23. Kapitel Die Straßenversammlung
Während der letzten Wochen, seit Owen mit dem Ausmalen des Salons beschäftigt war, hatte ihn seine Arbeit so gefesselt, dass ihm für anderes keine Zeit blieb. Natürlich wurde er nur für die tatsächlich damit verbrachten Stunden bezahlt; in Wirklichkeit aber hatte er jede Minute des Tages dieser Aufgabe gewidmet. Nun, da sie beendet war, fühlte er sich ähnlich einem Menschen, der aus einem Traum zu den harten Tatsachen und zu den Schrecken der Wirklichkeit erwacht. Bis Ende der nächsten Woche würden die Innenarbeiten im Haus und ein Teil der Außenarbeiten beendet sein, und soweit er wusste, hatte die Firma augenblicklich nichts weiter zu tun. Die meisten anderen Unternehmer der Stadt befanden sich in der gleichen Bedrängnis; zwecklos, sich bei den wenigen zu bewerben, die etwas zu tun hatten, denn es war unwahrscheinlich, dass sie einen neuen Mann einstellten, während einige ihrer regulären Arbeiter aussetzen mussten.
Im letzten Monat hatte er vergessen, dass er krank war vergessen auch, dass er nach Beendigung der Arbeit in der „Höhle" zusammen mit den übrigen aussetzen musste. Kurz für den Augenblick hatte er vergessen, dass er sich gleich der Mehrzahl seiner Kollegen am Rande des Elends befand und dass ein paar Wochen der Arbeitslosigkeit oder des Aussetzens Hunger bedeuteten. Was seine Krankheit betraf, so war er sogar noch schlimmer dran als die meisten anderen, denn die Mehrzahl unter ihnen war Mitglied einer freiwilligen Krankenversicherung; Owens schlechter Gesundheitszustand jedoch schloss seine Mitgliedschaft in einer dieser Kassen aus.
Als er nach der Lohnauszahlung heimging und sich unaussprechlich deprimiert und müde fühlte, begann er wieder an die Zukunft zu denken, und je mehr er darüber nachdachte, desto schrecklicher schien sie ihm. Selbst wenn man sie im besten Licht betrachtete - und annahm, er werde nicht der Krankheit wegen oder aus einem anderen Grunde seine Arbeit verlieren -, wofür sollte er leben? Er hatte die ganze vergangene Woche gearbeitet. Die paar Münzen, die er in der Hand hielt, waren das Ergebnis, und bitter lachte er bei dem Gedanken, wie viel auszurichten sie mit diesem Geld versuchen mussten und wie viel ungetan bleiben müsste.
Als er um die Ecke der Kerk Street bog, sah er Frankie, der ihm entgegenkam; der Junge bemerkte ihn im gleichen Augenblick und begann zu rennen; mit einem Jubelruf sprang er seinem Vater in die Arme.
„Mutti hat gesagt, ich soll dir bestellen, du möchtest etwas zum Mittagbrot einkaufen, eh du heimkommst, denn 's ist nichts mehr im Haus."
„Hat sie dir gesagt, was ich holen soll?"
„Ja, sie hat's mir gesagt, bloß ich hab vergessen, was es war. Aber ich weiß noch, dass sie gesagt hat, du möchtest holen, was du willst, wenn du das, was ich dir sagen soll, nicht bekommen kannst."
„Also gut, dann gehen wir und sehen mal zu, was wir finden", sagte Owen.
Ich an deiner Stelle würde 'ne Büchse Lachs holen oder 'n paar Eier mit Speck", schlug Frankie vor, der neben seinem Vater einherhüpfte und dessen Hand hielt. „Wir wollen doch nichts, was 'ne Menge Arbeit macht zu kochen, weißt du, weil's Mutti heut nicht sehr gut geht."
„Ist sie auf?"
„Den ganzen Morgen über ist sie aufgewesen, bloß jetzt hat sie sich hingelegt. Wir haben aber alle Arbeit erledigt. Während sie die Betten gemacht hat, hab ich angefangen, die Tassen und Untertassen abzuwaschen, ohne es ihr zu sagen, aber wie sie reinkam und gesehen hat, was ich für 'ne Schweinerei auf dem Boden gemacht hab, musste ich aufhören, und meine Sachen hat sie mir auch fast alle umziehen müssen, weil ich beinah ganz durchgeweicht gewesen bin; aber mit dem Abtrocknen bin ich ganz gut fertig geworden, als sie abgewaschen hat, und ich hab den Flur gefegt und alle meine Spielsachen aufgeräumt und das Bett für das Kätzchen gemacht. Und dabei fällt mir ein: gibst du mir jetzt bitte meinen Penny? Ich hab dem Kätzchen versprochen, dass ich ihm etwas Fleisch mitbringe."
Owen erfüllte die Bitte des Jungen, und während der sich zum Schlächter begab, um das Fleisch zu besorgen, ging Owen zum Kaufmann, um etwas zum Mittagessen einzuholen, und sie verabredeten, sich an der Straßenecke wiederzutreffen. Owen war zuerst an der vereinbarten Stelle, und nachdem er einige Zeit gewartet hatte und von Frankie nichts zu sehen war, beschloss er, ihm zum Fleischer entgegenzugehen. In der Nähe des Ladens angekommen, sah er davor den Jungen in ernsthaftem Gespräch mit dem Fleischer stehen - einem fröhlich aussehenden, korpulenten Mann mit sehr rotem Gesicht. Owen bemerkte sofort, dass das Kind versuchte, etwas zu erklären, weil Frankie die Gewohnheit hatte, seinen Kopf auf die Seite zu legen und seine Worte zu ergänzen, indem er die Finger spreizte und drollige Gebärden machte, sobald es ihm schwer fiel zu erklären, was er meinte. Das tat der Junge jetzt; er gestikulierte mit einer Hand und weit auseinander gespreizten Fingern, während er in der anderen ein Päckchen schwang, das offensichtlich die Fleischstückchen enthielt. Nun lachte der Mann herzlich, und nachdem er Frankie die Hand geschüttelt hatte, ging er in den Laden, um einen Kunden zu bedienen, und Frankie kehrte zu seinem Vater zurück.
„Der Fleischer da ist 'n sehr anständiger Kerl, weißt du Vati", sagte er. „Er wollte den Penny für das Fleisch nicht
nehmen."
„Hast du darüber mit ihm gesprochen?" „Nein, wir haben über den Sozialismus gesprochen. Siehst du, dies ist schon das zweite Mal, dass er das Geld nicht nehmen wollte, und als er es zum ersten Mal tat, dachte ich, er müsste ein Sozialist sein; aber damals habe ich ihn nicht gefragt. Aber als er es jetzt wieder so gemacht hat, habe ich ihn gefragt, ob er einer ist. Da hat er nein gesagt. Er hat gemeint, er wär doch noch nicht ganz und gar verrückt. Da hab ich gesagt: ,Wenn Sie glauben, dass Sozialisten alle verrückt sind, irren Sie sich mächtig, denn ich bin selbst 'n Sozialist und bin ganz sicher, dass ich nicht verrückt bin.' Da hat er gesagt, ja, das weiß er, dass ich ganz normal bin, aber er selbst versteht nicht viel vom Sozialismus - nur dass der bedeutet, alles Geld wird ausgeteilt, damit alle Leute das gleiche haben. Da hab ich ihm also gesagt, das ist ja überhaupt nicht Sozialismus! Und als ich es ihm richtig erklärt und ihm geraten hab, auch einer zu werden, hat er gesagt, er würd darüber nachdenken. Da hab ich ihm geantwortet, wenn er das nur tun will, wird er bestimmt auf unsere Seite übergehen, und da hat er gelacht und mir versprochen, 's mir zu erzählen, wenn er mich nächstes Mal sieht, und ich hab versprochen, ihm Literatur zu leihen. Du hast doch nichts dagegen, Vati?"
„Natürlich nicht; wenn wir nach Hause kommen, werden wir mal durchsehen, was wir haben, und du kannst ihm etwas davon bringen."
„Ich weiß", rief Frankie eifrig. „Die beiden allerbesten: ,Glückliches Britannien' und ,England den Engländern'."
Er wusste, dass dies ,zwei von den besten' waren, weil er oft gehört hatte, wie sein Vater und seine Mutter das sagten, und er hatte bemerkt, wenn sie ein sozialistischer Freund besuchte, so war dieser ebenfalls der Meinung.
In der Regel gingen sie Sonnabend Abend alle drei zusammen einkaufen; da sich Nora aber nicht wohl fühlte, gingen Owen und Frankie heute allein. Die häufigen Krankheitsrückfälle seiner Frau steigerten noch den Pessimismus, mit dem Owen in die Zukunft blickte, und auch das Bewusstsein, dass er ihr nicht die nötige Pflege zukommen lassen konnte, war nicht geeignet, die niedergedrückte Stimmung zu vertreiben, die ihn bei dem Gedanken überkam, dass keine Hoffnung auf bessere Zeiten bestehe.
In den meisten Fällen gibt es für einen Arbeiter keine Aussicht voranzukommen. Hat er einmal sein Handwerk erlernt und ist Geselle geworden, so hört jeder Fortschritt auf. Er hat das Ziel erreicht. Nach zehn oder zwanzig Jahren Arbeit steht ihm nicht mehr zur Verfügung als zu Beginn: ein kaum zum Leben ausreichender Lohn, gerade genügend Geld, um Brennstoff zum Inganghalten der menschlichen Maschine zu kaufen. Ist er dann älter geworden, so muss er sich sogar mit noch weniger begnügen, und ob er seinen Arbeitsplatz behält, hängt ständig von der Laune und Gnade seiner Herren ab, die ihn nur als ein Stück Mechanismus betrachten, das sie in die Lage versetzt, Geld anzuhäufen - ein Ding, das sie beiseitewerfen dürfen, sobald es keinen Profit mehr einbringt. Und der Arbeiter soll nicht nur eine wirksame Maschine zum Produzieren von Geld sein, sondern auch der unterwürfige Untertan seines Herrn. Ist er nicht auf eine verächtliche Weise höflich und demütig, unterwirft er sich nicht friedlich der Beleidigung, dem Schimpf und jeder Art hochmütiger Behandlung, zu der sich Gelegenheit bietet, so kann er entlassen und im nächsten Augenblick durch einen aus der Menge der Arbeitslosen ersetzt werden, die ständig auf seinen Arbeitsplatz warten. So ist unter dem gegenwärtigen System die Lage für die Mehrheit der „Erben aller Zeitalter".
Während Owen durch das Gedränge der Straßen ging und Frankie an der Hand hielt, dachte er, um freiwillig ein solches Leben weiterzuleben, müsse man eine entartete Gesinnung haben. Sein Kind aufwachsen zu lassen, damit es dann gleichfalls litt, war ein Akt hartherziger, verbrecherischer Grausamkeit.
Hierin unterschieden sich seine Ansichten von denen der meisten seiner Arbeitskollegen. Die Mehrheit unter ihnen
war gänzlich willens und bereit, zum Vorteil anderer Leute aus ihren Kindern Lasttiere machen zu lassen. Als Owen auf die kleine, zerbrechliche Gestalt hinabblickte, die an seiner Seite dahintrabte, dachte er zum tausendsten Male für das Kind wäre es viel besser, jetzt zu sterben: niemals werde es tauglich sein, einen Soldaten im harten christlichen „Kampf ums Dasein" abzugeben.
Dann dachte er an Nora. Obwohl sie stets tapfer war und nie klagte, wusste er doch, dass ihr Leben fast unaufhörliche physische Pein war, und was ihn selbst betraf, so war er all dessen gründlich müde und satt. Wie ein Sklave hatte er sein ganzes Leben lang gearbeitet, und nichts war dabei herausgekommen - nie würde etwas dabei herauskommen. Er dachte an den Mann, der seine Frau und seine Kinder getötet hatte. Vom Gericht war das übliche Urteil gefällt worden: „Zeitweilige Geistesverwirrung". Diesen Leuten schien niemals der Gedanke zu kommen, dass es in Wahrheit ein Beweis ständiger Geistesverwirrung war, so ohne alle Hoffnung weiterzuleiden.
Aber angenommen, der körperliche Tod sei nicht das Ende. Angenommen, es gäbe irgendeine Gottheit? Wenn es eine gab, so war es wohl nicht vernunftwidrig, anzunehmen, das Wesen, das zur Erschaffung einer solchen Welt fähig war und das dem Unglück Seiner Kreaturen gegenüber von so herzloser Gleichgültigkeit zu sein schien, wäre auch fähig, jene andere Hölle zu erdenken und zu schaffen, an welche die meisten Leute glaubten.
Obwohl sie Dezember hatten, war der Abend mild und klar. Der Vollmond übergoss die Stadt mit silbrigem Licht, und der wolkenlose Himmel war mit Myriaden funkelnder Sterne wie mit Edelsteinen besetzt.
Während Owen in die unermessliche Unendlichkeit des Raumes blickte, fragte er sich, was für ein Wesen oder eine Kraft es wohl sei, die all dies verursacht hatte und die es erhielt? Als Erklärung für das Bestehen des Universums betrachtet, war die orthodoxe christliche Religion zu widersinnig, als dass sie weitere Betrachtung verdiente. Aber freilich, jede andere Hypothese war letzten Endes ebenfalls unbefriedigend und sogar lächerlich. Zu glauben, das Universum in seiner jetzigen Weise habe ohne jede Ursache seit Anbeginn bestanden, ist gewiss lächerlich. Aber zu sagen, es sei von einem Wesen geschaffen worden, das ohne jede Ursache seit Anbeginn existierte, ist ebenso lächerlich. Tatsächlich hieß dies nur, die Schwierigkeit um eine Stufe zu verschieben. Die These der Evolution war keine zufriedenstellendere Erklärung; zwar beruhte sie, soweit sie reichte, unzweifelhaft auf Wahrheit, aber sie reichte eben nur über einen Teil des Weges und ließ die große Frage noch immer unbeantwortet, indem sie die ursachlose Existenz - zu Anfang - von Materieteilchen annahm. Diese Frage blieb unbeantwortet, weil sie nicht zu beantworten war. In Bezug auf dieses Problem war der Mensch nichts als
„Ein Kindlein, weinend in der Nacht,
Ein Kindlein, weinend nach dem Licht,
Das keine Sprache hat als nur den Schrei."
Trotz alledem folgte hieraus nicht, es sei richtig, nur weil man selbst das Geheimnis nicht erklären konnte, zu versuchen, die vernunftwidrige Erklärung eines anderen zu glauben.
Obwohl Owen so dachte, konnte er freilich nicht umhin, sich nach etwas zu sehnen, an das er glauben könnte, nach einer Hoffnung für die Zukunft, etwas, was ihn für das Leid der Gegenwart entschädigte. Wie schön wäre es doch in gewisser Hinsicht, so meinte er, wenn das Christentum auf Wahrheit beruhte, und wenn es nach all dem Kummer ein solches ewig währendes Glück gäbe, wie es sich das Menschenherz niemals erträumt hätte. Wäre doch das nur wahr, dann hätte alles übrige keine Bedeutung. Wie verächtlich und unwichtig wäre auch das Schlimmste, was hienieden geschehen konnte, wenn man nur wüsste, dass dieses Leben nichts als eine sehr kurze Reise sei, die mit dem Beginn einer ewig währenden Freude endete! Niemand aber glaubte das wirklich, und was diejenigen betraf, die so taten, als glaubten sie es - so zeigte ja ihr Leben, dass sie es ganz und gar nicht glaubten. Ihre Gier und ihre Unmenschlichkeit, ihre wilde Entschlossenheit, sich die guten Dinge dieser Welt zu sichern, waren doch überzeugende Beweise ihrer Heuchelei und ihres Unglaubens.
„Vati", sagte Frankie plötzlich, „lass uns mal rübergehen und hören, was der Mann da sagt." Er deutete über den Fahrweg, wo sich in kurzer Entfernung von der Hauptstraße, gerade um die Ecke einer Nebenstraße, eine Gruppe von Menschen um eine große Laterne versammelt hatte die, von einem der Leute getragen, an einer über zwei Meter langen Stange hing. Ein helles Licht brannte in der Laterne, und auf ihren weißen Milchglasscheiben waren von dort, wo Owen und Frankie standen, in großen, schlichten, selbst in dieser Entfernung leserlichen Buchstaben die Worte zu erkennen:
„Täuschet euch nicht: Gott lässt seiner nicht spotten!"
Der Mann, dessen Stimme Frankies Aufmerksamkeit erregt hatte, las den Vers eines Kirchenliedes vor:
„Ich hörte, wie Herr Jesus sprach:
O siehe, Durstender,
Das Lebenswasser biet ich dir,
So beuge dich und trink.
Ich kam zu Jesus und ich trank
Vom lebenspendenden Quell,
Und all mein Durst ward nun gelöscht,
Und meine Seele ward gestärkt,
Jetzo leb ich in Ihm."
Der Mensch, der diese Hymne von sich gab, war ein großer, magerer Mann, dem die Kleidung lose von den abfallenden Schultern um den knochigen Körper hing. Die langen, dünnen Beine, um die seine weiten Hosen in unschönen Falten schlotterten, waren leicht x-förmig und endeten in großen Plattfüßen. Seine Arme waren sogar für einen so hochgewachsenen Menschen sehr lang, und die riesigen, knochigen Hände waren knotig und krumm. Trotz der Jahreszeit hatte er seinen Melonenhut abgenommen und seine Stirn entblößt, die hoch, flach und schmal war. Seine Nase glich einem großen, fleischigen Habichtsschnabel, und von jedem der beiden Nasenflügel lief eine tiefe Furche abwärts und verschwand in dem Hängeschnurrbart, der, wenn er nicht sprach, seinen Mund verdeckte, dessen riesiges Ausmaß jetzt aber sichtbar war, da er ihn öffnete, um den Text des Liedes herauszuschmettern. Sein Kinn war breit und außergewöhnlich lang, die Augen waren wässrig blau, sehr klein und standen eng beieinander; darüber wuchsen schüttere, helle, fast unsichtbare Augenbrauen, und zwischen ihnen stand über der Nase eine tiefe, senkrechte Falte. Sein Kopf, mit dichtem, sprödem braunem Haar bedeckt, war sehr breit - besonders hinten; die Ohren waren klein und lagen eng am Kopf. Hätte man ein en-face-Porträt von seinem leichenähnlichen Gesicht zeichnen wollen, so hätte man festgestellt, dass dessen Umrisse denen eines Sargdeckels glichen.
Als Owen und Frankie näher kamen, zerrte der Junge seinen Vater an der Hand und flüsterte: „Vati! Das ist doch der Lehrer aus der Sonntagsschule, wo ich neulich mit Charley und Elsie war."
Owen blickte schnell hinüber und sah, dass es Hunter war.
Sobald der den Vers verlesen hatte, begann die kleine Gesellschaft der Evangelisten zu singen, begleitet von den Klängen eines kleinen, aber merkwürdig wohltönenden Harmoniums. Einige Leute aus der Menge sangen mit, da sie den Text kannten. Während des Gesangs waren ihre Gesichter sehenswert; alle blickten so feierlich und trübselig drein, als seien sie eine Bande armer Sünder, die darauf warteten, zur Hinrichtung geführt zu werden. Die Mehrzahl der Zuhörer schien eher aus müßiger Neugier als aus irgendeinem anderen Grunde dazustehen, und zwei gutgekleidete junge Leute, offenbar Fremde und zu Besuch in der Stadt, vergnügten sich damit, laute Späße über den Text auf der Laterne zu machen. Am inneren Rande des Zuhörerkreises, fast schon im Ring, stand auch mit verschränkten Armen und höhnischer Miene ein schäbig gekleideter halbbetrunkener Mann, der einen zerbeulten Melonenhut trug. Er hatte ein mageres, bleiches Gesicht mit einer großen Adlernase und zeigte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem ersten Herzog von Wellington.
Während des Gesangs wich der höhnische Ausdruck vom Gesicht des Halbbetrunkenen, und er fiel nicht nur in den Chor ein, sondern löste auch die verschränkten Arme und begann, sie herumzuschwenken, als dirigiere er die Musik.
Als der Gesang zu Ende war, hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt, und nun trat einer der Evangelisten - der gleiche, der den Choral verlesen hatte in die Mitte des Kreises. Offenbar hat ihn das unziemliche Benehmen der beiden gutangezogenen jungen Männer beleidigt; denn nachdem er zuerst seinen Blick rings über die Menge gleiten ließ, richtete er ihn auf das Paar und begann sogleich eine lange Tirade gegen etwas, was er „Ungläubigkeit" nannte. Nachdem er alle, die es, wie er sich ausdrückte, „ablehnten" zu glauben, aus tiefstem Herzensgrunde angeprangert hatte, ging er dazu über, die Halbgläubigen lächerlich zu machen, die zwar behaupteten, an die Bibel zu glauben, dabei aber das Dogma von der Hölle ablehnten. Danach versuchte er mit Hilfe einer langen Zitatfolge zu beweisen, dass die Existenz eines solchen Ortes der ewigen Qual in der Bibel gelehrt wird. Je länger er sprach, desto aufgeregter wurde er, und das verächtliche Lachen der beiden Ungläubigen schien ihn nur noch mehr zu reizen. Er schrie und tobte buchstäblich mit schäumendem Munde und starrte wilden Blicks in die Gesichter der Menschen ringsum.
„Es gibt 'ne Hölle!" schrie er. „Und merkt euch: ,Die Bösewichter werden in die Hölle kommen.' - ,Wer nicht glaubt, wird verdammt werden.'"
„Nun, dann haben Sie ziemlich viel Aussicht, ebenfalls verdammt zu werden", rief einer der beiden jungen Leute.
„Wieso denn das?" fragte der Prediger und wischte sich mit dem Taschentuch den Schaum von den Lippen und den Schweiß von der Stirn.
„Na, weil Sie selbst nicht an die Bibel glauben."
Nimrod und die übrigen Evangelisten lachten; mitleidsvoll blickten sie den jungen Mann an.
„Ach, mein lieber Bruder", sagte Elend. „Sie täuschen sich. Ich danke Gott dafür, dass ich daran glaube - an jedes Wort!"
„Amen!" riefen Slyme und einige der übrigen Jünger inbrünstig aus.
„O nein, Sie glauben nicht daran", erwiderte der andere. „Und ich kann beweisen, dass Sie nicht daran glauben."
„Na, so beweisen Sie's", sagte Nimrod.
„Lesen Sie den siebzehnten und den achtzehnten Vers des sechzehnten Kapitels Markus vor", sagte der Störenfried. Die Menge begann, sich zur Mitte zu drängen, um den Disput besser hören zu können. Elend, der nahe bei der Laterne stand, fand den Vers und begann laut vorzulesen:
„Die Zeichen aber, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: in meinem Namen werden sie Teufel austreiben, mit neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben; und so sie etwas Tödliches trinken, wird's ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, und so wird's besser mit ihnen werden."
„Nun, Sie können keine Kranken heilen, noch können Sie neue Sprachen sprechen oder Teufel austreiben; aber vielleicht können Sie tödliche Gifte trinken, ohne Schaden zu erleiden." Mit diesen Worten zog der Sprecher plötzlich ein Glasfläschchen aus der Westentasche und hielt es Elend hin, der entsetzt davor zurückwich, als der Mann fortfuhr: „Ich habe hier ein tödliches Gift. In dieser Flasche befindet sich genügend Strychnin, um ein Dutzend Ungläubige zu töten. Trinken Sie es! Und wenn es Ihnen nicht schadet, werden wir wissen, dass Sie wirklich ein Gläubiger sind und dass das, was Sie glauben, die Wahrheit ist!"
„Hört! Hört!" sagte der Halbbetrunkene, welcher der Diskussion mit großem Interesse gefolgt war. „Hört! Hört! Das ist nur recht und billig. Schluck's!"
Einige der Zuhörer begannen zu lachen, und an mehreren Punkten der Menge wurden Stimmen laut, die Elend aufforderten, das Strychnin zu trinken.
„Nun, wenn Sie gestatten, werd ich Ihnen erklären, was der Vers da bedeutet", sagte Hunter. „Wenn Sie 'n sorgfältig lesen... im Zusammenhang... "
„Ich will keine Erklärung von Ihnen darüber, was er bedeutet", unterbrach ihn der andere. „Ich kann selber lesen. Sie können mir sagen, soviel Sie wollen, oder behaupten zu glauben, was er bedeute - ich weiß, was dort steht."
„Hört! Hört!" riefen mehrere Stimmen, und ein ärgerliches „Weshalb trinken Sie denn das Gift nicht?" ertönte vom äußeren Rand des Zuhörerkreises.
„Trinken Sie's nun oder nicht?" fragte der Mann mit der Flasche.
„Nein! So 'n Narr bin ich nicht!" erwiderte Elend wütend, und die Menge brach in lautes Gelächter aus.
„Vielleicht möchte es einer der anderen ,Gläubigen' tun?" sagte der junge Mann spöttisch und blickte der Reihe nach die Jünger an. Da keiner geneigt zu sein schien, von dem Angebot Gebrauch zu machen, steckte der junge Mensch mit Bedauern die Flasche wieder ein.
„Ich vermute", sagte Elend und sah den Eigentümer des Strychnins höhnisch an, „ich vermute, Sie sind einer von diesen gedungenen Kritikern, die im Land rumgehn und das Werk des Teufels tun?"
„Was ich wissen will, ist das", sagte der Halbbetrunkene plötzlich mit lauter Stimme und trat in die Mitte des Kreises: „Wo hat 'n Kain seine Frau hergekriegt?"
„Geben Sie 'm keine Antwort, Bruder Hunter", sagte Mr. Didlum, einer der Jünger. Der Rat war recht überflüssig, denn Elend wusste ohnedies keine Antwort.
Eine Gestalt in langem schwarzem Gewand, der „Prediger", flüsterte jetzt Mrs. Didlum etwas zu, die am Harmonium saß, worauf sie zu spielen begann, und die „Gläubigen" begannen zu singen, so laut sie nur konnten, um die Stimmen der Störenfriede zu übertönen - ein Lied mit dem Titel „Ach, das wird Seligkeit für mich sein".
Nach dieser Hymne forderte der „Prediger" einen schäbig gekleideten „Bruder" auf, ein paar Worte zu sagen, einen Arbeiter, der Mitglied der Psalmensängervereinigung war, und dieser trat in die Mitte des Kreises und gab folgende Rede von sich:
„Meine lieben Freunde, ich danke Gott heut Abend, dass ich heut Abend hier unter freiem Himmel stehn kann und euch lieben Leuten heut Abend allen sagen kann, was für mich getan worden ist. Ach, meine lieben Freunde, ich bin heut Abend so glücklich, dass ich heut Abend hier stehn kann und sagen kann, dass all meine Sünden heut Abend vom Blut des Herrn getilgt sind, und was Er für mich getan hat, kann Er heut Abend auch für euch tun. Wenn ihrs bloß machen wollt, wie ich's gemacht hab, und euch einfach nur als verlorene Sünder bekennen..."
„Ja, das's der einzige Weg!" schrie Nimrod.
„Amen", riefen alle übrigen Gläubigen.
„- wenn ihr nur heut Abend zu Ihm kommen wollt, genau, wie ich's gemacht hab, werd't ihr sehn, was Er für mich getan hat, kann er auch für euch tun. Ach, liebe freunde, verschiebt's nicht von einem Tag auf 'n andern, wie 'ne Tür, die in ihren Angeln hin und her schwingt, verschiebt's nicht auf 'ne gelegenere Zeit, denn vielleicht habt ihr nie mehr Gelegenheit dazu. Wer häufig ermahnt wird und halsstarrig ist, wird plötzlich verlassen sein, und das unwiderruflich. Ach, kommt heut Abend zu Ihm, in Seinem Namen, und Ihm werden wir alle Ehre erweisen. Amen."
„Amen", sagten die Gläubigen inbrünstig, und dann beschwor der Mann in dem langen schwarzen Gewand alle, die noch nicht zum wahren Glauben gefunden hatten und noch nicht danach handelten, ernsthaft und aufrichtig das; Schlusslied mitzusingen, das er ihnen jetzt vorlesen werde.
Bereitwillig dirigierte der Halbbetrunkene wie zuvor, und mit den letzten Klängen des Liedes verlief sich die Menge. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |