12. Kapitel Das Zimmer wird vermietet
Der Leser wird sich erinnern: als sich die Leute trennten und Owen ins Büro ging, um mit Rushton zu sprechen, und die übrigen ihre verschiedenen Wege einschlugen, gingen Easton und Slyme miteinander.
Während des Tages hatte Easton Gelegenheit gefunden, wegen des Zimmers mit Slyme zu sprechen. Dieser wollte das Zimmer, das er augenblicklich in Untermiete bewohnte, gerade aufgeben und meinte zu Easton, zwar habe er sich fast schon für ein anderes entschlossen, doch wolle er sich das von Easton einmal ansehen. Auf dessen Vorschlag verabredeten sie, dass Slyme ihn an diesem Abend nach Haus begleiten werde. Easton hatte gesagt, Slyme könne sich den Raum ja mal ansehn; gefiele er ihm nicht so gut wie der andere, so schadete das nichts.
Ruth hatte es fertig gebracht, das Zimmer zu möblieren. Einiges hatte sie auf Kredit von einem Möbelalthändler
erhalten. Genau wusste Easton nicht, wie sie es angestellt hatte, aber es war geschafft.
„Dies ist das Haus", sagte Easton. Während sie durch die Gartentür eintraten, knarrte sie laut in den Angeln und schloss sich dann ziemlich geräuschvoll von selbst.
Ruth hatte gerade das Kind schlafen gelegt, und als sie hereinkamen, stand sie auf und schloss dabei hastig das Mieder ihres Kleides.
„Ich hab dir 'nen Herrn zu Besuch mitgebracht", sagte Easton.
Obwohl sie wusste, dass er sich nach einem Mieter für das Zimmer umsah, hatte Ruth nicht erwartet, er werde so plötzlich jemand mitbringen, und sie wünschte, er hätte ihr vorher seine Absicht mitgeteilt. Da Montag war, hatte sie den ganzen Tag über herumgewirtschaftet, und sie wusste, dass sie ziemlich unordentlich aussah. Ihr langes braunes Haar war auf dem Hinterkopf lose zu einem Knoten gewunden. Verlegen errötete sie, als der junge Mann sie anstarrte.
Easton nannte ihr Slymes Namen, und sie gaben einander die Hand; dann folgte Easton Ruths Vorschlag und nahm ein Licht, um das Zimmer zu zeigen, und während sie fort waren, brachte Ruth ihr Haar und ihr Kleid eiligst in Ordnung.
Als sie wieder unten waren, sagte Slyme, das Zimmer gefalle ihm gut. Wie viel solle es kosten?
Wünschte er nur das Zimmer zu nehmen, erkundigte sich Ruth, oder zog er vor, auch beköstigt zu werden?
Slyme meinte, dies wäre ihm lieber.
In dem Fall, sagte sie, werden zwölf Schilling die Woche wohl angemessen sein. Sie glaube, das sei etwa der übliche Preis. Natürlich sei darin die Wäsche einbegriffen, und wenn seine Sachen ein wenig geflickt werden müssten, so werde sie das für ihn tun.
Slyme erklärte sich mit diesen Bedingungen einverstanden, die - wie Ruth gesagt hatte - die üblichen waren. Er wollte das Zimmer nehmen, seine augenblickliche Wohnung aber nicht vor Sonnabend verlassen. Daher verabredeten sie, dass er seine Kiste am Sonnabendabend bringen werde.
Als er fort war, standen Easton und Ruth da und sahen einander schweigend an. Seit ihnen der Plan, das Zimmer zu vermieten, in den Sinn gekommen war, hatten sie sehr gewünscht, ihn zu verwirklichen; und doch fühlten sie sich nun, da es geschehen war, unzufrieden und unglücklich, als habe sie plötzlich ein nicht wiedergutzumachendes Unheil betroffen. In diesem Augenblick erinnerten sie sich an keine der dunkleren Seiten ihres Zusammenlebens. Die Notzeit und die Entbehrungen schienen weit zurückzuliegen und kamen ihnen unbedeutend vor neben der Tatsache, dass dieser Fremde in Zukunft ihr Heim mit ihnen teilen werde. Besonders Ruth dünkte es, das Glück der vergangenen zwölf Monate habe plötzlich ein Ende gefunden. Mit unwillkürlicher Abneigung und Furcht bebte sie vor dem Bild der Zukunft zurück, das vor ihr auftauchte und in dem dieser Eindringling als bedeutendste Gestalt erschien, die alles beherrschte und jede Einzelheit ihres häuslichen Lebens beeinträchtigte. Freilich hatten sie all das vorher gewusst, aber irgendwie war es ihnen niemals so unerträglich vorgekommen wie jetzt, und als Easton daran dachte, erfüllte ihn eine ungerechtfertigte Abneigung gegen Slyme, als dränge der sich ihnen gegen ihren Willen auf.
,Der Teufel soll ihn holen!' dachte er. ,Ich wollte, ich hätte ihn niemals hergebracht!'
Ruth schien die Aussicht auch nicht sehr glücklich zu machen.
„Na", sagte er schließlich, „was hälste von ihm?"
„Ach, er wird schon in Ordnung sein, denke ich."
„Was mich betrifft, ich wünschte, er käme nicht", fuhr Easton fort.
„Genau das dachte ich auch grad", erwiderte Ruth niedergeschlagen. „Ich mag ihn gar nicht. Ich war gegen ihn, sowie er zur Tür reinkam."
„Ich hab nicht übel Lust, morgen irgendwie 'nen Rückzieher zu machen", rief Easton nach einem weiteren Augenblick des Schweigens aus. „Ich könnt ihm sagen, wir hätten unerwartet Freunde zu Besuch."
„Ja", sagte Ruth eifrig. „Es dürfte nicht schwer sein, die eine oder die andere Ausrede zu finden."
Als sich dieser Ausweg bot, hatte sie das Empfinden, eine Last werde von ihr genommen, aber fast im gleichen Augenblick fielen ihr die Gründe ein, die sie zuerst auf den Gedanken gebracht hatten, das Zimmer zu vermieten, und mit trostloser Miene setzte sie hinzu:
„Es ist albern von uns, Liebster, uns so zu benehmen. Wir müssen das Zimmer vermieten, und da kann's genauso gut er sein wie irgend'n anderer. Wir müssen eben das Beste draus machen, das ist alles."
Easton stand mit dem Rücken zum Feuer und starrte sie düster an.
„Ja, vermutlich muss man's so ansehen", gab er schließÂlich zurück. „Wenn wir's nicht aushalten, geben wir das Haus auf und nehmen uns zwei Zimmer oder 'ne kleine Wohnung - wenn wir eine kriegen."
Ruth stimmte ihm zu, obgleich keine der beiden Aussichten sehr verlockend war. Die unwillkommene Veränderung in ihrer Lebensweise blieb schließlich nicht ganz ohne Entschädigung, denn von dem Augenblick an, als sie den Entschluss gefasst hatten, schien ihre Liebe zueinander sich zu erneuern und stärker zu werden. Mit heftigem Bedauern wurden sie sich bewusst, dass sie bisher das Glück dieses ausschließlichen Zusammenlebens, von dem ihnen nur noch eine Woche blieb, nicht immer richtig gewürdigt hatten. Dieses eine Mal wenigstens wurde die Gegenwart in ihrem vollen Werte geschätzt und mit dem Zauber umkleidet, der sonst fast immer die Vergangenheit umgibt. |
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