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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Das Stufensystem

Oft renommierte Adamietz mit der Behauptung, er sei eigentlich der Begründer des so genannten »Stufensystems«, das jetzt nach und nach überall in deutschen Strafanstalten eingeführt werde. Ich habe nie feststellen können, ob er tatsächlich der Vater des Stufensystems ist. Ähnlich sähe es ihm. Alle neu in das Zuchthaus eingelieferten Gefangenen kommen in die so genannte erste Stufe, d. h. sie erhalten keine Vergünstigung, keine Erleichterung, dürfen nur ganz selten einen Brief schreiben, keine Zeitung lesen, keine eigenen Bücher in der Zelle haben, kein Schreibzeug, an den Wänden keine Bilder, keine Blumen an den Fenstern, und nur einmal im Vierteljahr können Angehörige sie besuchen. Sie dürfen nur eine halbe Stunde im Hof spazieren gehen und haben abends kein Licht in der Zelle. Auf ihrem Jackenärmel wird ein schmaler Streifen eingenäht, als Zeichen dafür, dass sie noch nicht für würdig befunden worden sind, in die zweite Stufe aufzurücken. Vor Ablauf von neun Monaten dürfen sie unter gar keinen Umständen in die zweite Stufe aufrücken. Wenn sie sich sehr gut führen und zu keiner Klage Anlass geben - das ist in einer preußischen Anstalt sehr schwer -, wenn sie es verstehen, sich bei dem Inspektionsbeamten, den Direktoren und ein paar Hauptwachtmeistern beliebt zu machen, haben sie Aussicht, nach neun Monaten in die zweite Stufe zu avancieren. Einen Anspruch darauf haben sie bei noch so »guter Führung« nicht.
Gefangenen der zweiten Stufe werden zwei Streifen auf den Ärmel aufgenäht. Aber es gibt Hunderte von Gefangenen, die seit drei, vier, fünf, sechs und noch mehr Jahren in der ersten Stufe sind, also noch immer keinerlei Vergünstigung und Erleichterung haben. Das sind zumeist Menschen von wirklichem Charakter, die nicht kriechen können.
In der zweiten Stufe erhalten die zu »Gefreiten« beförderten Zuchthäusler einige Erleichterungen: Alle vier oder sechs Wochen dürfen sie einen Brief schreiben, Besuch in etwas kürzeren Zwischenräumen empfangen und eine Zeitung halten.
Das Unteroffizierkorps der »Braunen Husaren« (so heißen die Zuchthausgefangenen wegen ihrer braunen Kluft) bilden die Gefangenen der dritten Stufe. Sie sind an drei gelben oder grünen Streifen am Ärmel kenntlich. Eine höhere Stufe gibt es nicht. Die wenigen, die so hoch stehen - es sind unter 600 Gefangenen immer nur 20 bis 30 - dürfen Blumen in der Zelle haben oder ihre Uhr tragen, haben verlängerte Freistunde und dürfen gemeinsam in der Anstaltsschule Radio hören, können bis zu drei Mark im Monat für Zusatzlebensmittel ausgeben und genießen noch andere kleine Vergünstigungen.
Besonders auffallend ist, dass gerade diejenigen Gefangenen am ehesten und leichtesten in die zweite und dritte Stufe aufsteigen, die in Freiheit die allerverwerflichsten Handlungen begingen. Gerade die passen sich den Zuchthausverhältnissen an, sind immer gut Freund mit den Beamten und machen der Verwaltung die wenigsten Schwierigkeiten. In der Regel sind es Menschen, die in der Freiheit jede Arbeit scheuen, in der Anstalt aber Überpensum machen und einen Arbeitseifer und eine Ausdauer entwickeln, die einer besseren Sache würdig wäre.
Alle Gefangenen, die ich in Groß-Strehlitz und später in Sonnenburg sprechen konnte, und selbst der angebliche Vater des Systems, Adamietz, mussten zugeben, dass durch das Stufensystem die Heuchelei und Korruption unter den Gefangenen geradezu gezüchtet wird.
Am leichtesten finden die Vorbestraften sich in das Stufensystem. Sie kennen den Anstaltsbetrieb schon und besitzen eine Anpassungsfähigkeit, die ihnen ermöglicht, sich nach relativ kurzer Zeit einen Posten zu sichern, auf dem sie sich etwas freier bewegen können.
Diese Menschen sind brauchbar und leisten etwas, solange sie einen starken Zwang und eine feste Hand über sich spüren. Sobald sie aber in die Freiheit zurückkehren, versagen sie vollkommen, können bei keiner Arbeit aushalten, sind mit nichts zufrieden. Ich habe durch Gespräche mit Gefangenen zu ergründen versucht, woher es kommt, dass die fleißigsten und tüchtigsten nach ihrer Freilassung keinen Boden unter ihren Füßen gewinnen, sich keine Existenz schaffen können, sondern nach kurzer Zeit wieder im Zuchthaus landen. Die Antworten, die ich erhielt, und die Erlebnisse und Erfahrungen, die mir geschildert wurden, bestärkten mich in meiner Überzeugung, dass die Einsperrung von Menschen, die Isolierung von ihren Angehörigen und der in den Anstalten noch heute herrschende militärische Drill, dessen Existenz zwar abgestritten wird, der aber praktisch noch herrscht, sie für die in der Freiheit notwendige Selbständigkeit und Initiative untauglich machen.
Die schematische Tageseinteilung, die ununterbrochene Bewachung, die sich selbst auf das Schlafen und das Verrichten der Notdurft erstreckt, dieses tägliche: »du musst« oder: »du darfst nicht«, das schablonenmäßige Hineinpressen in starre Regeln rauben dem Gefangenen alles Selbstvertrauen, wecken in ihm Minderwertigkeitsgefühle, die er nicht so leicht wieder verliert und die ihm sein späteres Fortkommen erschweren. Dazu kommt noch, dass fast alle Gefangenen nach ihrer Freilassung in kurzer Zeit alles das nachholen und nachgenießen wollen, was sie in den langen Jahren ihrer Haft entbehrten. Das kostet viel Zeit und Geld, und beides glauben sie am ehesten dadurch erlangen zu können, dass sie ein neues »Ding drehen«.
In Groß-Strehlitz und Sonnenburg konnte man, wie in allen anderen Anstalten auch, die Aufsichtsbeamten in drei Gruppen einteilen, von denen zwei einander fortwährend bekämpften. Die erste Gruppe ist die, welche die humane Behandlung der Gefangenen als ein großes Übel ansieht und alle ihnen gewährten Erleichterungen sabotiert und illusorisch macht. Zur zweiten Gruppe gehören die Beamten, denen alles gleichgültig ist, die ganz stumpfsinnig und mechanisch ihren Dienst verrichten, die zwar keinen Gefangenen bewusst quälen, aber auch keinem ein freundliches Wort sagen, nicht einmal den Gruß der Gefangenen erwidern. Die dritte Gruppe bilden diejenigen Beamten, die, soweit es die Vorschriften und Bestimmungen zulassen, alles in ihren Kräften Stehende tun, um den ihnen anvertrauten Gefangenen die schweren Kerkerjahre erträglich zu machen. Sie haben erkannt, dass durch menschliches Entgegenkommen und Eingehen auf die Psyche des Gefangenen ein in jeder Hinsicht günstiger Einfluss auf ihn ausgeübt werden kann.
In Sonnenburg gab es acht bis zehn Beamte, die zur dritten Gruppe zählten; zu ihnen gehörte auch der Erste Hauptwachtmeister Schneidau. Während die Aufseher Kluck, Hentschke, Quietzke und andere ihrer Kategorie mit den widerspenstigen und leicht erregbaren Gefangenen nichts anzufangen
wussten und sie durch ihr herausfordernd schroffes Benehmen nur reizten, genügte ein Wort von Schneidau, um manchen erregten Gefangenen zu beruhigen. Es fiel ihm nie ein, den Gefangenen irgendeine im Rahmen der Zuchthausordnung gestattete Erleichterung zu versagen. Seine Frau, die, wie er selbst, in den Gefangenen in erster Linie Menschen sah, richtete für eine große Anzahl Anstaltsinsassen, die sie gar nicht kannte und nie gesehen hatte, für den Weihnachtsabend Dutzende von kleinen Paketen, damit auch die eine Freude haben sollten, um die sich sonst niemand kümmerte und die keine Angehörigen hatten.
Auch Schneidau war von der alten Schule, aber einer, der sich der neuen Zeit nicht widersetzte. Für seine Menschlichkeit, die er ohne Ausnahme allen Gefangenen gegenüber bekundete, wurde er von Kluck, Hentschke, Quietzke und anderen tief gehasst, und sie machten ihm Schwierigkeiten und warfen ihm Steine in den Weg, wo sie nur konnten.
Der Aufseher Hentschke - einer aus der alten Schule - hielt mir einen längeren Vortrag darüber, wie schön es doch früher gewesen sei unter dem alten Direktor, da habe er die Gefangenen in der Waschküche beaufsichtigt und immer einen armstarken Knüppel bei sich gehabt und damit die Gefangenen geprügelt. Das sei ihnen sehr gut bekommen, sie hätten dann sehr fleißig gearbeitet, das wäre eine helle Freude gewesen, wie sie in Reih und Glied gestanden und gearbeitet hätten ohne zu mucksen. Einmal habe er seine schöne weiße
Sommeruniform angehabt, die ganz mit Blut bespritzt wurde, als er mit seinem Knüppel einem Gefangenen Vernunft beibrachte. Die Gefangenen aber hätten in einer Stunde den Anzug gewaschen, getrocknet und gebügelt. Es hätte alles geklappt wie am Schnürchen, aber das sei nur möglich gewesen durch die Anwendung des Knüppels. Die Gefangenen hätten diese Misshandlungen nicht tragisch genommen, sondern seien glücklich gewesen, wenn er ihnen dann ein Stück Brot hingeworfen habe.
In der Hofstunde in Sonnenburg hatte ich zu Dutzenden von Malen Gelegenheit zu beobachten, wie Kluck, Quietzke, Hentschke und andere Beamte die Gefangenen provozierten, um dann Anzeige gegen sie erstatten zu können. Diese Aufseher trieben die Demütigung der Gefangenen oft so weit, dass ernste Meutereien zu entstehen drohten. Das Dazutreten Schneidaus, sein ruhiges Einwirken auf die aufgeregten Gefangenen verhinderte in vielen Fällen das Äußerste.
Einen Gefangenen namens Wegner versetzte ein unfreundlicher Blick von Seiten der Wärter Kluck und Quietzke in die größte Aufregung. Er zertrümmerte dann alles, was er erreichen konnte und was nicht niet- und nagelfest war. Sobald er aber Schneidau erblickte, war er stets wie umgewandelt. Ein freundliches Wort dieses Beamten dämpfte seine Wut und Aufregung. Er ging dann ruhig an seine Arbeit.
Eines Tages, als ich in der Freistunde war, hörte ich von Gefangenen, dass der Aufseher Kluck den
Gefangenen Wegner wieder einmal sehr gereizt habe und dieser eben im Begriffe sei, seine ungeheure Wut an irgend etwas auszulassen. Ich sah Wegner, wie er mit einem umfangreichen Korb auf dem Rücken über den Hof ging, in der Richtung nach dem Gebäude, in dem das Sipo-Kommando untergebracht war. Vor den zahlreichen Doppelfenstern setzte er behutsam den anscheinend schweren Korb auf das Pflaster nieder und sah sich ruhig im Kreise um. Dann nahm er in dem Korb befindliche Kohlenstücke - eins nach dem anderen - und warf damit die Fensterscheiben ein. Kluck und die anderen Aufseher trauten sich gar nicht an ihn heran, sondern sahen aus der Ferne dem Bombardement zu. Ohne ein Wort zu sagen, zielte er Wurf um Wurf und zertrümmerte mit etwa 22 Schuss nahezu alle Fenster der breiten Front. Erst beim 22. oder 23. Schuss fing er fürchterlich zu schimpfen an: »Ihr Hunde, ihr Elenden, ihr Banditen und Menschenschinder!!!« Beim Schimpfen vergaß er zu zielen, er traf immer schlechter, und nun stürzten sich mehrere Beamte auf ihn. Wegner kam sofort in die Arrestzelle, und am nächsten Tag schüttete er einem Beamten, der ihm mit neuer Strafe gedroht hatte, den ganzen Kotkübel über den Kopf.
Mit welchen Mitteln Gefangene manchmal versuchen, einen Wunsch erfüllt zu bekommen oder ins Krankenhaus überführt zu werden, dafür ein paar Beispiele, die ich miterlebte. Am Abend beim Zelleneinschluss, bei dem von den Gefangenen die Kleider und der Esslöffel herausgelegt werden müssen, bat ein Gefangener den Aufseher um eine Zigarette. Der Beamte durfte ihm natürlich keine geben, das war gegen die Bestimmungen. Der Gefangene erklärte, wenn er keine Zigarette bekomme, dann werde er auch den Löffel nicht herausgeben. Der Beamte redete ihm zu, den Löffel herauszugeben, da das doch Vorschrift sei, eine Zigarette dürfe er ihm aber doch nicht geben. Da zerbrach der Gefangene vor den Augen des Aufsehers blitzschnell den Löffel und verschluckte alle Teile. Er musste ins Krankenhaus geschafft und dort operiert werden.
Ein anderer trieb sich einen zehn Zentimeter langen rostigen Nagel in die Harnröhre, die er dann mit einem Faden fest verschnürte, und ließ den Nagel tagelang darin stecken. Infolge dieser Selbstverstümmelung schwollen seine Geschlechtsteile an, die Hoden wurden dick wie ein Kinderkopf. Auch er musste operiert werden. Ein dritter Gefangener machte sich mit einer Nadel kleine Öffnungen in die Haut, steckte eine Glasröhre hinein, die er aus dem Lazarettraum entwendet hatte, und blies sich Luft unter die Haut. Ein anderer sogar Petroleum. Die Folge davon waren ganz fürchterliche Schmerzen und starke Anschwellungen der betreffenden Körperteile.
Wieder andere Gefangene rieben mit einem Kopierstift so lange die zarte und empfindliche Bindehaut ihrer Augen, bis sie eine schwere Augenentzündung bekamen. In den meisten Fällen war der Zweck der Übung entweder, aus der Einzelhaft herauszukommen  oder  zwecks  Operation  ins
Krankenhaus überführt zu werden, um von dort zu entfliehen.
Im Schulraum von Groß-Strehlitz und ebenso in Sonnenburg war ein Radioapparat aufgestellt. Die Gefangenen der zweiten und dritten Stufe, also die »Chargierten«, wurden wöchentlich einmal gemeinsam in den Schulraum geführt und durften dort eine Stunde Radio anhören. In größeren Zwischenräumen von sechs Monaten bis zu einem Jahr gab es auch Musikvorführungen, bei denen meist Berliner Künstler mitwirkten.
Bei den Musik- und Gesangsdarbietungen in Sonnenburg wirkte auch die Gattin des Oberjustizrats Lemkes mit, die sich sehr darum bemühte, dass in den Gefängnissen und Zuchthäusern des Berlin-Brandenburger Strafvollzugsbezirkes den Gefangenen gute Musik geboten wurde. Anfang 1927 hörte ich zum ersten Mal nach sechs Jahren in Groß-Strehlitz einen guten Gesangsvortrag und Rezitationen. Der Eindruck auf alle Gefangenen und auch auf mich war sehr stark, aber leider blieb diese Darbietung während meines ganzen zweijährigen Aufenthaltes in Groß-Strehlitz der einzige Genuss. Die nur aus Gefangenen gebildete Hauskapelle in Groß-Strehlitz - auch der Dirigent war ein Gefangener - spielte sehr schlecht, und die von ihr allsonntäglich und jeden Mittwochabend in den Zellenkorridoren veranstalteten Konzerte wirkten auf die Gefangenen in ihren Zellen wie eine Verhöhnung. Man muss versuchen, sich vorzustellen, was Gefangene empfinden, die seit vielen Wochen im Arrestkäfig sitzen, nur bei Wasser und trockenem Brot, und denen dann plötzlich ein lustiger Walzer oder ein flotter Marsch vorgespielt wird.
Die Erleichterungen, die es seit einigen Jahren im Strafvollzug gibt, wie Radio, Konzerte und Vorträge, verhindern nicht, dass die Gefangenen nach Verbüßung ihrer Strafe für das praktische Leben unbrauchbar in die Freiheit zurückkehren, weil das ganze System der Einsperrung von Grund auf faul ist. Durch Isolierung in engen Zellen können Menschen nie und nimmer gebessert werden. Der von Kennern des alten und auch des modernen Strafvollzugs geprägte Satz, dass die Zuchthäuser und Gefängnisse wahre Hochschulen des Verbrechens sind, behält seine Geltung.
Die Öffentlichkeit glaubt, dass das durch Konzerte und Radio gewürzte Leben der Gefangenen doch ganz erträglich sein müsse. Aber gerade diese gewiss anzuerkennenden Erleichterungen bringen den Gefangenen ihre schwere Lage noch stärker zum Bewusstsein und steigern ihre Sehnsucht nach der Freiheit ins Unerträgliche. Guter Gesang und Vorträge wirken unbedingt veredelnd und im guten Sinn anregend auf die Gefangenen. Aber solang in deutschen Strafanstalten nicht, wie dies in Gefängnissen der Sowjet-Union der Fall ist, in kürzeren Zwischenräumen, z. B. allwöchentlich, Gefangene ein oder zwei Tage zu ihren Angehörigen beurlaubt werden, solange sind alle Verbesserungen, wie Radio, Konzerte und Vorträge, ein Tropfen auf einen heißen Stein. Solange die heute noch geübte starre Abschließung von der Außenwelt nicht in einer Form durchbrochen wird, die zwar die Sicherung des sozialen Organismus vor asozialen Elementen gewährleistet, die aber dem gefangenen Menschen die naturgemäßen Voraussetzungen für sein Menschsein und Menschbleiben sichert, solange werden jährlich noch Hunderte und Tausende von Gefangenen auch beim »humansten« Strafvollzug geistig und körperlich zerbrechen.
Dem Präsidenten des Vollzugsamtes Berlin-Brandenburg war bekannt, dass im Sonnenburger Zuchthaus vieles nicht so war, wie es nach den Bestimmungen und Vorschriften sein sollte. Er schickte als Direktor einen jungen Assessor in die Anstalt, der den Dingen auf den Grund gehen und Unregelmäßigkeiten und Misshandlungen abstellen sollte. Der neue Direktor hatte bei seinem Dienstantritt an die versammelten Inspektions- und Aufsichtsbeamten eine kleine Ansprache gehalten, sie auf ihre Pflichten hingewiesen und erklärt, dass die Gefangenen durch menschliche Behandlung eher gebessert werden könnten als durch Misshandlung und militärischen Drill. Wenn aber die älteren Beamten sich auf den humanen Strafvollzug nicht einstellen könnten, dann müssten sie ehrlich sein und die Konsequenzen daraus ziehen. Sie sollten dann lieber aus dem Anstaltsdienst ausscheiden, anstatt hinter dem Rücken des Direktors die früheren brutalen Methoden der Gefangenenbehandlung anzuwenden. Diese Worte verübelten ihm viele ältere Beamte sehr, und sie sabotierten seine Anordnungen. Der neue Direktor Dronsch sah den Beamten sehr scharf auf die Finger. Inspektor
Axthelm, der dienstälteste Inspektionsbeamte, ließ sich Unregelmäßigkeiten zuschulden kommen, durch die die Gefangenen schwer benachteiligt wurden. Einem politischen Gefangenen hatte der Inspektor Dutzende von Briefen unterschlagen.
Der Gefangene steckte mir einen Zettel zu, auf dem stand:
»Du wirst Dich wundern, warum ich mir das gefallen lasse. Nun, ich bin der letzte, der sich was gefallen lässt, aber was willst Du machen, wenn kein Brief - nicht einmal ein Einschreibebrief - abgeht. Ohne Rückhalt von draußen kannst Du absolut nichts machen. Falle ich den Oberbeamten hier zu sehr auf die Nerven, dann schicken sie mich in eine Irrenanstalt und lassen mich >fertigmachen<. Meine langjährige Knasterfahrung bestätigt das, ich will aber gesund rauskommen, um Rache zu nehmen an den Peinigern des Proletariats.«
Einem anderen politischen Gefangenen wurde ein Brief von seinem Verteidiger Justizrat Broh, datiert vom 30. September, der den Eingangsstempel der Anstalt vom 2. Oktober trug, erst am 6. Dezember - also fast neun Wochen später - ausgehändigt. Über zwei Monate hatte der Inspektor Axthelm diesen wichtigen Brief dem Gefangenen vorenthalten.
Ebenso erging es vielen anderen Gefangenen.
Wir wurden beim Direktor vorstellig und erreichten, dass er eine scharfe Untersuchung einleitete. Der Direktor, der die Untersuchung selbst führte, fand in den Regalen und Schränken im Büro des Inspektors ganze Haufen Briefe, die schon viele Monate lang da lagen und vom Inspektor nicht an die Angehörigen der Gefangenen abgeschickt worden waren. Auch Dutzende von Briefen an Gefangene hatte er widerrechtlich zurückbehalten. Der Inspektor konnte für seine Unterschlagungen nicht einmal einen Grund angeben. Leider wurde er nicht aus der Anstalt entfernt, sondern erhielt in der Anstalt einen anderen Posten, er bekam das Archiv für die Gefangenen-Akten, und da hatte er Gelegenheit, die Gefangenen noch mehr zu schädigen als im Sekretariat. Ich beschwerte mich darüber persönlich beim Präsidenten des Strafvollzugsamtes, er veranlasste, dass der Inspektor ganz aus der Anstalt entfernt wurde.
Der Kasseninspektor Xanke, der Gefangenen, die nicht sofort taten, was er wollte, einfach einen Tritt in den Hintern versetzte, war der Tonangebende unter denjenigen Beamten, die gegen humane Gefangenenbehandlung intrigierten. Es kam nicht selten vor, das Xanke und die ihm an Rohheit nicht nachstehenden Kluck und Hentschke den Hauptwachtmeister Schneidau, der der Hausvaterei vorstand, der Direktion denunzierten, weil er die Gefangenen menschlich behandelte.
Hygiene kannte man in Groß-Strehlitz kaum. Der Arzt, ein ziemlich junger Medizinalrat, ging von Zelle zu Zelle und untersuchte die als krank gemeldeten Gefangenen. In der einen Zelle betastete er die Hämorrhoiden des einen, in der anderen die syphilitischen oder sonstigen Geschwüre eines anderen Gefangenen, und ohne sich die Hände zu waschen oder sie irgendwie zu desinfizieren, untersuchte er in einer dritten Zelle einen mund- oder halskranken Gefangenen, dem er mit den unsauberen Händen in den Mund fuhr. Erst auf meine Beschwerde an das Justizministerium hin veranlasste der Medizinalrat, dass ein Waschbecken beschafft wurde.
Im Lazarett wurden die erkrankten Gefangenen oft sehr misshandelt. Ein Lazarettbeamter namens Radek war ein äußerst roher Mensch. Am 30. August 1926 misshandelte er den erkrankten Gefangenen Willi Romba, der durch sein friedliches und freundliches Wesen allgemein bekannt und beliebt war. Der Beamte schlug ihn ohne Grund mit dem schweren Schlüsselbund, bis der Gefangene das Bewusstsein verlor. Nach seiner Wiederherstellung erstattete er gegen den Beamten Strafanzeige wegen Misshandlung. Nun gab es eine für den mit den Zuchthausverhältnissen nicht vertrauten Neuling fast unglaubliche Überraschung. Die Direktion, die natürlich den Beamten deckte, drehte den Spieß um und erstattete gegen den Gefangenen Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Das Resultat war, dass nicht der Beamte Radek bestraft wurde, der, wie alle vernommenen Zeugen bekundeten, den Gefangenen absolut grundlos misshandelt hatte, sondern der schwer misshandelte Romba. Er erhielt acht Wochen Gefängnis. Dem Beamten, der bewusst einen Meineid schwor, wurde geglaubt, und die Gefangenen waren unglaubwürdig, obwohl das Gericht feststellte, dass Romba tatsächlich von Radek misshandelt und verletzt worden war. Ich habe in Münster, Breslau,
Groß-Strehlitz und Sonnenburg Dutzende von Fällen erlebt, wo Gefangene von Beamten geschlagen wurden und dann Strafantrag stellten, und wo dann stets die Verwaltung gegen die Gefangenen Anzeige erstattete wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. So gingen die Beamten immer straflos aus. Viele Gefangene unterließen schon aus diesem Grund eine Anzeige.
Als ich nach der Verbüßung der zweiten Arreststrafe in meine alte Zelle zurückkehrte, merkte ich, dass ich in der Nebenzelle einen neuen Nachbarn bekommen hatte. Ich klopfte an die Wand und fragte ihn, ob er schlechte Nachrichten habe, da er unruhig in der Zelle hin- und herlief. Er erwiderte, er sei vor einigen Tagen aus dem Arrest gekommen, wo er von den Aufsehern, besonders vom Ersten Hauptwachtmeister Czursiedel, schwer verprügelt worden sei. Er habe bereits Strafanzeige erstattet. Dann fragte er mich, ob ich Tabak habe. Ich musste leider verneinen, ich hatte schon seit vielen Monaten nichts zu rauchen. Da rief er mir zu, dass er mir Tabak abgeben könne. Er wollte das Päckchen und Streichhölzer an einem Bindfaden befestigen, das Ganze an seinen Stubenbesen binden und dann zu seinem Fenster herauspendeln lassen. So könne ich an meinem Fenster das Päckchen auffangen. Wir vereinbarten, dass er mir vorher durch Klopfen an die Wand ein Zeichen gebe.
Eine halbe Minute später öffnete sich meine Zellentür, und herein traten der Direktor und der Erste Hauptwachtmeister Czursiedel. Der Direktor fragte mich, warum ich nicht arbeite. Ich erwiderte, dass ich es ablehne, für vier Pfennig pro Tag eine geisttötende Beschäftigung auszuüben, die sonst nur kleine Mädchen verrichten. Während er noch mit mir sprach und mir neue Strafmaßnahmen androhte, hörte ich entsetzt das Klopfen an der Wand. Schon sah ich am Fenster, an einem Bindfaden befestigt, ein Päckchen hin und her baumeln. Der Direktor oder der Hauptwachtmeister mussten das bemerken. Und richtig, der Direktor erblickte es als erster. Mit den Worten: »Herr Hauptwachtmeister, sehen Sie doch mal das da!« machte er auch Czursiedel aufmerksam. Der hüpfte vor Freude von einem Bein aufs andere (das war ein gefundenes Fressen für ihn!) und verschwand behände aus meiner Zelle, schloss leise die Nebenzelle auf und erwischte meinen Nachbarn, der auf dem an das Fenster gerückten Tisch stand und sein Geschenk für mich noch immer hin und her schwenkte und vergebens darauf wartete, dass ich das kleine Päckchen Tabak abnehme. Der arme Kerl war nicht wenig überrascht, als ihn der Wachtmeister plötzlich hinten an der Hose packte, mit einem Ruck herunterzog und mit Püffen traktierte.
Für seine Gefälligkeit, die er mir hatte erweisen wollen, bekam er vier Wochen Arrest.
Oft, wenn ich aus der Hofstunde zurückkehrte, musste ich mich splitternackt ausziehen und alle meine Kleider abgeben. Dafür bekam ich dann eine andere Zuchthauskluft. Diese Maßnahme, die mich stets sehr erregte, geschah, weil der Direktor verhindern wollte, dass ich in meinen Kleidern Kassiber oder sonst etwas Verbotenes verberge.
Für die Entleerung meines Kotkübels war ein besonderes Sieb angeschafft worden, und die Beamten, die bei mir Dienst machten, hatten die wenig angenehme und schwierige Aufgabe, täglich meinen Kot nach Kassibern zu durchsuchen.

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