Mit der Kette am Bein zum letzten Mal durch Wald und Flur
Was das Wort »lebenslängliches Zuchthaus«, was dieser Begriff zu bedeuten hat, welche Wirkung allein das gedruckte und gesprochene Wort auf mich ausübte, sollte ich erst später erfahren. Vorläufig nahm ich den Urteilsspruch nicht tragisch. Ich war felsenfest davon überzeugt, den Justizirrtum nachweisen zu können. Ich wusste, dass ich mit der Erschießung des Heß nichts zu tun hatte. Ich wusste auch, dass eine ganze Reihe der anderen gegen mich erhobenen Beschuldigungen hinfällig waren. Deshalb musste es mir gelingen, das Urteil auf lebenslängliches Zuchthaus in eine zeitlich begrenzte Haft umzuwandeln. Ich war sehr gespannt, ob man mich im Untersuchungsgefängnis Moabit lassen oder in ein Zuchthaus überführen werde.
Günstiger für mich lagen die Dinge, wenn ich bis zur Wiederaufrollung des Prozesses in Berlin bleiben konnte. Hier hatte ich eher als irgendwo anders die Möglichkeit, mit meinen Verteidigern zu konferieren.
Der erste Tag nach der Urteilsverkündung bewies mir, dass ich von jetzt ab auch die einfachsten Menschenrechte nicht mehr für mich beanspruchen durfte. Justizrat Broh, der mich als erster besuchte, durfte nur in Gegenwart eines Aufsichtsbeamten mit mir sprechen, während ich vorher mit ihm unbeaufsichtigt hatte sprechen dürfen. Am selben Tag kam der Polizeiinspektor des Untersuchungsgefängnisses in meine Zelle, ebenso der so genannte Arbeitsinspektor; beide erklärten mir, dass ich von jetzt ab weder Zeitungen noch Bücher bekomme und dass ich für die Anstalt arbeiten müsse. Nun war ich dazu verdammt, Tüten zu kleben.
Ich nahm, nachdem mir alle Bücher und Zeitungen genommen waren, die Arbeit in meine Zelle, um die Zeit hinzubringen. Täglich zehn Stunden klebte ich Tüten. Klebte, klebte, klebte und verklebte mit diesem Kleben mein ganzes Denken, bis ich herausfand, dass das den Anfang vom Ende meines geistigen Seins bedeutete.
Was es heißt, zehn Stunden am Tag Tüten zu kleben, sonst nichts zu tun als zu kleben, mit keinem Menschen zu sprechen, kein Buch, keine Zeitung zu lesen, nur dreimal am Tag unterbrochen von den so genannten »Mahlzeiten«, dreimal täglich ein paar Löffel immer gleich schmeckender Suppe, das kann nur ein Mensch ermessen, der es selbst erlebt hat. Als ich dann noch hörte, dass es dem willkürlichen Ermessen der Anstaltsleitung überlassen ist, diese zehn Stunden Arbeit zu entlohnen, und dass es im allergünstigsten Fall nur einen Tagesverdienst von acht Pfennigen gibt, von denen wiederum nur die Hälfte, also vier Pfennige, für den Gefangenen verwendet werden dürfen, war es mit meiner Arbeitslust vorbei. Ich warf dem Arbeitsinspektor den ganzen Tisch mitsamt den Tüten und dem Kleistertopf vor die Füße und verweigerte einfach diese Art Arbeit.
Die Folge war, dass die »Hausstrafen« gegen mich zur Anwendung gebracht wurden: Entziehung des Nachtlagers und des täglichen Spazierganges im Hof.
Bis zum 13. Juli blieb ich in Moabit. In der Nacht von 13. zum 14. Juli wurde es plötzlich lebendig in meiner Zelle. Etwa zehn bis zwölf Menschen standen mitten in der Nacht, es war ein Uhr, vor meiner Holzpritsche: »Machen Sie sich fettig, Hoelz, Sie werden ins Zuchthaus transportiert.«
Auf meine Frage, in welches Zuchthaus, wurde geantwortet, das dürfe mir nicht gesagt werden.
Ich kleidete mich an und verließ, noch halb im Schlaf, umringt von diesem Dutzend Menschen, die Zelle. Unter diesen etwa zwölf ausgesucht abstoßenden Gesichtern war ein menschliches, das meines Verteidigers Justizrat Broh. Er hatte es durchgesetzt, bei meiner Überführung ins Zuchthaus zugegen zu sein, um zu verhindern, dass ich bei dieser Gelegenheit wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Jogiches, Sylt, Paasche und viele andere »auf der Flucht« ermordet werde. Im Hof standen drei Automobile. Ich sah Zivilpersonen, die leicht als Kriminalbeamte zu erkennen waren. Die Beamten beförderten mich in eines der Automobile, und noch ehe ich mich recht versah, war an meinem Bein eine fast drei Meter lange und etwa dreißig Pfund schwere eiserne Kette angebracht. Meine Proteste halfen nichts, ich war überrumpelt worden, die Kette war fest ans Bein geschlossen, und die drei Automobile waren bereits in voller Fahrt, nach einem mir unbekannten Ziel.
Im Auto, in dem ich saß, befanden sich außer mir und meinem Verteidiger noch ein Kriminalkommissar und der Staatsanwalt Dr. Jäger, der die Todesstrafe beantragt hatte. Dieser famose Menschenfreund hatte kurz vor der Urteilsfällung zu meiner Mutter, die um Besuchserlaubnis eingekommen war, gesagt, er sei überzeugt, dass ich den Heß nicht erschossen habe. Nun versuchte er, sich bei mir anzubiedern. Durch seine raffinierten Fragen wollte er von mir herauskriegen, welche Rolle einzelne führende Parteigenossen in der Märzaktion gespielt hatten. Um mich gesprächig zu machen, opferte er aus seinem Weinkeller eine Pulle Rotwein, die er auf der Fahrt ins Zuchthaus mir, seinem lebendig begrabenen Opfer, anbot. Er ließ alle sentimentalen Register los, um mich zum Reden zu bewegen.
Nachdem die Weinlockung nicht zog, begann er von seiner Familie zu erzählen, zeigte mir die Bilder seiner zwei kleinen Kinder, und als auch das nicht wirkte, versuchte er zu beweisen, dass er eigentlich mein Lebensretter sei, denn an ihm habe es doch gelegen, mich aufs Schafott zu bringen.
Und nun schilderte er stundenlang die Hinrichtungen, denen er in seiner Eigenschaft als Staatsanwalt beigewohnt hatte. Man musste es ihm lassen, er hatte manches erlebt.
Er hatte Steinchen auf Steinchen zusammengetragen, um soundso viel armen Sündern den Strick um den Hals zu legen, dann die Schlinge zugezogen und hierauf den Delinquenten dem Scharfrichter überantwortet.
Es war schauerlich, wie dieser sachverständige, gesetzliche Mörder in sadistischer Ausführlichkeit die letzten Stunden der vielen Menschen schilderte, die er zum Tode befördert hatte.
Während er seine widerlichen Erinnerungen preisgab, waren die Autos aus Berlin herausgekommen, waren weitergerollt durch die Mark Brandenburg in eine Gegend, die ich nicht kannte, bis ich von meinem Verteidiger hörte, dass wir uns in der Nähe von Magdeburg befanden.
Vor Magdeburg erwartete uns ein viertes Auto, mit Schutzpolizei in Zivil besetzt, das unsere drei Autos um Magdeburg herumleitete, damit wir ja nicht das Innere der Stadt berührten. Ich erfuhr jetzt auch, dass bereits am Tage vorher ein Automobil von Berlin aus die ganze Strecke bis zum Zuchthause gefahren war, um den Weg genau festzulegen und Benzinstationen zu errichten. Die Fahrt ging mit einer rasenden Schnelligkeit vor sich, von früh zwei bis abends neun Uhr, mit einer ganz kurzen Pause. Erst in Hamm in Westfalen sagte man mir, unser Ziel sei das Zuchthaus Münster. Der Staatsanwalt behauptete, dort wäre ich am sichersten untergebracht, weil in Münster nur fromme Katholiken wohnen, aber keine Kommunisten. Es war ein Glück, dass auf dieser rasend schnellen Fahrt nicht Menschen überfahren wurden. Totgefahren wurden eine Gans, ein Hahn, eine Henne und ein Hund.
Sehr niedergeschlagen war ich, als ich sah, wie vor unserem Wagen, der inmitten der mit Kriminalbeamten gespickten Begleitautos fuhr, ein kleiner, schwarzer Hund die Straße kreuzte und unter die Räder geriet. Ich schaute durch das Fenster im Rücksitz und bemerkte, dass der Hund getötet war. Ein kleiner Köter, der dem überfahrenen ähnelte, sprang aus einem Gehöft heraus und stand hilflos und traurig vor dem Kadaver seines Spielgefährten.
Im Flug sausten die an der Straße liegenden
Dörfer, Wälder, Wiesen und Felder vorüber. Meine Augen, die vier Monate lang die öde Gefängnismauer gesehen hatten, tranken begierig das lang entbehrte Stück Natur.
Ich grüßte an diesem Tage die Freiheit und nahm doch zugleich wieder Abschied von ihr. Wie lange sollte ich sie entbehren müssen? Ich hoffte bestimmt, in spätestens eineinhalb Jahren eine Änderung meines Schicksals erkämpft zu haben. Aber es kam anders, ganz anders. Und wenn mich während dieser Fahrt jemand davon überzeugt hätte, dass ich fast acht Jahre im Zuchthaus werde bleiben müssen - ich hätte es sicherlich nicht lebendig betreten.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten wir Münster in Westfalen. |
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