Revolutionsmonate im Vogtland
Am 7. November erhielt ich von meinen Angehörigen die Nachricht, meine Frau sei schwer erkrankt. Ich nahm Urlaub und reiste aus dem Elsass ab. Die Fahrt vom 8. zum 9. November über Straßburg-Frankfurt-Kassel-Halle-Chemnitz-Vogtland zeigte mir ein Bild, das ich nie für möglich gehalten hätte. Die Züge waren von zurückflutenden Truppen überfüllt, und ich konnte nur dadurch mitkommen, dass ich in Frankfurt durch das Abortfenster eines Zuges kletterte und fast die ganze Reise mit zwei anderen zusammen in diesem Notkupee zurücklegte. Während der Fahrt spürte ich schon etwas von der ungeheuren Kraft der Masse, die auch ohne Offiziere zu marschieren und zu handeln weiß, allerdings mit anderen Zielen, als ihre bisherigen Lenker es wünschten. Aber alle diese Kräfte, von denen ich in den verflossenen drei Jahrzehnten meines Lebens nichts gewusst hatte und die jetzt alles zu zermalmen drohten, was sich ihnen in den Weg stellte, konnte ich in diesen Tagen nur gefühlsmäßig erfassen. Ein klares Durchdenken meiner Eindrücke war mir nicht möglich, ich spürte nur, dass es für mich jetzt nicht darum ging, nach Hause, zu einer kranken Frau zu fahren, sondern dass etwas anderes wichtiger war. In diesen Stunden wurden die Worte wieder lebendig, die Georg Schumann - der 1917 während des Feldzuges gegen Russland als erster Sozialist meinen Weg kreuzte - zur mir und den anderen Kameraden, die ihn bewachten, gesprochen hatte.
In Frankfurt, Kassel und Halle, wo unser Zug lange hielt, erfuhr ich, dass die deutschen Arbeiter und Soldaten, dem Beispiel der Russen folgend, Arbeiter- und Soldatenräte bildeten. Was ich damals hörte und erlebte, wurde im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Offenbarung für mich.
Am 9. November kam ich zu Hause in Falkenstein an. Meine erste Frage galt dem Arbeiter- und Soldatenrat. Von einem solchen war dort nichts bekannt. Ich rief für denselben Abend durch ein paar selbstgeschriebene Handzettel die in der Stadt befindlichen Urlauber und Arbeiter zusammen; es fanden sich auch ungefähr dreißig Mann ein, darunter der Führer der Falkensteiner USPD, Storl. Als ich ihm auf seine Frage mitteilte, ich wolle durch diese Einberufung erreichen, dass auch in Falkenstein ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet werde, kam es bereits zum Konflikt. Storl erklärte, und zwar ganz kategorisch, wenn es schon notwendig sei, dann wäre er derjenige, der diese Sache zu machen habe.
Trotzdem wurde am selben Abend noch der Arbeiter- und Soldatenrat in Falkenstein konstituiert. Man wählte Storl und mich als Vorsitzende. Wir forderten ein Zimmer im Rathaus, in dem die Amtsgeschäfte des Arbeiter- und Soldatenrats erledigt werden sollten. Der Bürgermeister erklärte, er werde den Arbeiter- und Soldatenrat und seine Maßnahmen anerkennen, wenn Storl dafür sorge, dass ich aus dem Rat hinausfliege.
Am nächsten Tag fuhr ich, um Waffen zu holen, mit einigen anderen Mitgliedern des Arbeiter- und Soldatenrats nach Leipzig zum Generalkommando, das bereits fest in den Händen der USPD-Führer Fleißner, Lipinski usw. war. Nach vieler Mühe gelang es uns, ein paar Gewehre zu erhalten. Als ich nach zweitägiger Abwesenheit nach Falkenstein zurückkehrte und die Waffen dem Arbeiter- und Soldatenrat übergab, hatte Storl den Wunsch des Bürgermeisters bereits erfüllt und meine Entfernung aus dem Arbeiter- und Soldatenrat durchgesetzt.
Ich versuchte auf andere Weise für die revolutionäre Sache zu wirken. Die »Leipziger Volkszeitung« richtete in Plauen im Vogtland eine Druckerei ein und gründete ein USP-Organ für das ganze Vogtland, die »Vogtländische Volkszeitung«. Dort meldete ich mich und wurde zunächst damit beschäftigt, Abonnenten zu werben. Durch dieses Werben von Haus zu Haus - treppauf, treppab für eine Bewegung, die ich selbst verstandesmäßig noch nicht voll erfasst hatte, lernte ich viel.
Als dann die Vorbereitungen für die Wahlen zur Nationalversammlung einsetzten, wurde ich von den Plauener USPD-Leuten - ich war Mitglied der USPD geworden - in die umliegenden Ortschaften geschickt, um dort mit anderen Genossen zusammen Versammlungen einzuberufen und Ortsgruppen zu gründen. Auf diese Weise sind unter meiner Mitwirkung die Ortsgruppen in Reichenbach, Netschkau und Mühlau entstanden. Und in Reichenbach im Vogtlande habe ich in den Januartagen 1919 als Flugzettelverteiler der USPD meine ersten kräftigen Prügel von SPD-Fanatikern bezogen.
Um diese Zeit bat ich Georg Schumann brieflich, in einer Versammlung in Falkenstein zu sprechen. Ich wünschte nicht nur seine Einwirkung auf die Massen im Vogtland, sondern ich erhoffte vor allen Dingen auch für mich persönlich die Klärung vieler Fragen, mit denen ich allein nicht fertig werden konnte.
Schumann schrieb, er würde meinen Wunsch gern erfüllen, aber er könne nicht mehr in einer USPD-Versammlung sprechen, da er seit kurzer Zeit der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) angehöre. Wenn ich für die KPD eine Versammlung einberufen wolle, käme er. Diese Versammlung wurde nach Überwindung mancher Schwierigkeiten einberufen. Die Falkensteiner Arbeiter hatten die innere Zwiespältigkeit und Unzulänglichkeit der USPD erkannt, die Worte Schumanns fanden einen starken Widerhall; das agitatorische Wirken des Genossen Steinert, der um diese Zeit im Vogtland arbeitete, trug dazu bei, dass in wenigen Monaten das ganze Vogtland eine Hochburg des Kommunismus wurde. Gemeinsam mit den Genossen Paul Popp und Eugen
Steinert gründete ich im Frühjahr 1919 die Ortsgruppe Falkenstein der KPD. Dadurch hatte ich mich politisch in einer Weise exponiert, dass ich in große Konflikte mit meinen Angehörigen und bisherigen Freunden geriet.
Etwas später versuchten die vier- bis fünftausend Arbeitslosen in Falkenstein, sich zu organisieren, um gegenüber dem reaktionären Bürgermeister ein paar lebenswichtige Forderungen durchzudrücken.
Die wirtschaftliche Lage in Falkenstein war besonders kompliziert. Falkenstein, mit seinen etwa 17000 Einwohnern, bot in den Vorkriegsjahren ein reges, lebendiges Bild. Die vogtländische Stickerei-, Spitzen- und Gardinenindustrie war weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt, und der Export dieser Waren bewirkte zu gewissen Zeiten eine Hochkonjunktur in unserem Industriegebiet. Der Ort vergrößerte sich zusehends, ganze Häuserviertel, neue Straßenreihen entstanden im Laufe der Vorkriegsjahre, Hunderte von Stickmaschinenräumen wuchsen innerhalb weniger Monate wie Pilze aus der Erde.
Der Ausbruch des Weltkrieges setzte dieser aufblühenden Entwicklung ein jähes Ende. Die nicht einberufenen Sticker und Weber sowie die Frauen und Mädchen waren gezwungen zu feiern, da der Import der Rohstoffe und der Export der Fertigfabrikate vollständig lahm gelegt war. Tausende von hoffnungsvollen Existenzen waren ruiniert. Das aber, was der Krieg mit seinen Nebenwirkungen in Falkenstein nicht ganz zerstört hatte, vernichtete nun die Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit des Bürgermeisters Queck.
Wenn die darbenden und hungernden Kriegerfrauen dem Bürgermeister Vorhaltungen machten, dass zum Beispiel in dem nur eine halbe Stunde entfernt liegenden Städtchen Auerbach die wirtschaftlichen Zustände bedeutend besser waren als in Falkenstein, dann griff Queck zum Stock und drohte, die ausgemergelten Frauen zu schlagen und die Treppe hinabzuwerfen.
In der Nähe meiner Wohnung befand sich die so genannte Städtische Volksküche, in der sich Hunderte von Frauen, Kindern und Arbeitslosen das armselige Essen holten. Täglich sah ich vor meinen Fenstern dasselbe Schauspiel. Ich war der armen Bevölkerung durch meine kurze Tätigkeit im Arbeiter- und Soldatenrat bekannt. Man forderte mich auf, in einer Arbeitslosen-Versammlung zu sprechen. Dort erfolgte meine Wahl in den Arbeitslosenrat. Und nun wurde ich - mehr gefühlsmäßig als aus Überlegung - zu Handlungen getrieben, die mich ganz unvermittelt aus der normalen bürgerlichen Bahn herausschleuderten.
Diese Arbeitslosenversammlung war die erste größere Kundgebung, in der ich als Redner auftrat. Zugleich war sie der Auftakt zu meiner in diesen Tagen einsetzenden jahrelangen Illegalität und zu inneren und äußeren Kämpfen, die mich mit der revolutionären Massenbewegung zusammenschmiedeten.
Nach Schluss der Versammlung bewegte sich ein langer Demonstrationszug nach dem Rathaus und riss sowohl den Bürgermeister als auch den Stadtrat aus ihrer behaglichen Ruhe.
Als ich dem Bürgermeister angesichts der fünftausend Arbeitslosen nachwies, dass infolge seiner unhaltbaren Kommunalwirtschaft die Sterblichkeit in Falkenstein prozentual bedeutend höher sei als in anderen Orten der Amtshauptmannschaft, erklärte er: »Ich wusste nicht, dass die Not so groß ist.«
Es war notwendig, ihm zu zeigen, dass Dutzenden von Kindern und halbverhungerten Frauen Zehen und Füße erfroren waren. Sie hatten sich halbe, ja ganze Tage lang in härtester Kälte in Schlangen anstellen müssen, nur um einen halben Zentner Kohlenstaub oder ein paar Pfund Kartoffeln zu erlangen. In den Nachbarorten waren, dank einer besseren kommunalen Versorgung, diese Dinge viel leichter zu bekommen.
Die seit langem herrschende Erbitterung gegen den Bürgermeister machte sich besonders an diesem Tage in drastischen Ausfällen Luft. Er hatte am Vormittag eigenhändig vom Rathaus ein Plakat abgerissen, durch das die Arbeitslosen zu einer Versammlung aufforderten. Jetzt waren es die Frauen, die einstimmig die Forderung stellten, der Bürgermeister müsse Abbitte leisten oder an der Spitze des Demonstrationszuges mit den fünftausend Arbeitslosen einen Spaziergang durch die Stadt machen. Er weigerte sich, Abbitte zu leisten, also musste er den Spaziergang durch die Straßen der Stadt mitmachen. Rechts und links hielten ihn zwei Frauen fest, damit er nicht fortlaufen konnte.
So wurde er zwei Stunden lang in seiner eigenen Stadt an den Pranger gestellt.
Nach diesem Spaziergang setzte er sich telephonisch mit der Regierung in Dresden in Verbindung, um die behördlichen Organe zu bewegen, sofort Militär nach Falkenstein zu schicken, da angeblich alles in hellem Aufruhr sei und die vom Arbeitslosenrat aufgeputschten Massen bereits plünderten. Es herrschte damals Belagerungszustand, Demonstrationen waren verboten. Die Staatsanwaltschaft Plauen erließ gegen mich einen Steckbrief wegen Landfriedensbruch und setzte einen Preis von 2000 Mark auf meine Ergreifung aus. |
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