Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
http://nemesis.marxists.org

Ich brenne durch - über Heidelberg, Baden-Baden nach London

Obwohl die Landarbeit mir sehr zusagte, hörte ich nicht auf, nach anderer Arbeit zu suchen, bei der ich mehr verdienen konnte.
Doch erst nach zwei Jahren gelang es mir, Arbeit als Hausdiener in einer Gaststätte in Riesa zu bekommen.
Schon nach drei Monaten verließ ich diese Stellung, um den ersten selbständigen Schritt zu tun. Ich beabsichtigte, nach Baden-Baden durchzubrennen. Meine Mutter war dort in ihrer Jugend Kammerzofe gewesen und erzählte uns Kindern Wunderbares von dieser Stadt, die dadurch zum Inbegriff meiner Träume wurde. Aber meine Groschen reichten nur bis Heidelberg. Dort musste ich die Fahrt abbrechen und fand Anstellung als Silberputzer im Hotel »Bayrischer Hof«.
In dieser Stellung zog ich mir eine schwere Blutvergiftung zu; der ganze Arm sollte amputiert werden. Ich wurde - da ich protestierte - zwangsweise in die Universitätsklinik überführt. Der Arm wurde gerettet.
Etwa zwei Monate später, nach meiner Wiederherstellung, verließ ich Heidelberg und reiste nach Baden-Baden. In der Villa »Charlotte« fand ich Stellung als Diener bei einem reichen Fabrikanten. Ich hoffte, hier wenigstens ein paar Stunden freie Zeit zu finden, in denen ich mich weiterbilden könnte, um, nachdem ich mir einiges erspart hatte, vielleicht doch noch einen Beruf zu erlernen. Aber an freie Zeit war nicht zu denken. Ich musste Teppiche klopfen, den großen Park in Ordnung halten, die Schuhe sämtlicher Hausinsassen putzen, selbst waschen und scheuern und dann noch täglich mehrere Stunden die gelähmte Frau des Fabrikanten in einem Rollstuhl in den Parkanlagen spazieren fahren.
Nur wenige Monate blieb ich in dieser Stellung und ging als Lehrling in ein Automobilgeschäft. Von den älteren Chauffeuren bekam ich so viel Prügel, dass ich mich nicht einmal getraute, mich satt zu essen.
Als es mir dort zu bunt wurde, lief ich weg. Ich wurde Liftboy in der Villa »Pension Luisenhöhe«. In der schmucken Uniform mit den blanken Knöpfen kam ich mir ungeheuer wichtig vor, um so mehr, als ich jetzt mit Menschen Berührung hatte, die in einer ganz anderen Welt lebten und für die ganz andere Maßstäbe galten. Ich verdiente sehr gut und konnte mir schon nach einigen Wochen ein Sparkassenbuch anlegen. Mein Guthaben wuchs bald auf etwas über hundert Mark an. Das war für mich ein Vermögen.
In dieser Stellung beging ich gewisse Manöver, die mich noch sehr lange nachher seelisch bedrückten, weil ich sie als Betrug empfand. Die Liftboys, Portiers und Hausdiener in den Hotels und Pensionen machten allgemein Nebengeschäfte mit den Droschkenkutschern: der Kutscher, der von ein und demselben Portier oder Liftboy recht oft geholt wurde, gab Prozente ab. Diese Provisionen anzunehmen war aber nicht gestattet.
Als mein Direktor durch einen Zufall davon erfuhr, nahm er mich in sein Büro und hielt mir eine so eindringliche Strafrede, dass ich mir wie ein ganz großer Verbrecher vorkam. Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn er mich auf der Stelle hätte verhaften lassen.
Vor Scham hielt ich es in diesem Hause nicht mehr länger aus und bat um meine Entlassung. Ich hob meine hundertzwanzig Mark von der Sparkasse ab, kaufte mir ein Handköfferchen für meine Wäsche und fuhr ohne irgendwelche Vorbereitungen über Köln - Rotterdam - Hoek van Holland nach London.
Der Wechsel von Baden-Baden nach London war so krass, dass ich bei meiner Ankunft aus dem Staunen überhaupt nicht herauskam. Dieses Erstaunen muss deutlich auf meinem Gesicht zu lesen gewesen sein, denn sofort heftete sich ein Dutzend Leute an meine Fersen, sie boten mir ihre Dienste an und wollten durchaus mein kleines, kaum vier Pfund schweres Handköfferchen tragen. Ein englischer Schutzmann bemerkte meinen Mangel an großstädtischen Erfahrungen und erbarmte sich meiner. Mit den wenigen Brocken Englisch, die ich als Liftboy in Baden-Baden gelernt hatte, machte ich ihm plausibel, dass ich nach einer bestimmten Straße wollte, in der sich ein deutsches Heim befand.
Der Schutzmann setzte mich in einen Pferdeomnibus und nannte dem Schaffner die Straße. Nach stundenlangem Fahren kam ich glücklich an, merkte aber sehr bald, dass die Straße wohl genauso hieß wie die, nach der ich wollte, dass es aber dennoch nicht die richtige war: es gab siebenundzwanzig Straßen dieses Namens in London.
Nun zeigte sich wieder ein Policeman als rettender Engel, setzte mich in ein cab, eine zweirädrige Droschke, und endlich erreichte ich mein Ziel: das deutsche christliche Kellnerheim.
Dort fand ich gute und billige Aufnahme. Man war bemüht, mir so schnell wie möglich eine Arbeit zu beschaffen. Außerdem nahmen sich noch Landsleute meiner an, die schon länger in London waren, keine Beschäftigung hatten und davon lebten, die neu Ankommenden mit der Riesenstadt bekannt zu machen. Ihr Spürsinn hatte bald heraus, dass ich noch über ein paar Goldstücke verfügte, und sie waren ehrlich bemüht, mir die Ausgabe dieses kleinen Kapitals zu erleichtern.
Sie fuhren tagelang auf meine Kosten mit mir in London herum. Auf einer solchen, sehr interessanten, aber auch aufregenden und ermüdenden Tagestour landeten wir bei hereinbrechender Dämmerung im großen Hyde-Park. Dort sah ich auf den weiten Rasenflächen sich hin und her bewegende dunkle Punkte. Meine Frage, ob das Schafe oder andere Tiere seien, die hier frei herumlaufen und grasen dürfen, löste ein unbändiges Gelächter aus. Das sei etwas ganz anderes, ich solle das Geheimnis gleich kennen lernen. Meine Begleiter schritten rasch mit mir auf einen der dunklen Punkte zu, und da sah ich zu meiner unbeschreiblichen Überraschung, dass alle diese dunklen Flecke nichts anderes waren als Pärchen, die hier ganz ungeniert geschlechtlich verkehrten.
Meine Gelegenheitsfreunde, die aus meinem Benehmen wohl herausgemerkt hatten, dass ich in diesen Dingen noch sehr unerfahren war, legten großen Wert darauf, mich gleich praktisch aufzuklären. Sie fanden in wenigen Minuten fünf Stra­ßenmädchen, die sich für den unglaublichen Preis von 30 bis 50 Pfennigen hingaben.
Ich hatte nicht den Mut, abzulehnen und einzugestehen, dass ich noch dümmer war, als ich meinen Landsleuten erscheinen musste. Jeder ging mit seinem Mädchen etwas abseits, kaum fünf bis zehn Schritt von den andern entfernt, und erledigte seine persönliche Angelegenheit.
Das war mein erstes sexuelles Erlebnis. Ich benahm mich dabei sehr ungeschickt. Das englische Mädchen, wütend darüber, dass seine Kolleginnen schon längst wieder neue Freier suchen konnten, gab mir eine Ohrfeige und lief mit höhnischem Lachen davon.
Meine paar Goldstücke waren bald aufgebraucht, und ich musste ernstlich darangehen, schnellstens eine Beschäftigung zu finden. In einem der vielen tausend Londoner Boardinghäuser fand ich eine Anstellung als Küchenjunge. Ich bekam zwei und einen halben Schilling für die Woche, das sind 2,50 Mark, dazu freie Kost und Logis. Die Kost war so reichlich, dass ich dabei bestimmt verhungert wäre, wenn ich die alte, geizige Besitzerin nicht nach Strich und Faden bestohlen hätte. Ich verschlang Brot, Kartoffeln und Pudding, sooft ich es unbemerkt tun konnte. Arbeiten musste ich für drei, und zwar als Mädchen für alles. Um vier Uhr früh musste ich aufstehen, in eisiger Kälte draußen vor dem Haus die vielen Stufen scheuern und mit Sandstein überreiben, damit sie nach dem Trockenwerden blendend weiß waren. Danach putzte ich die vielen Messingklinken und Klopfer an den Türen, außerdem zweimal wöchentlich die vielen Fenster des Hauses. Dann musste ich Kohlen schleppen, Geschirr spülen, Teppiche klopfen und Schuhe reinigen. Es gab Arbeit über Arbeit, dabei viele Schelte.
Die alte, hässliche, spindeldürre Besitzerin behandelte mich mit verletzender Herablassung und Nichtachtung. Sie hielt es nicht einmal für notwendig, mir das Essen in die Hand zu reichen oder auf den Tisch zu stellen. Ich bekam Mittag für Mittag ein Stück Fleisch, nicht größer als ein Daumen, dazu eine einzige Kartoffel. Diese beiden Delikatessen legte die Alte auf einen Teller und stellte ihn vor mich auf den Fußboden. Ich kam mir vor wie ein Hund, dem das Futter vor die Hütte gesetzt wird.
Ein Buch zu lesen oder ein paar Groschen zu sparen war hier unmöglich.
Ich hielt es begreiflicherweise nicht lange aus, musste aber noch in einer ganzen Reihe ähnlicher Boardinghäuser schuften und hungern, bis es mir endlich gelang, in dem Vorort Chelsea als Kitchenboy in einem Haushalt von zwei amerikanischen Schwestern Stellung zu erhalten. Hier wurde ich gut behandelt, bekam reichlich zu essen, und es blieben mir auch mehrere Stunden am Tage, über die ich frei verfügen konnte.
Ich kaufte mir englische Bücher, versuchte Zeitungen zu lesen und besuchte, sooft ich konnte, die zahlreichen, prachtvoll ausgestatteten öffentlichen Leseanstalten und Leihbibliotheken.
Die eine der beiden Amerikanerinnen erkannte, dass ich vorwärtsstrebte, Interesse für technische Dinge hatte und eifrig bemüht war, irgendwo unterzukommen, wo ich mich beruflich ausbilden konnte. Sie brachte mich mit dem Direktor eines Londoner Droschkenunternehmens zusammen, der mich als Wagenwäscher anstellte. Es handelte sich um eine Tätigkeit, die nur nachts ausgeübt werden konnte und für die ich wöchentlich zwölf Mark erhielt. Das war für meine Verhältnisse und meine Ansprüche ein sehr hohes Einkommen.
Auf ein Inserat hin, in dem ein Zivilingenieur in der City einen Schüler für sein Büro suchte, meldete ich mich und wurde auch angenommen. Von morgens neun Uhr bis nachmittags drei Uhr arbeitete ich mit ihm zusammen, musste Pausen und kleinere Zeichnungen für Bahnbauten anfertigen, deren Ausführung der Ingenieur für Südamerika übernommen hatte.
In den Spätnachmittags- und Abendstunden besuchte ich das Polytechnikum in Chelsea, bei dessen Lehrern ich viel Verständnis für meine schwierige Lage fand. Besonders ein Lehrer, der Unterricht im Brückenbau erteilte, gab sich mit mir die allergrößte Mühe, als er sah, dass ich das Englische noch nicht genügend beherrschte, um dem
Unterricht ungehemmt folgen zu können. Oft setzte er sich neben mich und übersetzte mir die technischen Ausdrücke. Ich war der einzige Deutsche unter den etwa dreißig Schülern.
Bald merkte ich, dass ich mit meinen zwölf Schillingen keine großen Sprünge machen konnte, denn ich musste davon auch Bücher und Zeichenutensilien anschaffen. Meine Eltern, die mir meine heimliche Wegreise nicht nachtrugen, taten, was sie konnten, schickten mir ein Reißzeug, Bücher und manchmal sogar ein paar Mark. Aber es gab doch Zeiten, in denen ich tagelang ohne Nahrung blieb, weil ich nicht einen Pfennig besaß. Einmal brach ich auf dem Heimweg vom Büro auf der Straße zusammen - ich hatte seit drei Tagen nichts gegessen. Man trug mich in einen Hausflur. Unter den Menschen, die sich um mich bemühten, war ein Briefträger, der merkte, woran es mir fehlte. In seiner Familie fand ich freundliche Aufnahme, und von da an ging es erheblich besser.
Durch die beiden Amerikanerinnen lernte ich später einen englischen Geistlichen, Reverend Beardmoore, kennen, der eine Zeitlang in Dresden studiert hatte. Er wurde mir ein wahrer Freund. Ich verdanke diesem Manne ungeheuer viel, da er auf jede Weise mein Vorwärtskommen und mein Studium förderte. Er riet mir auch, einem englischen Schwimmklub beizutreten. Ich konnte nicht schwimmen, obwohl ich kaum ein paar Meter von der Elbe entfernt geboren bin und fast sechzehn Jahre lang immer in Dörfern an der Elbe gelebt hatte. Nun wollte ich das Versäumte nachholen, um mich nicht gar zu sehr zu blamieren. Ich ging täglich eine Stunde in die so genannte Serpentine im Hyde-Park baden, und zwar bis in den späten Dezember hinein. Diese Winterbadekur hätte ich wahrscheinlich kaum durchgehalten ohne ein paar Engländer - darunter ein alter 65 jähriger Herr, der aber aussah wie 40 und schon seit vielen Jahren Sommer und Winter dort badete -, die mir Gesellschaft leisteten. Wir hackten miteinander das Eis auf und konnten so auch an den kältesten Tagen wenigstens ein Tauchbad nehmen. Bei einem wenige Wochen später stattfindenden Wettschwimmen gewann ich den ersten Preis für Schnellschwimmen, eine silberne Medaille, auf die ich mir sehr viel einbildete, zumal ich der einzige Deutsche im Klub war. Leider musste ich sie bald darauf, als es mir wieder einmal schlecht ging, dem Pfandleiher überlassen.
Durch den täglichen und fast ausschließlichen Umgang mit Engländern beherrschte ich nach einigen Monaten die Sprache soweit, dass ich ohne grö­ßere Schwierigkeiten dem Unterricht im Polytechnikum folgen konnte.
Nach Ablauf von nicht ganz zwei Jahren musste ich wegen meiner Militärdienstpflicht nach Deutschland zurück. Ich erfüllte damit zugleich einen dringenden Wunsch der Eltern, die meine »Auslandsreise« nie ganz verschmerzen konnten. Durch meine Schwester hatte ich erfahren, dass die Mutter ohnmächtig auf der Straße zusammengebrochen war, als meine Nachricht eintraf, ich sei nach England gefahren.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur