Zurück nach Deutschland als Eisenbahnbautechniker- Eintritt ins »Weiße Kreuz«
Die Rückkehr nach Deutschland war für mich eine große Enttäuschung. Im Vergleich mit Berlin, wo ich ankam, war mir das Leben in London viel freier und ungezwungener erschienen. In England hatte mich niemand gefragt, wenn ich Stellung suchte, wer und was mein Vater sei, welche Schulen ich besucht habe, ob ich Christ oder Jude sei usw. In Deutschland aber wurden solche Fragen immer zuerst gestellt. Sobald ich in den technischen Büros, wo ich mich um Anstellung bewarb, sagte, dass mein Vater Ackerknecht sei, merkte ich, dass meine Chancen gering wurden und man mehr als einmal über meine niedrige Herkunft die Nase rümpfte.
In England galt nur der Mann selbst, er wurde nach seinen Leistungen beurteilt, nicht nach Beruf und Stellung des Vaters. In Deutschland hingegen war oft die Antwort auf die vielen Fragen nach Eltern, Geschwistern, Großvater, Großmutter und nach Zeugnissen, deren Qualität nicht immer durch persönliche Leistungen erreicht wird, ausschlaggebend. Bei meinen täglichen Bemühungen in Berlin, in einem technischen Büro unterzukommen, erfuhr ich sehr bald, welch großen Wert man auf das Einjährig-Freiwilligen-Examen legte. Ich kam zu der Überzeugung, dass mein Vorwärtskommen durch das Nichtbesitzen dieses Berechtigungsscheines sehr gehemmt wurde. Ich musste also versuchen, dieses Examen nachzuholen. Die Voraussetzung dazu war vor allem, dass ich Arbeit fand.
Ich richtete ein Gesuch an die Militärbehörde, mich vorläufig zurückzustellen, damit ich das »Einjährige« machen könne. Da ich in meinem Beruf als Eisenbahnbautechniker keine Beschäftigung fand, nahm ich kurz entschlossen eine Stelle als Hausknecht und Geschirrspüler im Restaurant »Architektenhaus« in der Wilhelmstraße an. Dadurch kam ich mit meinen Kollegen vom Baufach, deren Rang ich doch einmal erreichen wollte, wenigstens soweit in Berührung, dass ich ihnen die Teller und Gläser spülen durfte.
Nach vier Wochen bekam ich Anstellung im Wernerwerk von Siemens & Halske; aber auch da fand ich keine technische Arbeit, sondern musste als Hilfskellner und Speisenzuträger das Mittagessen auf Wagen in die großen Speisesäle der Werkkantine fahren und dort auf die Tische stellen. Während dieser Zeit versuchte ich unermüdlich, eine Stellung zu finden, die meinen in London erworbenen Kenntnissen einigermaßen entsprach. Durch persönliche Vorstellung in den Büros der Eisenbahnbaufirma Arthur Koppel, Dorotheenstraße, fand ich endlich einen Abteilungsingenieur, der mich nicht nach meiner Herkunft, meinem Leben und meinen Großeltern fragte, sondern mir sofort Gelegenheit gab, zu zeigen, was ich eigentlich könne. Ich musste unter seiner Aufsicht Probezeichnungen und Berechnungen anfertigen und wurde angestellt. Nun besuchte ich in den Abendstunden ein Vorbereitungsinstitut für das Einjährig-Freiwilligen-Examen und zwecks weiterer technischer Ausbildung ein paar Mal in der Woche die Städtische Handwerkerschule.
In Berlin schloss ich mich, wie schon in London, dem Christlichen Verein Junger Männer an, der in der Wilhelmstraße ein großes Haus mit weiten Räumen hatte. Dort verkehrte ich regelmäßig und fand viele gleichgesinnte, vorwärtsstrebende Menschen. Außer meinen Freunden im Christlichen Verein Junger Männer hatte ich überhaupt keine Beziehungen und Bekanntschaften; Frauen mied ich geflissentlich. Meine damaligen moralischen Skrupel und Vorstellungen von Sünde verboten mir jeden außerehelichen Geschlechtsverkehr. Ich hatte mit meinen 21 Jahren starkes erotisches Verlangen; um es zu überwinden, schloss ich mich dem »Weißen Kreuz«, einem evangelischen Keuschheitsbunde, an. Während meiner sechsmonatigen Prüfungszeit musste ich fast täglich mein sexuelles Tun und Denken in aller Ausführlichkeit dem Präses des Sittlichkeitsbundes beichten. Erst nach einem halben Jahr der »Läuterung« wurde ich in feierlicher Sitzung zum Mitglied ernannt. Ich blieb im »Weißen Kreuz« bis Kriegsausbruch.
Eines Tages beauftragte mich der leitende Ingenieur, einen Kostenvoranschlag abzuschreiben. Ich begann sofort und war bemüht, die Arbeit recht schnell und sauber auszuführen. Nach einer halben Stunde kam der Ingenieur, besah sich die von mir beschriebenen Seiten und zerriss alle. »Diese Schmiererei kann ich nicht gebrauchen, lernen Sie erst einmal richtig schreiben!« Über diese Eröffnung war ich sehr niedergedrückt, zumal ich mir bisher eingebildet hatte, dass meine Handschrift sauber und gut lesbar sei. Ich wusste aber, dass es der Ingenieur gut mit mir meinte. Seine scharfe Kritik entsprang sicherlich nicht irgendeiner Gehässigkeit. Also musste ich unbedingt meine Schrift verbessern. Ich hatte auch bald herausgefunden, warum meine Handschrift den Anforderungen nicht genügte, sie war eine so genannte liegende Schrift, fast ohne Druck. Der Abteilungsingenieur bevorzugte aber Steilschrift, wie sie in den technischen Büros üblich war. In den folgenden Tagen und Wochen saß ich ganze Nächte lang über Übungshefte gebeugt und lernte mit krampfhafter Ausdauer Steilschrift. Wenn mich die Müdigkeit übermannte, kochte ich mir auf meinem Spirituskocher ganz starken Kaffee und übte dann bis in die Morgenstunden. Nach wenigen Wochen schon konnte ich dem Ingenieur eine Schrift vorweisen, mit der er zufrieden war. Für mich war es eine besondere Genugtuung, zu sehen, wie sehr es ihn überraschte, dass ich mir in so kurzer Zeit eine ganz andere Schrift angewöhnt hatte.
Nach einem halben Jahr fusionierte sich die Firma Arthur Koppel mit der Firma Orenstein zur Orenstein & Koppel AG; durch die Fusion wurden viele Angestellte entlassen. Ich entging diesem Schicksal und wurde einer Schwesterfirma überwiesen, und zwar der Eisenbahnbaufirma Hermann Bachstein in der Großbeerenstraße. Diese Firma sandte mich mit zwei Ingenieuren in die bayrische Oberpfalz, wo wir die Vorarbeiten für den Bau einer Normalspurbahn von Neuenburg v. W. nach Obervichtach und Schönsee ausführten. Ich liebte meine neue Arbeit leidenschaftlich, weil sie mir erlaubte, den ganzen Tag im Freien zu sein. Wir nahmen in der Hauptsache Nivellierungen und andere Vermessungen vor. Jetzt endlich konnte ich meine in London mühsam erworbenen Kenntnisse auch praktisch verwerten.
Die Vorarbeiten für den Bahnbau dauerten etwa ein Jahr.
Nach Beendigung der Arbeit sollten die beiden Ingenieure und ich in die Berliner Büros zurückkehren, um die Zeichnungen und Berechnungen für den im Frühjahr beginnenden eigentlichen Bau der Bahn anzufertigen. Die Ingenieure rieten mir jedoch, meine ganze Zeit und Kraft darauf zu verwenden, in Deutschland ein Examen zu machen, denn dann würde es mir viel leichter fallen, eine gutbezahlte Position zu bekommen.
Für meine weiteren Studien wählte ich Dresden. Hier suchte ich eine Beschäftigung, die mir Zeit genug ließ, eine Schule zu besuchen. Gleichzeitig aber musste ich auch das Nötige verdienen, um meinen Lebensunterhalt bestreiten und das Schulgeld bezahlen zu können.
Es war sehr schwer, eine solche Beschäftigung zu finden. In Dresden war es fast unmöglich, überhaupt Arbeit zu bekommen. Stundenlang stand ich mit Hunderten von Arbeitsuchenden vor den Schaltern der Zeitungen, wo der Arbeitsmarkt angegeben wurde, dann lief ich im Eilmarsch in der
Stadt herum, um ja der erste zu sein, der sich um die freie Stelle bewarb.
Meine Sparpfennige waren bald aufgebraucht, und je mehr meine Kleider zerschlissen, um so weniger hatte ich Aussicht, irgendwo Stellung zu bekommen.
Ich hatte nur ein einziges Paar Schuhe, die Sohlen waren längst durchgelaufen. In den nasskalten Februartagen konnte ich es kaum noch wagen, auf die Straße zu gehen.
Um wenigstens meine Schuhe besohlen lassen zu können und um nicht ganz zu verhungern, nahm ich eine Beschäftigung als Kegelaufsetzer an. Ich musste täglich von neun Uhr abends bis oft ein und zwei Uhr morgens für die Spießbürger Kegel aufsetzen; dafür erhielt ich pro Abend 75 Pfennige. Solche Arbeit machen sonst nur kleine Jungen im Alter von neun bis 13 Jahren. Die Kegelbahn war so verbaut, dass ich während der ganzen Zeit in gebückter Stellung hocken musste; sobald ich versuchte, mich einmal gerade aufzurichten, stieß ich mit dem Kopf an die niedrige Decke. Ich bekam bald chronisches Nasenbluten und musste meine Beschäftigung aufgeben. Aber ich hatte mir wenigstens so viel verdient, dass ich die fällige Miete von zehn Mark für mein kleines Dachzimmer bezahlen konnte und mir noch ein paar Groschen für ein warmes Mittagessen in der Volksküche übrig blieben. Vorher hatte ich meine zerfetzten Schuhe wieder in Ordnung bringen lassen. Das war allerdings nur möglich, indem ich zum Schuster ging, die Schuhe auszog und mit bloßen Füßen wartete, bis nach einigen Stunden die Reparatur erledigt war.
Endlich, nach monatelangem Suchen, fand ich in einem kleinen Lichtspielhaus Anstellung als so genannter Vorführer. Ich musste von acht Uhr abends bis zwölf Uhr nachts den Projektionsapparat bedienen. Für diese Arbeit in einer entsetzlich engen und furchtbar heißen, feuersicheren Eisenkabine, in der das grelle Licht die Augen blendete, erhielt ich wöchentlich 25 Mark. Das war mehr, als ich erwartet hatte. Davon konnte ich Schulgeld und Bücher bezahlen und fast täglich warm essen.
In Dresden hatte ich mich gleich nach meiner Ankunft wieder dem Christlichen Verein Junger Männer angeschlossen; dort verbrachte ich meine freie Zeit und empfing manche Anregung. Besonders zwei Studenten der technischen Hochschule, die ebenfalls Mitglieder des Vereins waren, ein Italiener und ein Leipziger, nahmen sich meiner an und gaben mir unentgeltlich Nachhilfeunterricht. Der Vereinspräses, Herzog, hatte für mein Vorwärtsstreben viel Verständnis und verschaffte mir manche Erleichterung.
Ich besuchte das Einjährig-Freiwilligen-Institut an der Bürgerwiese. Tagsüber nahm ich Unterricht, in den Abendstunden arbeitete ich im Lichtspieltheater, und in der Nacht musste ich meine Schularbeiten erledigen. Zum Schlafen blieb wenig Zeit. Oft saß ich, wenn der Morgen graute, noch angekleidet über den Büchern und war eingeschlafen.
Dieses aufreibende Leben führte ich etwa ein
Jahr, dann brach ich körperlich vollkommen zusammen. Die Rekrutenmusterungskommission, die mich bei der vorhergehenden Aushebung als tauglich befunden hatte, stellte bei der Generalmusterung eine so furchtbare körperliche Veränderung an mir fest, dass ich wegen Tuberkuloseverdacht für den aktiven Dienst als untauglich erklärt wurde. Die Ärzte, die ich konsultierte, verlangten, dass ich mein bisheriges Leben sofort aufgebe, Dresden verlasse und in eine waldreiche Gegend übersiedle.
Ich spürte, dass ich so wie bisher nicht weiterkonnte, folgte dem Rat der Ärzte und wählte Ende 1912 als Aufenthaltsort Falkenstein im Vogtland. Dort fand ich Anstellung bei einem Landvermesser, abends arbeitete ich als Filmvorführer und -erklärer. In meiner freien Zeit versuchte ich, meine Studien weiter zu betreiben. |
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