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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Hungerstreik mit Schokolade

Oft wurde ich, wenn ich über den Büchern saß, durch lautes Brüllen aufgeschreckt, das sich anhörte, als ob ein Mensch Schmerzensschreie ausstoße. Für meine Vermutung, dass andere Gefangene von den Aufsehern geprügelt wurden, fehlten mir alle Beweise. Der Direktor hatte mir wiederholt erklärt, ich sei der einzige Gefangene, der behaupte, misshandelt worden zu sein; es sei überhaupt unmöglich, dass sich ein Beamter an Gefangenen vergreife. Das Prügeln in Zuchthäusern sei abgeschafft worden.
Ich fragte den Kalfaktor, was die Schreie, die ich des Öfteren hörte, zu bedeuten hätten, ob Gefangene geschlagen würden und ob er schon einmal Zeuge einer solchen Misshandlung gewesen sei. Er sagte, ja, es würden sehr oft Gefangene von den
Aufsehern geschlagen, aber auch von den anderen Gefangenen, er dürfe mir das aber nicht sagen, ich solle ihn nicht verraten, sonst verliere er seinen Posten, der für ihn doch eine große Erleichterung bedeute. Er käme dann wieder in Einzelhaft, und die Einzelhaft habe ihn fast verrückt gemacht. Er sei froh, dass er jetzt am Tage auf den Gängen herumlaufen dürfe. Wenn ich es schlau anstellte, dann könnte ich Gelegenheit haben, selbst zu beobachten, wie Gefangene geschlagen werden. Zumeist würden die Gefangenen von den Aufsehern misshandelt, wenn sie in den Arrest geführt werden.
Wenn wieder einmal ein Gefangener in die Arrestzelle gebracht werde, wolle er, der Kalfaktor, mir ein Zeichen an meiner Tür geben. Dann solle ich schnell »die Klappe ziehen«, damit der Aufseher meine Tür öffne, und frisches Trinkwasser verlangen. Währenddessen müsse ich versuchen, über das Geländer nach dem Zellenflügel, wo die Arrestzellen liegen, einen Blick zu werfen.
Ich tat, wie mir der Gefangene geraten, und sah, dass Beamte mit Schlüsseln und anderen Gegenständen auf Gefangene einschlugen, die in die Strafzellen abgeführt wurden. Vorsichtige Aufseher prügelten die Gefangenen nicht selbst, sondern ließen das durch Kalfaktoren, also Mitgefangene, besorgen. Dafür erhielten die Kalfaktoren von dem betreffenden Aufseher ein Stück Kautabak, ein Stück Brot oder andere kleine »Vergünstigungen«.
Ein übles Kapitel waren auch die Badeverhältnisse. Laut den Vorschriften für den Strafvollzug sollten alle Gefangenen mindestens alle vierzehn Tage gebadet werden. Praktisch erfolgte diese Reinigung jedoch nur alle vier, oft sechs bis acht Wochen, und dann in einer ganz ungenügenden Weise. Für achthundert Gefangene waren nur fünf Brausen vorhanden. In Gruppen wurden die Sträflinge zum Baden geführt. Noch ehe sie mit dem Entkleiden fertig waren, begann das Wasser aus den Brausen zu laufen, nur ein paar Sekunden lang, dann wurde es wieder abgestellt. Die Gefangenen sollten jetzt den angefeuchteten Körper einseifen und abscheuern, was praktisch unmöglich war, da sie ja kein Wasser zum Abscheuern hatten. Nach kaum ein bis zwei Minuten gaben die Brausen noch mal kurz Wasser, das zum Abspülen dienen sollte. Diese unzulängliche »Reinigung« hatte zur Folge, dass die Gefangenen durch den noch am Körper haftenden Seifenschaum eher schmutziger als rein wurden. Sie mussten, zumeist noch nass, schnellstens die Kleider anziehen; denn vor der Badezelle wartete bereits die neue Serie Gefangener, die in gleicher Weise »baden« mussten.
Das Rauchen im Zuchthaus war streng verboten. Es gab auch keine Gelegenheit, Tabak zu kaufen oder sich von draußen schicken zu lassen. Trotzdem wurde in fast allen Zellen sehr viel geraucht. Die Gefangenen durften sich von ihrem Arbeitsverdienst Kautabak kaufen. Mit den ausgekauten, schmierigen Resten des Kautabaks trieben die Kalfaktoren, die die Gänge und Kübel reinigten, einen blühenden Handel. Die Priemreste wurden getrocknet, dann zerkleinert, und mit Zuhilfenahme von Zeitungspapier, das in kleine Stücke geschnitten als Klosettpapier in jeder Zelle lag, drehten sich die leidenschaftlichen Raucher Zigaretten. Aus einem Zwirnsfaden, einem Metallhosenknopf und einem während der Hofstunde aufgelesenen Stein machten sich die Gefangenen ein primitives Feuerzeug. Aus einer Decke, aus einer Weste, aus einem Hemd oder Handtuch schnitten sie ein Stück heraus, glühten es ab, und auf diese Weise gewannen sie für ein bis zwei Wochen Lunte.
Das Kautabakrauchen - noch dazu mit Zeitungspapier - hatte für die Gefangenen große gesundheitliche Nachteile, vor allem gaben sich dadurch die Lungenkranken den letzten Rest. Wurden die Gefangenen beim Rauchen erwischt -und das geschah sehr oft, denn die Aufseher beobachteten sehr eifrig am Tage und des Nachts durch den »Spion«, ob geraucht wurde -, dann wurden sie mit Arrest bestraft. Besonders hart bestraft wurden sie wegen der Herstellung von Lunte. Für diese Sachbeschädigung erhielten die Gefangenen drei, oft sogar vier Wochen Arrest, und außerdem mussten sie den Schaden - nämlich die zerschnittenen Wäschestücke oder Decken - voll ersetzen. Die Gefangenen nahmen lieber alle diese Strafen auf sich, als dass sie auf das Rauchen verzichteten.
Ich selbst hätte oft leidenschaftlich gern eine Zigarette oder eine Zigarre geraucht, aber ich brachte es nicht fertig, diesen fürchterlichen Dreck von ausgekautem Kautabak als Ersatz dafür zu genie­ßen. Einmal versuchte ich es, um zu probieren, wie das Zeug schmeckt - mit dem Erfolg, dass sich mir der Magen umdrehte und ich tagelang krank war.
Ein Ministerialrat aus dem preußischen Justizministerium, der mich in den ersten Monaten meiner Haft besuchte, sagte, er wolle mir das Rauchen gestatten. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, die Rauchererlaubnis auch den anderen politischen Gefangenen und den Kriminellen zu geben. Er erwiderte: Nein, das ginge zu weit, darunter würde die Anstaltsdisziplin leiden. Darauf lehnte ich es ab, als einziger die Rauchererlaubnis für mich anzunehmen.
Ich hatte inzwischen erfahren, dass sich außer mir in Münster noch hundert bis zweihundert andere politische Gefangene befanden. Es wurde mir aber jede Möglichkeit unterbunden, mit meinen mitgefangenen Parteigenossen in Verbindung zu treten. Meine Bitte, mich mit einigen Genossen in Gemeinschaftshaft zu legen, wurde schroff abgelehnt. Erst in den letzten paar Monaten setzte ich es durch, mit einem Genossen zusammenzukommen.
Nach den Weihnachtsfeiertagen 1922 kam es im Zuchthaus zu einem großen Skandal. In der Anstaltsküche und Anstaltsbäckerei waren Schiebungen mit Mehl und Hülsenfrüchten aufgedeckt worden. Beamte hatten sich an den Schiebungen beteiligt. Alle in der Küche und Bäckerei beschäftigten Gefangenen wurden abgelöst. Bei dem einen wurde sogar ein Sparkassenbuch gefunden. Es stellte sich heraus, dass ein Beamter im Laufe der Jahre größere Mengen Lebensmittel aus der Anstalt herausgeschafft und einen Teil davon für sich verbraucht hatte. Von dem Erlös des anderen verkauften Teils war für den an den Schiebungen beteiligten Gefangenen ein Sparkassenbuch angelegt worden. Die verschobenen Lebensmittel waren von den den Gefangenen zustehenden sowieso geringen Portionen abgezwackt worden. Gerade in Münster kam es oft zu Unruhen, weil das Essen immer schlechter und dünner wurde. Es war deswegen schon zu regelrechten Meutereien gekommen.
Das Brot konnte man monatelang nicht genie­ßen, es war bitter und feucht. Die Gefangenen bekamen Darmbeschwerden davon. Wenn das Brot nur kurze Zeit in der Zelle lag, sah es aus wie von Pilzen bedeckt.
Mein Parteigenosse, Landtagsabgeordneter Menzel, besuchte damals die Strafanstalt. Ich sprach mit ihm über das schlechte Essen, besonders über das unverdauliche Brot. Direktor Scheidges, der bei der Unterredung mit dem Abgeordneten zugegen war, sprang sofort auf und bot Menzel eine Kostprobe an, die er im Zimmer hatte. Mein Parteigenosse nahm das Brot, fing zu essen an, kaute eine Weile, und dann sagte er ganz naiv: »Ja, besseres Brot haben wir zu Hause auch nicht, das Brot ist doch ganz gut.« Ich war durch diese Äußerung wie vor den Kopf geschlagen. In den Zellen lagen tatsächlich Dutzende von Gefangenen mit Magenbeschwerden.
Der Direktor der Anstalt strahlte über das ganze
Gesicht, er konnte jetzt gegen alle Beschwerden damit argumentieren, dass ja der kommunistische Abgeordnete das Brot für gut befunden habe.
Genosse Stöcker, der etwa sechs Monate später die politischen Gefangenen in Münster besuchte und den ich in Gegenwart des Direktors sprach, ließ sich vom Direktor Scheidges nicht mit einer Kostprobe fangen. Als der Direktor eine anbot, weil ich mich wieder über das Essen beschwerte, erwiderte Stöcker: »Ich danke, Herr Direktor, ich kenne diese Proben vom Militär her.«
Da sich meine Konflikte mit der Anstaltsleitung vermehrten und immer unerträglicher wurden, beantragte ich bei der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft meine Verlegung in ein anderes Zuchthaus. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich wandte mich dann durch Vermittlung meiner Verteidiger an das preußische Justizministerium und wies darauf hin, dass mein weiteres Verbleiben in der Strafanstalt Münster infolge der ununterbrochenen Konflikte mit dem Direktor zwangsläufig zu einer Katastrophe führen müsse. Trotzdem lehnte auch diese Stelle meine Anträge ab, weil ich - wie mir gesagt wurde - in einer anderen Anstalt nicht sicher genug verwahrt werden könnte.
Während meiner Internierung nach dem Kapp-Putsch in der Tschechoslowakei hatte ich mit einem Hungerstreik Erfolg erzielt. Deshalb versuchte ich, meine Überführung in eine andere Anstalt durch einen Hungerstreik zu erzwingen. Kalfaktoren und andere Gefangene, die von meiner Absicht des Hungerstreiks Kenntnis hatten, rieten mir, ich solle mir vorher etwas Schokolade auf die Seite bringen und während des Hungerstreiks jeden Tag ein kleines Quantum essen, dann könne ich den Hungerstreik wochenlang durchführen, ohne meiner Gesundheit zu schaden. Der Erfolg war aber ein ganz anderer: Dadurch, dass ich jeden Tag ein Stückchen Schokolade zu mir nahm - zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel - wurde ich das peinigende Hungergefühl überhaupt nicht los. Außer dem nicht nachlassenden Hungergefühl hatte mein fingierter Hungerstreik noch andere Folgen für mich. Da der Magen außer der Schokolade keine Nahrungsmittel bekam, vor allem keine Flüssigkeiten - ich verweigerte auch die Annahme des Wassers -, verstopfte sich der Stuhl. Noch wochenlang danach hatte ich bei jedem Stuhlgang die heftigsten Schmerzen. Die im Darm angesammelten Kotreste waren zu Stein verhärtet, und erst nach Dutzenden von Klistieren nahm der Stoffwechsel wieder seinen normalen Verlauf. Ich war durch dieses Experiment kuriert, und bei den späteren Hungerstreiks, die ich in Münster, Breslau und Groß-Strehlitz durchführte, nahm ich wohlweislich nicht die geringste Nahrung zu mir.
Vor Beginn meines ersten Hungerstreiks teilte ich der Direktion mit, dass ich so lange jede Nahrungsaufnahme verweigere, bis ich in eine andere Anstalt gebracht werde. Aber schon nach neun Tagen musste ich den Hungerstreik abbrechen. Da ich auch das Trinkwasser verweigerte, bekam ich Fieber. Mein ganzer Körper brannte wie Feuer, die trockenen Lippen platzten, und ich konnte nicht mehr sprechen, nicht einmal flüstern. Mitten in der Nacht wurde mein Zustand so ernst, dass mein Zellengenosse glaubte, ich würde den Morgen nicht mehr erleben. Er trommelte mit Fäusten an die Türe, bis der Aufseher kam, den bat er um Wasser für mich, da kein Tropfen in der Zelle war. Der Beamte erklärte, er dürfe allein nicht aufschlie­ßen, und es sei unmöglich, einen anderen Beamten zu erreichen. Mein Zellengenosse gab sich damit nicht zufrieden, er schlug die winzige Glasscheibe des Zellenspions ein. Durch das entstandene Loch steckte er eine aus Zeitungspapier gedrehte Röhre, an die hielt der Aufseher eine Tasse mit Wasser, das der Gefangene aufsog und für mich in eine andere Tasse laufen ließ. Es dauerte viele Monate, ehe ich mich von diesem Hungerstreik einigerma­ßen erholte.
Meine Verlegung in eine andere Strafanstalt erreichte ich durch die Nahrungsverweigerung nicht.
Meine Eltern wollten mir zu Weihnachten eine Freude machen. Sie hatten Lebensmittel, darunter ein paar frische Würste und etwas Kuchen und Obst geschickt, weil ihnen bekannt war, dass jeder Gefangene zu Weihnachten ein Paket erhalten dürfe. Der Direktor verweigerte mir die Aushändigung, obwohl ich ihn darauf aufmerksam machte, dass die Lebensmittel in seinem überheizten Zimmer - er bewahrte sie bei sich auf - schlecht werden mussten. Als ich das Paket nach mehreren Tagen endlich ausgehändigt erhielt, war das meiste verfault und ungenießbar.
Während des Hungerstreiks erklärte mir der Direktor, ihm mache es nichts aus, wenn ich im Hungerstreik sei, er selbst habe ja zu essen. Diese von ihm mit lächelndem Gesicht gesprochenen Worte erbitterten mich noch mehr gegen ihn, ich spie ihn wieder an. Darauf wurde ich zum dritten Mal in die Tobzelle geschafft.
Der Direktor Scheidges war trotz allem nicht der Sadist, als den ich ihn bislang angesehen hatte. Sein Vorgehen gegen mich, seine Maßnahmen und die kleinlichen Schikanen trafen mich hart, und seine Missachtung aller Rechte, die den Gefangenen gesetzlich zustanden, erbitterten mich gegen ihn. Ich fühlte mich durch alles, was er gegen mich unternahm, unaussprechlich gequält. Ich hasste diesen Mann, wie ich noch nie einen Menschen gehasst hatte. Aber ich gewann die Überzeugung, dass seine scharfen Zwangsmaßnahmen gegen mich und andere Gefangene ihm selbst sehr unangenehm waren. Ihm fehlte jedes psychologische Einfühlungsvermögen in die Gefühle und die Gedankenwelt der Gefangenen, und er hatte nicht die geringste Fähigkeit, Gefangene individuell zu behandeln. Er wollte mit übertriebener Härte und überspannten Sicherungsmaßnahmen die Gefangenen bessern und erziehen. Dadurch verbitterte er sie nur. Mein leidenschaftlicher Hass und meine Rachegefühle wandelten sich in Bedauern für diesen Mann.
Eines Tages wurde ein Gefangener mit in meine Zelle gelegt, vor dem mich die Kalfaktoren warnten, er sei ein übler Kerl, der seine Mitgefangenen und auch Beamte denunziere und den der Direktor nur in meine Zelle gelegt habe, um mich bespitzeln zu lassen.
Der Gefangene erzählte Tag für Tag nur von seinen Hochstapeleien und Diebstählen. Dieser Bursche hatte seine frühere Braut, eine Kontoristin, denunziert, sie habe von seinen Diebstählen gewusst. Er erhielt ein paar Jahre Zuchthaus, seine Braut sechs Monate Gefängnis. Ihre Existenz und ihr ganzes Leben waren ruiniert, sie verübte Selbstmord im Gefängnis. Der Hochstapler gab mir und allen anderen Gefangenen gegenüber zu, dass er sie falsch beschuldigt hatte. Als er mir diese Gemeinheiten erzählte, beschloss ich, ihn mit allen Mitteln aus meiner Zelle wieder herauszubringen.
Der Hochstapler war auch bei den Beamten sehr verhasst; er hatte einen Werkmeister um Existenz und Pension gebracht. Kaum drei bis vier Meter von der großen Zuchthausmauer entfernt, stand außerhalb der Anstalt ein von Zivilisten bewohntes Haus. Dort wohnte ein junges Fabrikmädel, das der Gefangene, der Kalfaktorendienste verrichtete, vom Korridorfenster aus beobachtete. Als er ihren Namen erfuhr, schrieb er heimlich Briefe an sie, die ein fast sechzig Jahre alter, menschenfreundlicher Aufseher illegal beförderte. Die neugierige Wirtin des Mädchens ersah aus dem Inhalt der Briefe, dass der Schreiber ein Zuchthäusler war; sie ging mit den Briefen zum Direktor. Der veranlasste eine scharfe Untersuchung. Aus irgendeinem Grunde fiel der Verdacht auf den alten Beamten.
Der Gefangene, der viel zu feige war, den Werkmeister zu decken, gab vor dem Direktor den Sachverhalt zu. Der Aufseher wurde sofort entlassen und später gerichtlich bestraft.

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