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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Rückzug und Flucht

Als die Bewegung im Ruhrgebiet niedergeknüppelt war, ging die Regierung daran, den letzten Revolutionskrater im Vogtlande zu ersticken. Fünfzigtausend Mann, ausgerüstet mit allen modernsten Großkampfmitteln, kreisten das Vogtland ein. Ich hatte nicht die Absicht, mich in dieser Situation auf einen regelrechten Kampf mit einer solchen Übermacht einzulassen.
Noch ehe die anrückenden Truppen mit uns in Gefechtsfühlung kamen, verließen wir unsere »Festung« Falkenstein und zogen uns geschlossen bis an die tschechoslowakische Grenze nach Klingenthal zurück. Ich wollte ein planloses Auseinanderlaufen der revolutionären Arbeitertruppe verhindern und hielt es für richtiger, uns von den Tschechoslowaken internieren zu lassen, als in die Hände der Reichswehr zu fallen. Um die Regierung zu warnen und die Reichswehr von dem Vormarsch abzuschrecken, hatten wir beim Abzug aus
Falkenstein Plakate drucken lassen, in denen wir drohten, wenn die Reichswehr ihren Vormarsch nicht einstelle, die Villen der Kapitalisten anzuzünden. In Wahrheit bestand bei uns keinen Augenblick die Absicht, diese Androhung wahrzumachen; wir wollten den Besitzern lediglich Schreck einjagen, damit sie auf die Reichswehr einwirkten, den Vormarsch gegen uns einzustellen. Der Zweck wurde in diesem Fall leider nicht im gewünschten Maß erreicht; dass einige Mitkämpfer bei unserm Abzug dann doch ein paar Villen in Brand steckten, widersprach den Befehlen des Roten Vollzugsrates.
In Klingenthal und in den umliegenden Ortschaften bezogen die Arbeitersoldaten Quartiere. Den tschechoslowakischen Behörden war gemeldet worden, wir planten einen Überfall in tschechoslowakisches Gebiet. Daraufhin sandte die tschechoslowakische Heeresleitung Militär an die Grenze. Ich verhandelte mit tschechischen Offizieren über die Möglichkeit eines Grenzübertrittes in geschlossener Formation und einer eventuellen Internierung.
In den nächsten Tagen kam es zu kleineren Gefechten und Plänkeleien zwischen unseren Vorposten und Reichswehrpatrouillen. Als ich erkannte, dass sich der Kreis um uns immer enger schloss und ein Durchbruch ganz unmöglich sei, ließ ich einige Brücken sprengen und Straßen aufreißen, damit uns die nachrückende Reichswehr nicht noch im letzten Augenblick vor dem Grenzübertritt den Weg abschneiden konnte.
In einer regnerischen Aprilnacht zog ich die Vorposten und Patrouillen zurück, sammelte alle verfügbaren Truppen auf der Straße Klingenthal-Georgenthal und schilderte den Kampfgenossen die Situation. Wir waren vollkommen eingekreist, und es blieben uns nur noch zwei Auswege: entweder gingen wir geschlossen mit unseren Waffen über die Grenze und ließen uns von der tschechoslowakischen Regierung internieren, oder wir lösten uns hier an Ort und Stelle auf und versuchten, in kleineren Trupps oder einzeln durch die Sperrketten der Reichswehr hindurch oder über die Grenze zu gelangen. Die Genossen stimmten letzterem zu, da an einen weiteren Widerstand nicht zu denken war und der Reichswehr der Anlass zu einem Blutbad genommen werden musste.
Ich selbst ging mit einem Genossen nach Klingenthal zurück, um nachzukontrollieren, ob von unseren Truppen niemand zurückgeblieben war, und vor allen Dingen, ob sie keine Waffen dort gelassen hatten. Wir liefen einer Reichswehrpatrouille fast in die Arme und schlugen uns schnell auf die Höhen von Untersachsenberg. Als der Morgen graute, fanden wir Zuflucht in dem kleinen Häuschen eines Musikinstrumentenmachers. Seine Frau reichte uns gerade eine Tasse Kaffee, als plötzlich der erwachsene Sohn der Familie ins Zimmer stürzte: »Die Reichswehr kommt!« Er führte uns schnell auf den über dem Ziegenstall liegenden kleinen Heuboden und versteckte uns in einem Heuhaufen.
Schon hörten wir die Kommandorufe des Patrouillenführers, der das Haus umstellen ließ. Ein Teil der Soldaten durchsuchte das ganze Gebäude. Etwa vier Mann stachen mit ihren Seitengewehren ins Heu. Sie verletzten meinen Oberschenkel, und ich war nahe daran, zu schreien, da ich befürchtete, sie könnten mir oder meinem Begleiter die Augen ausstechen. Gerade als ich im Begriff war, zu rufen, ließen sie ab; wir hörten von unten die Stimme des Patrouillenführers, der seine Leute sammelte und dann im nächsten Haus nachsuchen ließ. Nach einer Weile wagten wir uns aus dem Versteck und beobachteten durch eine Dachluke, wie aus dem Nebenhaus gefangene Genossen herausgeführt und von den Soldaten mit Gewehrkolbenschlägen auf Kopf und Rücken bearbeitet wurden. Diese Misshandlung unserer Genossen untätig mit ansehen zu müssen, war für uns entsetzlich. Wir hatten oft gefangene Gegner in unserer Gewalt, sie aber nie unmenschlich behandelt. Es war schwer, unter diesen Umständen im Versteck zu bleiben.
Ich schlug meinem Begleiter vor, sofort das Haus zu verlassen, da die Reichswehrsoldaten voraussichtlich wiederkämen. Mein Begleiter weigerte sich, er meinte, das Versteck hier sei am sichersten, und den Heuhaufen würden sie bestimmt nicht noch einmal durchsuchen. Trotzdem bestand ich darauf, sofort zu verschwinden; wenn er nicht mitkäme, ginge ich allein. Ungern ging er mit.
Kaum zehn Meter von dem Haus entfernt war die tschechische Grenze. Wir flüchteten in ein Anwesen jenseits der Grenze und hatten das Glück, von den tschechischen Grenzsoldaten nicht gesehen zu werden. Vom Dach des Bauernhauses aus beobachteten wir, wie tschechische Grenzsoldaten aus tschechischen Häusern heraus unsere Genossen verhafteten und sie direkt den deutschen Reichswehrsoldaten an der Grenze in die Hände lieferten. Die tschechischen Soldaten hatten ihre helle Freude daran, wenn unsere Genossen von den Reichswehrsoldaten viehisch geschlagen wurden.
Auch der Musikinstrumentenmacher, seine Frau und seine beiden Söhne wurden übel behandelt. Ich hatte mich nicht getäuscht; nach einer knappen halben Stunde kehrten die Reichswehrsoldaten in das Haus zurück. Diesmal warfen sie das ganze Heu auf die Straße und ließen nichts undurchsucht. Als die arme Frau sich durch die Drohungen des Offiziers einschüchtern ließ und erzählte, dass wir dagewesen seien, das Haus aber wieder verlassen hätten, wurde die ganze Familie verhaftet und unter schrecklichen Misshandlungen nach Klingenthal abgeführt.
Mein Begleiter und ich verließen schnellstens das Haus an der Grenze. Wir wanderten durch die tschechischen Wälder, und als es Abend wurde - wir waren müde und erschöpft und hatten noch nichts gegessen -, versuchten wir, in einem kleinen Dorf ein Unterkommen zu finden. Die Nacht war kalt und regnerisch, und es war unmöglich, im Freien zu bleiben. Die Füße versagten uns den Dienst. Wir suchten in eine einsame Scheune hineinzukommen, doch die Tür war verschlossen.
Trotzdem zwängten wir uns mühsam unter Verlust einiger Kleiderfetzen durch einen schmalen Spalt in das Innere der Scheune. Hier befand sich nur ganz wenig Heu; wir buddelten ein Loch und versuchten, eng aneinandergeschmiegt, uns zu erwärmen. Unsere Kleider waren gänzlich durchnässt, und unsere Zähne schlugen aufeinander.
Sobald es zu tagen begann, verließen wir diese ungastliche Stätte und wanderten, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, weiter, immer nur bemüht, möglichst von der Grenze wegzukommen. Um die Mittagsstunde gelangten wir an genau die Stelle zurück, wo wir am frühen Morgen aufgebrochen waren. Nunmehr hielten wir uns an die Landstraße und versuchten, eine Bahnstation zu erreichen, um nach Eger zu fahren. Auf diesem Marsch trafen wir mehrere Truppenkontingente, darunter auch Artillerie. Als wir die tschechischen Legionäre, die an einem Bach rasteten, fragten, ob sie in die Manöver gingen, erklärten sie: nein, ihr Ziel sei Graslitz, an der Grenze, sie müssten verhindern, dass Hoelz mit seinen Leuten in die Tschechoslowakei einfalle.
Wir kamen unangefochten bis Eger und fuhren von da mit dem Zug in der Richtung nach Pilsen weiter. Ein paar Stationen vor Pilsen verließen wir den Zug, um im Gasthaus eines Dorfes zu übernachten. In der Wirtsstube fielen wir zwei tschechischen Gendarmen auf und versuchten deshalb, in einem Privathaus zu logieren. Die Bewohner fürchteten sich aber, uns aufzunehmen, da sie an unserer Sprache merkten, dass wir von jenseits der
Grenze kamen. Im Begriff, das Haus zu verlassen, sahen wir vor dem Tor etwa fünfzehn Zivilisten und mehrere Gendarmen, die uns gefolgt waren und bei denen man uns bereits als Rotgardisten denunziert hatte.
Ich schlug das Tor rasch zu und sprang mit meinem Begleiter in den Hof des Grundstückes, kletterte auf einer Leiter über die Hofmauer und flüchtete ins Nachbargrundstück. Als wir von den obersten Sprossen absprangen, waren die Verfolger bereits auf den untersten, während der andere Teil durch das Tor des Nachbargrundstückes drang und uns dort in Empfang nehmen wollte. Ich flüchtete wieder über eine Mauer, stürzte dabei von der Höhe in das etwa einen Meter tiefe Jaucheloch eines Misthaufens, und noch ehe ich auf den Boden kam, sprang mein Genosse, den ein Gendarm schon gepackt hatte, von der Mauer herab und mir auf den Rücken. Trotzdem entkamen wir über einen Gartenzaun und gelangten außerhalb des Dorfes auf eine große Wiese, auf der uns - infolge Überschwemmung - das Wasser bis über die Knöchel ging. Die Verfolger befanden sich jetzt etwa dreißig Meter hinter uns. Geschossen wurde, soweit ich mich erinnere, nicht. Die einbrechende Dunkelheit kam uns zustatten. Wir wateten durch einen kleinen Fluss und erreichten einen Bahndamm. Hinter uns hörten wir die Rufe der Verfolger und Hundegebell.
Wir marschierten nun sieben Stunden lang am Bahndamm entlang. Die Nacht war eisig kalt, unsere Kleider durchnässt, dreckig und stinkend. Der
Genosse hatte beim Sturz ins Jaucheloch die Kopfbedeckung verloren, außerdem seinen Mantel. Wir getrauten uns nicht, ein Haus zu betreten, bestiegen aber gegen vier Uhr früh auf einer kleinen Haltestelle den ersten abgehenden Zug. In Marienbad kam um sieben Uhr morgens eine Gendarmeriepatrouille in den Zug und durchforschte jedes Abteil. Zwei Gendarmen betrachteten uns von oben bis unten und tasteten mit ihren Blicken die Gepäcknetze ab, als suchten sie die fehlende Kopfbedeckung meines Begleiters, dann sagten sie: »Kommen Sie heraus.« Auf unsere entrüsteten Fragen erhielten wir keine Antwort. Später erfuhren wir, dass wir bereits telegraphisch und telephonisch signalisiert worden waren.
Die Patrouille führte uns durch die Stadt in das Gebäude der Gendarmeriestation. Auf dem Wege dorthin versuchte ich, eine Eierhandgranate, die ich bei mir hatte, unbemerkt fortzuwerfen, aber es gelang mir nicht. Im Büro der Gendarmerie angekommen, mussten wir unsere Papiere abgeben (die auf andere Namen lauteten), und es wurde uns erklärt, wir müssten warten, bis eine Drahtanfrage beantwortet sei. Man gab uns Kaffee und ließ uns ganz gemütlich an den Tischen niedersitzen, an denen die Gendarmen ihre Schreibarbeiten verrichteten. An den Wänden hingen Karabiner, Revolver und Säbel. Das ganze dreistöckige Haus war Gendarmeriekaserne.
Plötzlich fragte der an seinem Tisch schreibende Kommandant, ob wir Waffen hätten. Wir verneinten. Er sagte, er müsse seiner Pflicht genügen und uns durchsuchen. Zuerst wurde mein Begleiter abgetastet, bei ihm fand man nichts. Dann kam man zu mir. Zwei Gendarmen tasteten meine Taschen und Hosenbeine ab, während der Kommandant zusah.
Ich hatte unterdessen vorsichtig die winzige Eierhandgranate aus der Tasche genommen und behielt sie in der fest geschlossenen Hand, damit die Gendarmen in den Taschen nichts finden sollten. Der kleine, fette, kugelrunde Kommandant jedoch forderte mich auf, die Hände zu öffnen. Ich hob darauf beide Arme seitwärts waagerecht und öffnete die Hände, so dass auf der linken Handfläche das niedliche schwarzlackierte Hühnerei zu sehen war. Im selben Augenblick aber schrie auch schon der uniformierte Rollmops mit der Pickelhaube wie besessen: »Eine Bombe, eine Bombe!«, machte eine militärische Kehrtwendung mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte, und schoss wie ein Hecht in das Nebenzimmer, von dort auf den Flur, die anderen vier Gendarmen ihm nach.
Ich stand wie hypnotisiert im Zimmer und hielt, immer noch beide Arme seitwärts gestreckt, die Handgranate friedlich auf dem Handteller. Ich guckte den Genossen an, er guckte mich an, keiner sprach ein Wort. Ich war so benommen, dass mir im Augenblick nicht einmal das unsäglich Komische der Situation zum Bewusstsein kam. Ganz mechanisch und langsam ging ich ins Nebenzimmer und von dort in den Flur. Der Genosse immer ein paar Schritte hinter mir. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Wir gingen langsam die Treppe hinab, traten auf die Straße, und ich bekam langsam Hoffnung, dass die Bahn frei sei. Aber kaum war ich einige Meter vom Fenster weg, als sämtliche Fenster geöffnet wurden und überall Helme aufblitzten. Und sofort schrieen die Kerle wie toll: »Aufhalten, aufhalten! Festhalten! Festhalten!« und wiesen mit den Armen auf mich. Von der anderen Seite der Straße kam jetzt ein Schutzmann auf mich zu und rief: »Bleiben Sie stehen!« Ich antwortete: »Kommen Sie mit!«
Indessen hatten die Gendarmen wieder Mut gefasst. Im Nu standen vierzehn Mann auf der Straße, die Karabiner schussfertig an den Backen. Sie riefen mir zu: »Handgranate hinlegen!« Das schrieen sie mindestens fünfzigmal. Da ich nicht im entferntesten die Absicht hatte, in der Tschechoslowakei von der Handgranate praktischen Gebrauch zu machen, legte ich das liebe gute Ding auf den Bürgersteig an einen Baum. Und erst, als ich wieder einige Meter von der Handgranate weg war, stürzten die Gendarmen auf mich los. Der kleine Dickwanst war jetzt ungeheuer tapfer; er wollte mich am liebsten füsilieren und puffte mich von allen Seiten. Bei mir aber hatte sich die Spannung gelöst, und ich fing ganz unbändig zu lachen an.

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