Rote Fahnen hängen aus den Zellenfenstern - Amnestie!
Lebhafte Unruhe entstand in der Anstalt angesichts der Hindenburg-Amnestie im Oktober 1927. Nicht nur viele politische Gefangene, sondern auch kriminelle glaubten, dass ihnen diesmal bestimmt ein Teil ihrer Strafe erlassen werde. Meine Freunde und Genossen in Freiheit rechneten sogar bestimmt damit, dass auch ich bei dieser Gelegenheit entlassen würde. Ich gab mich keinen Illusionen hin, sondern war überzeugt, dass die Justizbehörden mich nicht ausgerechnet zu Hindenburgs Geburtstag freilassen würden, wenn ich auch wusste, dass sie krampfhaft nach einem Dreh suchten, durch den sie mich loswerden konnten, ohne dass ihr Ansehen und ihre Unfehlbarkeit zu sehr darunter litten. Den verantwortlichen Justizorganen war bekannt, dass es eine Unmöglichkeit war, mich noch jahrelang festzuhalten, da alle juristischen Voraussetzungen dafür fehlten, und nicht nur die kommunistischen Arbeiter, sondern auch weite Kreise der sozialdemokratischen und indifferenten Arbeiter sowie ein großer Teil des liberalen Bürgertums sich für mein Schicksal interessierten und meine Freilassung forderten. Auch waren mir von Genossen und Freunden in der letzten Zeit wiederholt durchaus Erfolg versprechende Befreiungsangebote gemacht worden, die ich aus politischen Gründen ablehnte. Das alles war den Behörden bekannt, und sie wussten, dass die kommunistischen Arbeiter mich mit Gewalt aus dem Kerker holen würden, wenn meine gesetzliche Freilassung nicht bald erfolgen würde. Die von der Roten Hilfe Deutschlands geführte Kampagne für die Freilassung aller kommunistischen Gefangenen hatte großen Widerhall unter den Werktätigen und Intellektuellen gefunden und schwoll immer mehr zu einer wuchtigen Massenbewegung an. Im September 1927 hatte die kommunistische Fraktion im Reichstag einen Amnestiegesetzentwurf eingebracht. Aber die Einheitsfront aller übrigen Parteien verhinderte seine Beratung. Erst am 9. März 1928 wurde im Rechtsausschuss des Reichstages darüber verhandelt. Die kommunistische Partei hatte Jahre hindurch einen unermüdlichen Kampf für die Befreiung der eingesperrten Klassenbrüder geführt. Nicht nur im Reichstag und in den Landesparlamenten, sondern ebenso in den Betrieben und in den Gewerkschaften, wo sie - zusammen mit der Roten Hilfe Deutschlands - die Arbeiter mit großem Erfolg für den Amnestiekampf mobilisierte. Ich war überzeugt, dass noch vor Ende des Jahres 1928 meine Freilassung erfolgen werde.
Aber je mehr ich die Überzeugung von meiner baldigen Freilassung gewann, um so größer wurde mein Grauen vor der Rückkehr in die Freiheit. Durch die in mancher Hinsicht humanere Behandlung in Sonnenburg war viel von dem in mir angehäuften Groll und viel Erbitterung ausgelöscht worden. Aber trotzdem war ich noch so erfüllt und im Innersten aufgewühlt von all den grauenhaften Erlebnissen in den nahezu acht Zuchthausjahren, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie eine plötzliche Freilassung auf mich wirken und zu welchen Schritten sie mich treiben werde. Hatte ich mich doch schon seit Jahren an den Gedanken gewöhnt, dass ich noch sehr lange im Kerker werde bleiben müssen. Ich zwang mich zu dieser Annahme, um mich nicht falschen Hoffnungen hinzugeben und mir Enttäuschungen zu ersparen. Andererseits wusste ich, dass meine Freilassung einmal ganz plötzlich erfolgen konnte, und so drängte sich mir die Frage auf: was wirst du in der Freiheit beginnen? Mein sehnlichster Wunsch war, sofort nach meiner Freiwerdung mich auf längere Zeit in ein Dorf zurückzuziehen und dort körperliche Arbeit, Landarbeit oder Gartenarbeit, zu verrichten und so ganz langsam den Übergang in die so genannte Freiheit wieder zu finden. Ob das möglich sein würde? - Ich wusste, dass es nicht allein von mir abhängen werde. Ich sehnte mich mit allen Fasern nach der Freiheit und fürchtete sie doch zugleich. Die kurze Zeit meines Zusammenseins mit den übrigen Genossen in Sonnenburg nach meiner fast acht Jahre langen Einzelhaft hatte mir deutlich gezeigt, wie schwer mir das Zusammensein mit mehreren Menschen fiel. Ich liebte alle Menschen und litt doch unaussprechlich, wenn viele um mich herum waren.
In den ersten Sommermonaten gerieten die politischen Gefangenen - zum Teil auch die kriminellen - in Sonnenburg (und, wie aus der Presse zu ersehen war, auch in anderen Strafanstalten) in größte Erregung. Der Amnestieantrag der kommunistischen Reichstagsfraktion sollte wieder verschleppt werden, ja, es hatte den Anschein, als wolle die SPD durch einen Vorstoß die ganze Amnestie überhaupt zum Scheitern bringen. Die Sozialdemokratie hustete sogar auf ihren Vertreter im Amnestieausschuss, den Abgeordneten Kurt Rosenfeld. Die Erbitterung darüber nahm unter den Gefangenen beängstigende Formen an und führte zusammen mit anderen Ursachen zu impulsiven Entladungen der erregten Gemüter. Es wäre in diesen Tagen bestimmt zu schweren Zusammenstößen und Meutereien gekommen, wenn nicht die geschickte Taktik des Direktors Lüdecke das Äußerste verhindert hätte. In dem Sonnenburger Zuchthausprozess gegen eine Anzahl Beamter wegen Unterschlagung von Heeresgut behaupteten verschiedene Angeklagte, der Direktor sei zu gut gewesen, und unter seiner Amtszeit seien große Disziplinlosigkeit und Misswirtschaft eingerissen. Gerade diese Beamten aber und das Strafvollzugsamt wussten, dass die Behörden es nur dem Direktor zu danken hatten, wenn große Unruhen und Gewalttätigkeiten nicht ausbrachen. Ich selbst hatte oft sehr schwere Konflikte und scharfe Zusammenstöße mit dem Direktor. Gegen uns Kommunisten hatte er ein besonderes Vorurteil, und fast alle Genossen hassten ihn. Er war weder zu gutmütig, wie einige Beamte sagen, noch zu hartherzig, wie Gefangene behaupten, sondern er gehörte zu den Menschen, die aus klarer Überlegung Konflikte stets erst friedlich zu lösen versuchen und die Zwangsmaßnahmen erst dann anwenden, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.
Wir kommunistischen Gefangenen traten geschlossen in den Hungerstreik, um nach außen hin unserm Protest gegen die Verschleppung der Amnestieberatungen Ausdruck zu geben. Zugleich wollten wir durch diesen Hungerstreik auch einige Erleichterungen im Strafvollzug erzwingen: Zellenbeleuchtung bis zehn oder zwölf Uhr, unbeschränktes Briefschreiben an die Angehörigen sowie gemeinsames Turnen. Wir teilten der Direktion und dem Strafvollzugsamt mit, dass wir geschlossen zu einer scharfen Obstruktion übergehen würden, wenn die gemeinsame Nahrungsverweigerung nicht zur Erfüllung unserer Forderungen führe. Unter uns befanden sich vier schwer lungenkranke Genossen, von denen wir verlangten, dass sie sich nicht am Hungerstreik beteiligten. Aber trotzdem fingen sie schon am zweiten oder dritten Tag an mit zu hungern. Der eine bekam davon schwere Blutstürze, und die Ärzte erklärten, das Leben der vier lungenkranken Hungerstreiker sei ernstlich gefährdet. Darauf beschlossen wir relativ Gesunden, den Hungerstreik sofort abzubrechen und mit der bereits angekündigten Obstruktion zu beginnen. Einzelne Genossen weigerten sich, den Hungerstreik abzubrechen, und wir anderen waren dadurch gezwungen, ihn wieder aufzunehmen. Ein Teil der kriminellen Gefangenen beteiligte sich spontan am Hungerstreik. Sie wollten die Aufmerksamkeit der Parlamentarier und der Öffentlichkeit auf sich lenken. Sie empfanden es als ungerecht, dass immer nur Amnestien für politische Gefangene erlassen wurden. Die kommunistischen Landtagsabgeordneten Artur Golke und Gustav Menzel sowie mein Mitverteidiger, der Reichstagsabgeordnete Dr. Kurt Rosenfeld, kamen nach Sonnenburg und versuchten uns zu bewegen, unseren Kampf aufzugeben, vor allem mit Rücksicht auf die schwerkranken Genossen, die sich trotz unserer Bitten an unserem Vorgehen immer wieder beteiligten.
Den Vorstellungen der beiden Genossen gelang es, uns zu bewegen, den Hungerstreik aufzugeben. Die kommunistischen Gefangenen in Sonnenburg hatten großes Vertrauen zu dem Genossen Golke, der alles tat, um ihnen Erleichterung zu verschaffen. Auch Menzel war beliebt, er wurde allgemein der »Vater der Gefangenen« genannt.
Die Verschleppung und die Verschandelung des Amnestiegesetzes zwang uns bald, einen neuen und noch schärferen Kampf aufzunehmen. Wir begannen die schon früher angekündigte Obstruktion und führten sie in einer Weise durch, die nicht nur die ganze Anstalt, sondern ganz Sonnenburg auf den Kopf stellte. Nach Einbruch der Dunkelheit stellten wir uns an die Zellenfenster, und sprechchorartig deklamierten wir revolutionäre Verse und sangen kommunistische oder selbsterdachte Lieder. Draußen auf den Straßen standen Hunderte von Menschen, die der furchtbare Lärm anlockte und die glaubten, jetzt komme es zu Meutereien. Diese Neugierigen lachten und amüsierten sich, wenn es plötzlich aus Hunderten trockener Zuchthauskehlen erklang:
»O Sonnenburg, o Sonnenburg,
du großes Jammertal.
Hier ist ja nichts zu finden
als lauter Angst und Qual.
Die Wärter, die sind hitzig
die Arbeit, die ist groß,
Und hat man was verschwitzet,
dann ist der Teufel los.«
Lautlose Stille aber trat ein, wenn um Mitternacht in schauerlichem Rhythmus die zwei Dutzend kommunistischer Gefangener Erich Mühsams »Lenin ist tot« deklamierten. Die Obstruktion dauerte oft die ganze Nacht hindurch, die Bewohner der umliegenden Häuser konnten nicht schlafen und beschwerten sich. Der Direktor gab sich alle Mühe, die Obstruktion zu unterbinden. Aus den Zellenfenstern hängten wir an großen Stöcken rote Fahnen. Die als sadistisch bekannten Wärter Kluck, Hentschke, Quietzke und andere, die immer verlangten, dass scharf durchgegriffen werde, hatten selbst nicht den Mut, die Fahnen von den Fenstern wegzunehmen. Als der Direktor persönlich in unseren Zellen erschien und die Entfernung der Fahnen forderte, erfüllten wir sein Verlangen, weil wir ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten wollten, da unser Kampf sich ja nicht gegen seine Person richtete. Gerade weil er uns in unserer Erregung nicht provozierte, verzichteten wir kommunistischen Gefangenen auf schärfere Maßnahmen. Wir hatten Möglichkeiten genug, durch eine groß angelegte Aktion im Zuchthaus der Autorität des Staates und des Strafvollzugsamtes wirksame Schläge zu versetzen.
Am 14. Juli wurde das vom Reichstag beschlossene Amnestiegesetz rechtskräftig, und am 16. und 17. Juli wurden die ersten politischen Gefangenen aus dem Zuchthaus entlassen. Auch dieses Gesetz brachte nur eine mühselig zusammengeflickte Scheinamnestie, denn sie befreite nicht alle gefangenen Genossen. Aus diesem Grunde kam es bei der Entlassung der Amnestierten zu aufregenden Szenen.
Obwohl doch alle unaussprechlich froh waren, endlich die entsetzlichen Mauern verlassen und zu ihren Angehörigen und an die Parteiarbeit zurückkehren zu können, weigerten sie sich, das Zuchthaus zu verlassen. Sie wollten nicht ohne die noch zurückgehaltenen Leidensgenossen in die Freiheit wiederkehren. Die Aufseher waren gezwungen, die kommunistischen Gefangenen gewaltsam aus dem Zuchthaus herauszutragen.
Ein schwer kriegsbeschädigter Genosse, ein einfacher Bergarbeiter namens Wiekowski - seit über neun Jahren ununterbrochen im Zuchthaus -, klammerte sich an mich und wollte erzwingen, dass
ich mit ihm den Kerker verlasse; ich war nämlich wie viele andere Genossen nicht unter die Amnestie gefallen. Die Beamten mussten ihn mit Gewalt von mir reißen. |
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