Tür, denn wie Crass lachend bemerkte, war die Gefahr gering, dass ihn etwa jemand stibitzte. Der „olle Knabe" bediente sie, und als sie eben ihre Viertellitergläser austranken, gab es draußen einen lauten Krach; Crass und Sawkins eilten hinaus und sahen, dass der Wind den Sarg umgeblasen hatte und der mit dem Boden quer über dem Bürgersteig stand, während das schwarze Tuch, das darumgewickelt war, draußen in der Mitte der schlammigen Straße lag. Nachdem sie es aufgehoben hatten, schüttelten sie soviel von dem Schmutz ab, wie sie konnten, legten es wieder um den Sarg und machten sich von neuem auf den Weg zur Leichenhalle, wo Hunter schon auf sie wartete, in eine ernste Unterhaltung mit dem Wärter vertieft. Das elektrische Licht wurde angeknipst, und als Crass und Sawkins hineingingen, sahen sie, dass die Marmorplatte leer war.
Die Leiche war fort.
„Schnappse ist heute Nachmittag mit 'nem Handwagen und 'nem Sarg gekommen", erklärte der Wärter. „Ich bin grad weggewesen, und die Frau hat gedacht, 's wär in Ordnung und hat ihm den Schlüssel gegeben."
Hunter und Crass sahen einander betroffen an.
„Na, das ist doch die Höhe!" erklärte dieser, sobald er Worte fand.
„Ich dachte, Sie sagten, Sie hätten alles mit der alten Frau abgesprochen?" meinte Hunter.
„Hab ich auch", erwiderte Crass. „Hab sie doch am Freitag aufgesucht und hab ihr gesagt, sie soll alles mir überlassen; ich will mich drum kümmern, und sie hat gesagt, sie ist einverstanden. Ich hab ihr erzählt, Philpot hätt mir gesagt, wenn ihm je was passiert, soll ich mich an ihrer Stelle um alles kümmern, weil ich sein bester Freund bin. Und ich hab ihr gesagt, wir würden's so billig wie möglich machen."
„Na, mir scheint, irgendwie haben Sie's vermurkst" sagte Nimrod düster. „Hätt lieber selbst zu ihr gehen sollen. Hab ich doch gleich gefürchtet, dass Sie's versauen würden!" fügte er in weinerlichem Ton hinzu. „Immer das gleiche: alles, was ich nicht selbst mache, geht schief."
Ein ungemütliches Schweigen folgte. Crass dachte, den Hauptanteil am „Vermurksen" dieser Angelegenheit trage Hunter mit seinem Versäumnis, sich nach der Leichenschau in den Besitz der Bestattungsgenehmigung zu setzen; er fürchtete sich jedoch, das auszusprechen.
Draußen fiel noch immer der Regen hernieder und drang durch die halboffene Tür, und die Luft in der Leichenhalle wurde noch kälter und feuchter, als sie gewöhnlich war. Der leere Sarg stand aufrecht gegen eine der Wände gelehnt, und die Marmorplatte war mit Blut befleckt, denn der Wärter hatte noch keine Zeit gehabt, sie zu säubern, seit die Leiche fortgeschafft worden war.
„Kann mir schon vorstellen, wie's gemacht worden ist", sagte schließlich Crass. „Eins von den Mitgliedern der Kasse arbeitet für Schnappse, und der hat's übernommen, den Auftrag für die Beerdigung zu erteilen; aber dazu hat er überhaupt kein Recht."
„Recht hin, Recht her - er hat's gemacht", antwortete Elend. „Bringt die Kiste mal lieber wieder in die Werkstatt."
Crass und Sawkins kehrten also zur Werkstatt zurück, wo Nimrod sich bald darauf zu ihnen gesellte.
„Ich hab mir auf dem Weg die Sache durch den Kopf gehen lassen", sagte er, „und's fällt mir gar nicht ein, mich so von Schnappse geschlagen zu geben; ihr beiden könnt die Böcke und die Kiste auf 'nen Handwagen laden, und wir fahren sie zu Philpots Wohnung rüber."
Nimrod ging auf dem Bürgersteig, während die beiden anderen den Karren schoben, und als sie in der Straße in Windley ankamen, wo Philpot gewohnt hatte, war es ungefähr halb zehn Uhr. An einer dunklen Stelle der Straße, einige Meter von dem Hause entfernt, machten sie auf der gegenüberliegenden Seite halt.
„Ich meine, das Beste, was wir machen können", sagte Elend, „ist, dass ich und Sawkins hier warten, während
Sie ins Haus reingehn und mal die Lage peilen. Bisher haben immer Sie mit ihr verhandelt. Hat keinen Zweck, die Kiste reinzubringen, bevor wir sicher sind, dass die Leiche da ist; man kann ja nicht wissen, ob Schnappse sie nicht mit zu sich genommen hat."
„Ja, so wird's woll am besten sein", stimmte ihm Crass zu, nachdem er einen Augenblick lang nachgedacht hatte.
Nimrod und Sawkins suchten also im Eingang eines leeren Hauses Schutz und ließen den Handwagen an der Bordschwelle stehen, während Crass über die Straße ging und an Philpots Tür klopfte. Sie sahen, dass diese von einer älteren Frau geöffnet wurde, die eine brennende Kerze in der Hand hielt; dann ging Crass hinein, und die Tür wurde geschlossen. Nach etwa einer Viertelstunde erschien er wieder, ließ die Tür hinter sich halboffen stehen, kam heraus und über die Straße zu der Stelle, wo die anderen auf ihn warteten. Als er sich näherte, konnten sie sehen, dass er ein Stück Papier in der Hand hielt.
„Geht in Ordnung", sagte er heiser flüsternd, als er bei ihnen war. „Den Schein hab ich."
Elend griff eifrig nach dem Papier und prüfte es beim Licht eines von Crass angezündeten Streichholzes. Es war wirklich die Bestattungsgenehmigung; mit einem Seufzer der Erleichterung steckte Hunter sie in sein Notizbuch und barg dieses sicher in der Innentasche seines Rocks, während Crass über das Ergebnis seines Gangs berichtete.
Anscheinend hatte das andere Mitglied der Versicherungskasse in Begleitung Schnappses die alte Frau aufgesucht und sie durch Irreführung veranlasst, ihnen den Auftrag für die Beerdigung zu erteilen. Sie waren es gewesen, die sie angestiftet hatten, sich vom Leichenbeschauer die Bestattungsgenehmigung geben zu lassen -sie waren so vorsichtig gewesen, sich selbst von der Leichenschau fernzuhalten, um nicht Hunters oder Crass' Verdacht zu erregen.
„Als sie heute Nachmittag die Leiche nach Haus gebracht haben", fuhr Crass fort, „hat Schnappse versucht, ihr die Bestattungsgenehmigung abzuschwatzen; aber sie hatte sich die Sache überlegt und hatte 'n bisschen Angst, weil sie gewusst hat, das sie's schon mit mir abgemacht hatte,
und sie dachte, sie wollt lieber erst mal mit mir reden; da hat sie ihm also gesagt, sie würd sie ihm am Donnerstag geben, das ist der Tag, an dem er die Beerdigung machen wollte."
„Er wird feststellen, dass er 'nen Tag zu spät kommt", sagte Elend mit scheußlichem Grinsen. „Wir erledigen's am Mittwoch."
„Zuerst wollte sie mir den Schein nicht geben", schloss Crass seinen Bericht, „aber ich hab ihr gesagt, wir würden das Kind schon schaukeln, wenn der olle Schnappse etwa versuchen sollte, für den andren Sarg Geld aus ihr herauszuholen."
„Glaub nicht, dass er viel Lärm drum schlagen wird", meinte Hunter. „Wird wohl nicht jeden wissen lassen wollen, dass er so scharf auf den Auftrag war."
Crass und Sawkins schoben den Handwagen auf die andere Straßenseite, hoben den Sarg herunter und trugen ihn ins Haus, wobei Nimrod voranging.
Die alte Frau erwartete sie am Flurende, die Kerze in der Hand.
„Ich werd froh sein, wenn alles vorüber ist", sagte sie, als sie vor ihnen die enge Treppe hinaufstieg; dicht hinter ihr ging Hunter, der die Böcke trug, während Crass und Sawkins mit dem Sarg den Abschluss machten. „Ich werd froh sein, wenn alles vorüber ist; 's steht mir bis zum Hals, dauernd für Vertreter von Beerdigungsinstituten die Tür aufzumachen. Mindestens 'n Dutzend sind seit Freitag hier gewesen, alle hinter dem Auftrag her - von all den Karten gar nicht zu reden, die sie mir unter die Tür gesteckt haben, und dazu noch welche, die mir die verschiedensten Leute gegeben haben. Ich hab 'n Paar Stiefel flicken lassen, und der Mann hat sich doch tatsächlich die Mühe gemacht und sie mir hergebracht, als sie fertig waren - das hat er noch nie getan -, bloß um 'nen Vorwand zu haben, mir 'ne Karte von 'nem Beerdigungsinstitut zu geben.
Dann hat mir der Milchmann eine gebracht und eine der Bäcker, und der Gemüsehändler hat mir auch noch eine gegeben, wie ich letzten Sonnabend hingegangen bin, für Sonntag Gemüse holen."
[[Als sie im obersten Stock angekommen waren, öffnete die alte Frau eine Tür und trat in ein kleines, ärmlich eingerichtetes Zimmer.
Vor der unteren Hälfte des Schiebefensters hing ein zerfetztes Stück von einer Spitzengardine. Die niedrige Decke war rissig und verfärbt.
Das Zimmer enthielt einen kleinen wackligen, hölzernen Waschtisch und an einer Wand ein schmales Bett mit einer zerlumpten grauen Steppdecke; darauf lag ein Bündel mit dem Anzug, den der Tote zur Zeit des Unfalls getragen hatte.]]
Vor dem Fenster stand ein Tischchen mit einem kleinen Spiegel darauf und neben dem Bett ein Rohrstuhl; der Boden war mit einem verschossenen grauen Teppich bedeckt, dessen Muster nicht mehr zu erkennen und der an mehreren Stellen durchlöchert war.
In der Mitte des schäbigen Zimmers stand auf einem Paar Böcken der Sarg mit Philpots Leiche. Im trüben, flackernden Licht der Kerze bot dieser mit einem weißen Tuch bedeckte Sarg in seiner stummen, feierlichen Einsamkeit ein schreckliches Bild.
Hunter lehnte die Böcke, die er getragen hatte, gegen die Wand, und die anderen beiden setzten den leeren Sarg neben dem Bett auf den Boden. Die alte Frau stellte den Kerzenhalter auf den Kaminsims und ging mit der Bemerkung hinaus, sie brauchten wohl ihre Hilfe nicht. Nun zogen die drei Männer die Mäntel aus und legten sie auf das Fußende des Bettes, und Crass holte zwei große Schraubenzieher aus seiner Manteltasche, von denen er Hunter einen reichte. Sawkins hielt die Kerze, während sie den Deckel des von ihnen mitgebrachten Sarges losschraubten und ihn abhoben: ganz leer war der Sarg nicht, denn sie hatten darin eine Werkzeugtasche mitgebracht!
„Ich glaub, wir können besser arbeiten, wenn wir den andren von den Böcken heben und auf den Boden stellen", bemerkte Crass.
„Bin auch der Meinung", antwortete Hunter.
Crass nahm das Tuch herunter und warf es aufs Bett; der so enthüllte andere Sarg glich sehr dem, den sie mitgebracht hatten, denn er war gleichfalls aus Ulmenholz
und hatte die üblichen imitierten Messingbeschläge. Hunter packte das Kopfende und Crass das Fußende, und sie hoben ihn von den Böcken herunter auf den Fußboden.
„Sehr schwer ist er nicht, ein Glück!" bemerkte Hunter.
„War schon immer 'n sehr magerer Kerl", antwortete Crass.
Die Schrauben, die den Deckel hielten, waren mit großÂköpfigen Messingnägeln bedeckt, die sie erst losstemmen mussten, bevor sie an die Schrauben gelangen konnten; von denen gab es im ganzen acht. Den Köpfen war anzusehen, dass sie alt und bereits vorher zu irgend etwas benutzt worden waren; sie waren rostig und verschieden groß, einige bedeutend größer oder kleiner, als sie hätten sein sollen. So fest waren sie eingeschraubt, dass den beiden Männern der Schweiß nur so herunterströmte, als sie erst die Hälfte von ihnen entfernt hatten. Nach einer Weile nahm Hunter Sawkins die Kerze ab, und der versuchte sich an den Schrauben.
„Man sollte meinen, die verfluchten Dinger wären schon hundert Jahre da drin!" bemerkte Hunter wütend, während er sich mit dem Taschentuch den Schweiß von Gesicht und Hals wischte.
Die anderen beiden knieten auf dem Sargdeckel, und vor Anstrengung schnaufend und grunzend, fuhren sie fort, sich mit ihrer Arbeit herumzuplagen. Plötzlich stieß Crass einen unflätigen Fluch aus: er hatte einer Schraube eine Hälfte des Kopfes abgebrochen, während er versuchte, sie herauszudrehen, und fast im gleichen Augenblick passierte Sawkins das gleiche Missgeschick.
Danach nahm Hunter den Schraubenzieher wieder selbst, und als sie mit Ausnahme der beiden abgebrochenen alle Schrauben herausbekommen hatten, nahm Crass Hammer und Meißel aus der Werkzeugtasche und begann, den Rest der beiden übrig gebliebenen Schraubenköpfe abzuschlagen. Aber selbst nachdem das geschehen war, hielten die beiden Schrauben den Sargdeckel noch immer fest, und so mussten sie das Meißelende unter den Deckel hämmern und ihn aufstemmen, damit sie ihn mit den Fingern greifen konnten. Als sie ihn abrissen, spaltete er sich auf einer Seite, und der Tote wurde sichtbar.
Zwar waren die Abschürfungen und Quetschungen auf Philpots Gesicht noch immer zu sehen, doch die Todesblässe hatte sie gemildert, und ein Ausdruck der Ruhe und des Friedens lag über seinem Antlitz. Die Hände waren über der Brust gekreuzt, und wie er dort in den schneeweißen Sterbekleidern lag, fast bedeckt von der weißen Spitzenrüsche, die den Sargrand umgab, sah er aus, als schliefe er einen tiefen, sorglosen Schlaf.
Sie legten den zerbrochenen Deckel auf das Bett und stellten die beiden Särge auf dem Fußboden Seite an Seite, so nahe wie möglich nebeneinander. Sawkins stand neben einer der Längswände und hielt die Kerze in der Linken, bereit, mit der Rechten helfend einzugreifen, falls es sich plötzlich als nötig erweisen sollte. Crass, am Fußende, ergriff die Leiche bei den Knöcheln, während Hunter sie am anderen Ende mit seinen riesigen, klauenähnlichen Händen, die den Krallen irgendeines ekligen Raubvogels glichen, bei den Schultern packte, und sie zogen sie heraus und legten sie in den anderen Sarg.
Während Hunter, wie ein Leichenräuber über den Toten gebeugt, die Sterbekleider und die Rüsche in Ordnung brachte, legte Crass den zerbrochenen Deckel auf den anderen Sarg und schob diesen aus dem Weg und unter das Bett. Dann las er die nötigen Schrauben und Nägel aus der Werkzeugtasche, und da Hunter inzwischen fertig war, machten sie sich nun daran, den Deckel festzuschrauben. Dann hoben sie den Sarg auf die Böcke, bedeckten ihn mit dem Tuch, und der Anblick, den er nun bot, glich so genau dem, den sie gehabt hatten, als sie in das Zimmer traten, dass allen der gleiche Gedanke kam: wenn es nun Schnappse einfiel, herzukommen und die Leiche wieder herauszuholen? Wenn er das tat und sie zum Friedhof brachte, mussten sie ihm womöglich die Bestattungsgenehmigung aushändigen, und dann wäre alle ihre Mühe umsonst.
Nach einer kurzen Beratung kamen sie zu dem Schluss, es wäre wohl sicherer, die Leiche auf dem Handwagen zum Gerätehof zu schaffen und sie bis zur Beerdigung in der Tischlerwerkstatt aufzubewahren, von wo aus das Begräbnis ja stattfinden konnte. Crass und Sawkins hoben also den Sarg von den Böcken und trugen ihn - während Hunter das Licht hielt - nach unten, eine ziemlich schwierige Aufgabe, da Stiege und Treppenabsatz sehr schmal waren Sie brachten ihn jedoch schließlich hinunter, und nachdem sie ihn auf den Handwagen geladen hatten, legten sie die schwarze Decke darüber. Es regnete noch immer, und die Laterne des Handwagens war fast verlöscht; deshalb putzte Sawkins die Kerze und zündete sie von neuem an, bevor sie sich auf den Weg machten.
An der Straßenecke wünschte ihnen Hunter „gute Nacht", denn es war nicht nötig, dass er sie bis zum Gerätehof begleitete - was nun noch zu tun blieb, konnten sie allein besorgen. Er sagte, er werde die Vorkehrungen für die Beerdigung am nächsten Morgen so früh wie möglich treffen und dann zur Arbeitsstelle kommen, um ihnen mitzuteilen, sobald er selbst es wusste, um wie viel Uhr sie sich als Leichenträger bereithalten mussten. Er war ein kurzes Stück gegangen, da blieb er stehen und kehrte zu ihnen zurück.
„Ist nicht grad nötig, dass einer von euch über die Angelegenheit quatscht, hört ihr", sagte er.
Die beiden Leute erklärten, das sei ihnen klar; er könne sich darauf verlassen, dass sie den Mund hielten.
Als Hunter fort war, zog Crass die Uhr. Es war Viertel vor elf.
Etwas weiter unten auf der Straße glimmten die Lichter eines Wirtshauses durch den Nebel.
„Wir schaffen's grad noch, ein Glas zu trinken, eh sie schließen, wenn wir uns auf die Socken machen", sagte er. Und mit diesem Ziel eilten sie weiter, so schnell sie konnten.
Als sie die Schenke erreicht hatten, ließen sie den Karren an der Bordschwelle stehen und gingen hinein; dort bestellte Crass zwei halbe Liter Starkbier, für die zu zahlen er Sawkins gestattete.
„Wie machen wir 'n das mit dieser Arbeit?" fragte der, nachdem jeder von ihnen einen langen Zug getan hatte, denn nach den Anstrengungen waren sie durstig. „Ich meine, wir müssten mehr dafür kriegen als bloß 'nen Schilling, denkste nicht? Ist doch nicht wie 'n gewöhnliches ,Reinheben'."
„Natürlich nicht", antwortete Crass. „Wir müssten ungefähr, sagen wir mal" - er dachte nach -, „sagen wir mal mindestens jeder anderthalb Schilling kriegen."
„Das ist wenig genug", sagte Sawkins. „Ich wollt grad selber 'ne halbe Krone sagen."
Crass stimmte zu, selbst eine halbe Krone wäre nicht zuviel.
„Wie berechnen wir's denn auf unsrem Lohnzettel?" fragte Sawkins nach einer Pause. „Wenn wir bloß schreiben ,Einmal reinheben', zahlen sie uns vielleicht bloß 'nen Schilling wie immer."
Gewöhnlich schrieben sie auf ihren Lohnzettel, wenn sie einen Sarg ins Haus bringen mussten, „Einmal reinheben", wofür sie im allgemeinen einen Schilling erhielten, wenn es nicht gerade eine sehr vornehme Beerdigung war - dann bekamen sie zuweilen einen Schilling sechs Pence. Für diese Arbeiten erhielten sie niemals Stundenlohn.
Crass rauchte nachdenklich.
„Ich meine, das beste ist, wenn wir's so machen", sagte er schließlich. „Philpots Beerdigung. Einmal rausheben und einmal reinheben. Dazu: Leiche zur Tischlerwerkstatt bringen. Wie ist 'n das?"
Sawkins erklärte, das wäre ausgezeichnet formuliert, und sie tranken eben ihr Bier aus, als der Wirt andeutete, es sei nun Zeit zu schließen. Der Karren stand noch, wo sie ihn gelassen hatten, das schwarze Tuch vom Regen durchnässt; trübsinnig tropfte es aus den dunklen Falten.
Als sie zu dem unbebauten Grundstück gelangten, das sie zu überqueren hatten, um das Tor des Gerätehofes zu erreichen, mussten sie sehr vorsichtig gehen, denn es war sehr dunkel, und die Laterne verbreitete nicht viel Licht. Es standen eine Anzahl Karren und Lastwagen dort, und der Weg wand sich zwischen Pfützen und Abfallhaufen hindurch. Nach vielen Schwierigkeiten und häufigem Anstoßen erreichten sie das Tor, und mit dem Schlüssel, den Crass zu Beginn des Abends aus dem Büro geholt hatte, schloss er das Tor auf. Kurz darauf öffneten sie die Tür der Tischlerwerkstatt, und nachdem sie das Gas angezündet hatten, stellten sie die Böcke zurecht, brachten den Sarg herein und hoben ihn darauf. Dann verschlossen sie die Tür und legten den Schlüssel an sein übliches Versteck; den Schlüssel des äußeren Tors aber nahmen sie mit und warfen ihn in den Briefkasten im Büro, wo sie auf dem Heimweg vorbeigehen mussten.
Als sie sich von der Tür fortwandten, stand plötzlich ein Polizist vor ihnen, der ihnen mit seiner Laterne ins Gesicht leuchtete und wissen wollte, weshalb sie sich an dem Schloss zu schaffen gemacht hätten...
Am nächsten Morgen war Hunter sehr beschäftigt; er musste mehrere neue Arbeiten anfangen lassen. Es waren alles kleinere Aufträge. Die meisten dauerten vom Beginn bis zur Fertigstellung nur zwei oder drei Tage.
Es kostete ihn den größten Teil des Vormittags, diese Arbeit zu erledigen; trotzdem aber brachte er es fertig, die nötigen Vorkehrungen für die Beerdigung zu treffen, die er für Mittwoch Nachmittag zwei Uhr von der Leichenhalle aus festlegen ließ, wohin der Sarg während des Tages gebracht worden war; denn Hunter war doch zu dem Schluss gekommen, es sähe nicht gut aus, wenn die Beerdigung von der Werkstatt aus stattfände.
Obgleich Hunter soweit wie möglich Stillschweigen darüber bewahrt hatte, fand sich eine kleine Menschenmenge ein, darunter mehrere alte Arbeitskollegen Philpots, die gerade arbeitslos waren und draußen vor der Leichenhalle warteten, um den Leichenzug fortziehen zu sehen; unter anderen standen auch Bill Bates und der Halbbetrunkene dort - beide nüchtern. Barrington und Owen waren gleichfalls da; sie hatten für heute die Arbeit eingestellt, um zur Beerdigung zu gehen. In gewissem Sinne waren sie auch als Vertreter der anderen Kollegen dort, denn Barrington trug einen großen Kranz, für den Rushtons Leute gesammelt hatten. Sie konnten es sich nicht alle leisten, die Zeit zur Teilnahme an der Beerdigung zu verlieren, obgleich die meisten ihrem alten Kameraden gern diese Ehre erwiesen hätten, und so hatten sie das als nächstbestes getan. An dem Kranz war ein Streifen weißen Satins befestigt, auf den Owen eine passende Inschrift gemalt hatte.
Punkt zwei Uhr fuhren der Leichenwagen und die Trauerkutsche vor mit Hunter und den vier Leichenträgern - Crass, Slyme, Payne und Sawkins, alle in Schwarz, mit Frack und Zylinderhut. Obgleich sie angeblich gleich gekleidet waren, boten sie einen bemerkenswert unterschiedlichen Anblick. Crass' Frack war aus glattem, tiefschwarzem Tuch, denn er war erst kürzlich aufgefärbt worden, und sein Zylinder war ziemlich niedrig - von der Form, die sich nach oben hin verbreitert. Hunters Rock war aus einer Art Serge, von ziemlich rötlichem Farbton, und sein Zylinder war sehr hoch und gerade, oben etwas schmaler als an der Krempe. Die übrigen hatten jeder einen Zylinder anderen Modestils und Datums auf, und ihre „schwarzen" Anzüge waren von rostbrauner bis dunkelblauer Färbung.
Diese Unterschiede kamen dadurch zustande, dass die meisten der Kleidungsstücke zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Althändlern gekauft worden waren, und da sie niemals benutzt wurden, außer zu solchen Gelegenheiten, hielten sie unbegrenzte Zeit.
Als der Sarg herausgebracht und auf den Leichenwagen geladen worden war, legte Hunter den Kranz darauf, den Barrington ihm gegeben, zusammen mit einem zweiten, den er selbst mitgebracht hatte und an dem ein ähnliches Band hing mit der Inschrift: „Rushton & Co. mit tiefem Bedauern".
Als Bill Bates und der Halbbetrunkene sahen, dass Barrington und Owen die einzigen Insassen der Trauerkutsche waren, kamen sie zum Schlag und fragten, ob die beiden etwas dagegen hätten, wenn sie mitführen, und da weder Owen noch Barrington Einspruch erhob, hielten sie es nicht für nötig, sonst noch jemand um Erlaubnis zu bitten, und stiegen ein.
Inzwischen hatte Hunter seinen Platz einige Meter vor dem Leichenwagen eingenommen und die Träger den ihren - zwei zu jeder Seite. Als der Zug in die Hauptstraße einbog, sahen sie Schnappse sehr trübselig aussehend an der Ecke stehen. Hunter hielt den Blick geradeaus gerichtet und tat, als sehe er ihn nicht; Crass aber konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich ein höhnisches Grinsen zu leisten, welches Schnappse derartig in Wut versetzte, dass er herüberrief:
„Macht nichts! Ich verlier nicht viel! Ich kann 'n für jemand anders benutzen!"
Die Entfernung zum Friedhof betrug knapp fünf Kilometer; sobald sie daher die belebten Straßen der Stadt verlassen hatten, ließ Hunter Halt machen und stieg neben den Kutscher auf den Leichenwagen; Crass setzte sich auf die andere Seite, und zwei der übrigen Leichenträger stellten sich in den Raum hinter dem Kutschensitz, während der vierte sich neben den Fahrer der Trauerkutsche setzte; dann fuhren sie in schnellem Trab weiter.
Als sie in die Nähe des Friedhofs kamen, fuhren sie langsamer, und schließlich hielten sie, ungefähr fünfzig Meter vor dem Tor. Nun nahmen Hunter und die Leichenträger ihre früheren Plätze wieder ein, und sie schritten durch das offene Tor bis zur Kirchentür, wo sie vom Küster empfangen wurden, einem Mann in einem verschossenen schwarzen Talar, der daneben stand, als sie den Sarg hineintrugen und auf eine Art erhöhten Tisch stellten, der sich auf einem Zapfen drehte. Sie brachten den Sarg mit dem Fußende voran hinein, und sobald sie ihn auf den Tisch gestellt hatten, drehte der Küster diesen, so dass das Fußende des Sarges, zum Hinaustragen bereit, zur Tür zeigte.
Für Leichenbesorger war ein gesonderter Kirchenstuhl reserviert; in diesem nahmen Hunter und die Leichenträger Platz und warteten auf die Ankunft des Pfarrers. Barrington und die drei anderen saßen auf der entgegengesetzten Seite. Es gab keinen Altar und keine Kanzel in der Kirche; aber am anderen Ende des Schiffes stand auf einer etwas erhöhten Plattform eine Art Lesepult.
Nachdem sie ungefähr zehn Minuten gewartet hatten, trat der Pfarrer ein, begab sich sogleich an das Pult und begann schnell und gänzlich unverständlich das übliche Totenamt zu halten. Hätte nicht jeder seiner Hörer ein Exemplar seines Textes gehabt - denn in jedem Kirchenstuhl lag ein kleines Buch -, so hätte keiner von ihnen den Sinn dessen, was der Mann daherplapperte, verstehen können. Unter jedem anderen Umstand hätte der Anblick eines Menschen, der auf so absurde Weise redete, Gelächter hervorgerufen und ebenso auch die Behauptung, dieser
Mensch glaube, er spreche wirklich das Höchste Wesen an. Seine Haltung und Sprechweise waren auf verächtliche Weise gleichgültig. Während er die Worte des Totenamts aufsagte, dahersang oder plapperte, las er die Bestattungsgenehmigung und irgendeinen anderen Schein, den der Küster auf das Pult gelegt hatte, und als er diese gelesen, wanderte sein Blick geistesabwesend rings in der Kapelle umher und ruhte lange mit einem Ausdruck der Neugierde auf Bill Bates und dem Halbbetrunkenen, die ihr Bestes taten, den Worten, die er hersagte, in ihrem Buch zu folgen. Danach wandte er seine Aufmerksamkeit seinen Fingern zu, hielt die Hand fast um Armeslänge fort und betrachtete kritisch sein Nägel.
Während dieses jämmerliche Theater vonstatten ging, ließ der Küster in dem verschossenen schwarzen Talar von Zeit zu Zeit mechanisch ein klingendes „A-men" ertönen, und nachdem die Lektion beendet war, verließ der Pfarrer die Kirche und kürzte sich den Weg ab, indem er zwischen den Grabsteinen und -figuren hindurchging, während die Träger den Sarg wieder auf die Schultern nahmen und dem Küster zum Grab folgten. Als sie einige Meter vor ihrem Bestimmungsort angekommen waren, gesellte sich der Pfarrer, der an der Pfadbiegung auf sie gewartet hatte, wieder zu ihnen. Mit einem offenen Buch in der Hand setzte er sich an die Spitze des Zuges, und während sie langsam dahinzogen, begann er von neuem, den Text des Totenamts vorzulesen oder herzusagen.
Er hatte einen alten Talar an und ein sehr fleckiges, etwas zerrissenes Chorhemd. Das unwürdige Aussehen dieses schmutzigen Kleidungsstücks wurde noch durch den Umstand unterstrichen, dass er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, es richtig anzuziehen. Es hing gänzlich schief und ließ auf einer Seite etwa fünfzehn Zentimeter mehr von dem schwarzen Talar darunter sehen als auf der anderen.
Vielleicht ist es aber nicht recht, das Aussehen dieses Menschen so streng zu kritisieren, denn dem armen Kerl wurden für jede Beerdigung nur siebeneinhalb Schilling bezahlt, und da dies erst das vierte Begräbnis war, das er an dem Tage vornahm, konnte er es sich vielleicht nicht leisten, saubere Wäsche zu tragen - zumindest nicht bei den Beerdigungen von Leuten der unteren Klassen.
Er fuhr in seinem unverständlichen Gebrabbel fort, während der Sarg in das Grab gesenkt wurde, und wer zufällig die Worte des Totenamts auswendig kannte, konnte unter einigen Schwierigkeiten verstehen, was er sagte:
„Da es Gott dem Allmächtigen in seiner großen Barmherzigkeit gefallen hat, die Seele unseres verstorbenen lieben Bruders hier zu sich zu nehmen, geben wir nun seinen Körper der Erde zurück; denn du bist Erde und sollst zu Erde werden ... "
Die Erde fiel aus der Hand des Küsters und polterte mit dumpf klagendem Geräusch auf den Sarg, und als der Pfarrer das Totenamt zu Ende gelesen hatte, wandte er sich um und schritt in Richtung der Kirche davon. Hunter und die übrigen Teilnehmer des Trauerzugs begaben sich zum Friedhofstor, wo der Leichenwagen und die Trauerkutsche warteten.
Auf dem Weg sahen sie noch einen zweiten Trauerzug, der ihnen entgegenkam. Der Leichenwagen - sehr einfach und geschlossen - war mit nur einem Pferd bespannt. Kein Leichenbesorger schritt davor her, und keine Leichenträger gingen an den Seiten.
Es war ein Armenbegräbnis.
Drei Männer, augenscheinlich in ihre Sonntagsanzüge gekleidet, folgten dem Leichenwagen. Als sie die Kirchentür erreicht hatten, traten vier alte Männer vor, in gewöhnliche Alltagsanzüge gekleidet, öffneten den Leichenwagen, holten den Sarg heraus und trugen ihn in die Kirche, gefolgt von den anderen drei, die offenbar Verwandte des Verstorbenen waren. Die vier alten Männer waren Almosenempfänger - Armenhausinsassen, denen je sechs Pence für ihre Arbeit als Leichenträger bezahlt wurden.
Sie nahmen eben den Sarg aus dem Leichenwagen, als Hunters Gesellschaft an ihnen vorbeiging, und die meisten davon blieben einen Augenblick stehen und sahen zu, wie die alten Männer ihn in die Kirche trugen. Der rohgezimmerte Sarg war aus Fichtenholz, weder gestrichen noch
irgendwie bedeckt und ohne alle Beschläge oder Verzierungen, außer einem viereckigen Stück Zinkblech, das auf den Deckel genagelt war. Keiner aus der Gesellschaft der Firma Rushton befand sich nahe genug, um einen der Trauernden erkennen oder um lesen zu können, was auf dem Blechschild geschrieben stand; wäre das aber der Fall gewesen, so hätten sie, ungelenk in schwarzen Buchstaben gemalt, gesehen:
J.L.
67 Jahre alt
und einige von ihnen hätten die drei Trauernden erkannt: Jack Lindens Söhne.
Was die Leichenträger betrifft, so waren alle Arbeiter im Ruhestand, die in den Besitz ihres Titels gelangt waren. Unter ihnen befand sich auch der alte Latham, der Jalousiemacher. |
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