Ich fange  an zu beten - Zwei alte Genießer
  Die Folge dieses und eines zweiten Auftrittes in meiner Zelle war,  dass ich wiederum in die Tobzelle geschleppt wurde, in der ich schon  einmal vier Tage lang gelitten hatte. Auch am Morgen meiner zweiten  Einlieferung in die Tobzelle besuchte mich Professor Többen. Ich lag am  Fußboden auf der stinkenden Matratze. Aber diesmal war ich nicht so  entsetzlich verzweifelt, sondern es hatte sich meiner fast eine Art  Galgenhumor bemächtigt. Allmählich fing ich an, die Situation zu  übersehen und zu beherrschen. Ich hatte mir eine besondere  Verteidigungsmethode ausgedacht. Professor Többen - ein großer,  auffallend stark beleibter Mann - lehnte sich mit dem Rücken an den  Pfosten der offenen Zellentür, schaute auf mich herab und fragte: »Na,  Hoelz, wie geht es Ihnen?« Die Hände über der Brust gefaltet, sagte  ich, zu ihm aufblickend, ernsthaft und langsam folgendes: »Herr  Professor, mir geht es sehr gut. Ich habe wieder angefangen zu beten.« 
    Professor Többen war starr und sagte: »So, so.« Auf seinem Gesicht  malte sich grenzenloses Staunen über die Veränderung, die, wie er  glaubte, mit mir vorgegangen war. Er kam ein paar Schritte näher und  blickte mich interessiert an. Ich fuhr fort: 
    »Ja, Herr Professor, ich habe die ganze Nacht mit Inbrunst zu meinem  himmlischen Vater gebetet, dass er Sie bei lebendigem Leibe verfaulen  lässt.« 
    Die Wirkung dieser ganz ruhig gesprochenen Worte auf den Arzt war  unbeschreiblich. Er sperrte den Mund auf und starrte mich an wie ein  Gespenst. Erst nach geraumer Zeit fand er die Sprache wieder und sagte: 
    »Das  wünschen Sie wirklich Ihrem Mitmenschen?« 
    Ich  erwiderte: 
    »Ja, Herr  Professor, ich wünsche, dass Sie ganz langsam, Stück für Stück, lebendig  verfaulen.« 
    Da mich sein Entsetzen so belustigte, dass ich kaum noch ernsthaft  bleiben konnte, schien er zu merken, dass ich ihn verhöhnte. Er fragte,  ob ich aus der Tobzelle wieder herauswolle. Meine Antwort war: nein,  mir gefalle es hier sehr gut und er solle mich hier lassen, solange er  Lust habe. Darauf machte er wortlos kehrt. 
    Am nächsten Morgen wiederholte er die Frage. Ich erklärte, ich dächte  gar nicht daran, und freiwillig würde ich überhaupt nicht herausgehen.  Man habe mich mit Gewalt hereingeschleppt, man müsse mich auch mit  Gewalt wieder herausholen. Das war ihm denn doch zu bunt. Als ich ihm  am dritten Tage dasselbe sagte, veranlasste er, dass die Aufseher mich  aus der Tobzelle in meine alte Zelle zurücktrugen. 
    Während der ersten Monate meiner Haft hielt ich den Professor Többen  für einen ganz gefühllosen, kaltschnäuzigen Menschen. Ich hatte  erfahren, dass er sehr fromm war, und hielt ihn für einen von  denjenigen Frommen, die, während sie mit den Lippen beten, mit den  Händen ihre Mitmenschen umbringen können. Ich musste meine Ansicht über  ihn revidieren. Von Mitgefangenen und von einigen mir wohlwollenden  Beamten hörte ich, dass Többen in vielen Fällen ernstlich bemüht war,  den erkrankten Gefangenen zu helfen und ihnen Erleichterung zu  verschaffen. Nur gelang ihm das nicht immer, weil seine Bemühungen auf  Widerstand beim Direktor stießen. Der Professor hatte wiederholt  stundenlange Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit dem Direktor,  um ihn dazu zu bewegen, harte Strafen, die er über kranke Gefangene  verhängt hatte, zurückzunehmen. 
    Nach meinem vereitelten Entleibungsversuch hatte der Arzt es  durchgesetzt, dass ich mit zwei anderen Gefangenen in eine  Gemeinschaftszelle verlegt wurde. Dadurch sollte verhindert werden,  dass ich einen zweiten Selbstmordversuch machte. Ich sollte in der  Gemeinschaft etwas Zerstreuung und Ablenkung finden. Der Raum bestand  aus zwei nebeneinander liegenden, sehr kleinen Zellen. Die eine davon  benutzten wir drei Mann als Tagesraum, in der andern waren für die  Nacht zwei eiserne Pritschen aufgestellt, die kaum Platz hatten. Der  dritte Mann musste auf dem Fußboden schlafen. Der eine meiner beiden  Zellengenossen war ein ganz ergrauter, dreiundsechzigjähriger Bergmann,  der wegen Blutschande mit seiner zwanzigjährigen Tochter zu einem Jahr  Zuchthaus verurteilt war; der zweite war ein neunundfünfzigjähriger  Weber, von Geburt Holländer, der ebenfalls wegen Blutschande mit seiner  achtzehnjährigen Tochter ein Jahr Zuchthaus bekommen hatte. 
    Der Graukopf, der nahezu sieben Jahrzehnte auf seinem Buckel hatte,  sprach den ganzen Tag und auch in der Nacht über nichts anderes als  über Frauen und Mädchen, die er schon gehabt hatte und die er nach  seiner Freilassung noch haben wollte. Mit Siegermiene erzählte er, dass  ihm eigentlich keine Frau und kein Mädchen widerstehen könne und dass  er besondere Lockmittel habe, mit deren Hilfe er jede Frau rumkriege.  Besonders gern und stolz erzählte er von seinen Erfolgen mittels  Petroleum und Brot. Während des Krieges hatte er auf einer größeren  Schachtanlage als Lokomotivheizer für eine kleine Werksbahn gearbeitet.  Damals war die Zeit der Hungerjahre, in denen die Proletarierfrauen und  -kinder um jeden Bissen Brot und jede Kartoffel verzweifelt kämpfen  mussten. Brot und auch Petroleum waren begehrte Artikel. Über beides  verfügte der alte Schürzenjäger auf Grund seiner Stellung und seiner  guten Beziehungen. Petroleum bekam er zum Reinigen und Schmieren der  Lokomotive geliefert, und Brot ergaunerte er durch Schleichhandel mit  Kohle. Er rechnete mir genau vor, wie oft er für je einen halben Liter  Petroleum oder für ein Pfund Brot mit einer Frau geschlafen hatte. Er  hielt auf gute Preise und ließ nicht mit sich handeln. Wenn eine Frau  seine Forderungen nicht erfüllte, erhielt sie eben kein Brot oder kein  Petroleum. 
    Noch widerlicher aber hörten sich seine Schilderungen an, in denen er  berichtete, wie oft und wie sehr er seine Frau in den mehr als vierzig  Jahren seiner Ehe geprügelt hatte. Am meisten Spaß hatte es ihm  gemacht, wenn er mit dem Feuerhaken in der einen Hand auf sie einschlug  und sie mit der anderen Hand an den Haaren schleifte. Zu seiner  Entschuldigung führte er an, dass er sie ja immer nur im Suff geprügelt  habe. 
    Nicht  viel besser verhielt es sich mit dem andern 
    Kumpan.  Auch sein Denken und Handeln sowie seine Reden waren ganz beherrscht von der  sexuellen Begierde. 
    Die beiden erzählten einander bis in die späte Nacht, ja oft bis in die  frühen Morgenstunden hinein ihre sexuellen Erlebnisse mit allen von der  Phantasie verklärten Einzelheiten. 
    Der eine versuchte, da ihm Frauen im Zuchthaus nicht zur Verfügung  standen, sich auf gleichgeschlechtlichem Wege zu entspannen. Sein  Kumpan war ihm für dieses Liebesspiel zu alt, er wollte etwas Jüngeres  und kam deshalb nachts mehrmals leise an mein Lager geschlichen. Er  versuchte in der dunklen Zelle mit seinen Händen meine Geschlechtsteile  zu fassen. Dabei versprach er flüsternd, dass er für mich alles tun und  mir alles geben wolle - Kautabak, Pferdewurst -, und vor allem: er  wolle Kassiber für mich aus der Anstalt herausschmuggeln. Das erste Mal  glaubte ich, mich plage ein hässlicher Traum. Es dauerte lange, ehe ich  begriff, dass der Alte ernstlich versuchte, seine angesammelte  Sexualität an meinem Körper loszuwerden. Ich wusste, dass die  Anstaltsleitung solche Versuche streng bestrafte, und unterließ deshalb  eine Anzeige. In wenigen Wochen sollte er sowieso entlassen werden, er  hatte seine Strafe verbüßt. Ich wollte nicht den Anlass zu einer  Verlängerung seiner Haft geben. 
    Die beiden Alten waren starke Alkoholiker und litten sehr unter der  Entziehung des Alkohols. Mit allen Mitteln versuchten sie, auch im  Zuchthaus Spiritus zu bekommen. In der Anstaltstischlerei wurden für  die Politur von Möbeln Lacke verwendet, die Brennspiritus enthielten.  Die Kalfaktoren organisierten einen schwunghaften Schleichhandel  zwischen den als Tischler arbeitenden und den anderen Gefangenen. Für  eine Rolle Kautabak gab es ein geringes Quantum Möbelpolitur. Der eine  meiner beiden Zellenkumpane soff dieses fürchterliche Zeug so, wie es  war. Er bekam davon furchtbare Magenschmerzen und starkes Erbrechen,  aber das scherte ihn wenig, er hatte doch etwas Spiritus in seine  Gedärme bekommen. Der andere war gerissener. Er entwickelte beim  Destillieren dieser Möbelpolitur eine erstaunliche Routine. Mit  Holzkohle, Brot, Zucker und anderen Hilfsmitteln destillierte er  geduldig so lange, bis er reinen Spiritus erhielt. 
    Eines Tages tranken sie sogar das Haarwasser, das mir Justizrat Broh  mitgebracht hatte. Meine Befürchtung, dass die beiden sich durch den  Genuss dieser Mischung von Seifenwasser und Brennnesselextrakt  gründlich den Magen verderben würden, war unnötig, es geschah ihnen  nichts; im Gegenteil, ihre Gesichter strahlten, solange sich noch ein  Tropfen in der Flasche befand. 
    Das tägliche Zusammensein von drei Menschen in diesem engen Loch war  auf die Dauer unerträglich. Wir drei konnten uns immer nur in einer der  Zellen aufhalten, da in der Tageszelle kein Tisch stand, an dem man  hätte schreiben oder essen können. Wir mussten unsere Notdurft in einem  einzigen Kübel verrichten. Wenn einer auf dem Kübel saß, dann war es  für die anderen kaum auszuhalten, ein so widerlicher Gestank  verbreitete sich in dem kleinen Raum. Es gab Tage, an denen wir uns  nach Genuss von schlechtem Brot oder einer den Stoffwechsel besonders  fördernden Mittagssuppe fast ununterbrochen auf dem Kübel ablösten.  Dann wurde der Gestank zu einer wahren Höllenqual. Hinzu kam noch, dass  der Deckel des Kübels schlecht schloss. Fast alle Kübel waren  beschädigt und halb zerbrochen. 
    Ich hatte die Absicht, die Direktion zu bitten, mich wieder in eine  Einzelzelle zu legen, tat das aber doch nicht, um bei den anderen  Gefangenen den Eindruck zu vermeiden, als halte ich mich für zu gut,  mit kriminellen Gefangenen zusammen zu sein. Außerdem bot mir diese  mich peinigende Gemeinschaft sozialen Anschauungsunterricht. 
    Die Väter meiner beiden Zellengenossen waren - wie sie mir erzählten -  ebenfalls Trinker gewesen. Wahrscheinlich ließen sich die abnorme  sexuelle Veranlagung und die Trunksucht der beiden auf die elenden  Verhältnisse in ihrer Kindheit zurückführen. 
    Meinen Versuchen, sie im Sinne der Arbeiterbewegung zu beeinflussen,  kamen die beiden Kriminellen sehr entgegen. Ich konnte in den letzten  Wochen unseres Beisammenseins stundenlang mit ihnen debattieren, hatte  dabei aber doch den Eindruck, dass sie nach der Entlassung sofort ihr  altes Leben wieder aufnähmen. Sie waren zu alt zum Umlernen und hatten  nur noch ein Lebensziel: sich die letzten paar Jahre möglichst gut zu  amüsieren. 
    Wir drei Gefangenen wurden mit dem Wenden von gebrauchten  Briefumschlägen beschäftigt, eine Arbeit, der man beim besten Willen  kein Interesse abgewinnen konnte. Die zwanzig bis dreißig Pfennige, die  ein Gefangener im Monat dafür verdiente, reichten nicht einmal fürs  Briefporto. Deshalb verweigerte ich diese Arbeit und beschäftigte mich  lieber mit dem Studium philosophischer Werke und der Geschichte des  Sozialismus von Max Beer, die mir endlich nach monatelangem Warten  ausgehändigt wurde.  | 
  
    
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