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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Zwei Jahre verschärfte Isolierung - Obstruktion und Arrest

Die nun folgende, zwei Jahre dauernde Kerkerzeit in Groß-Strehlitz bis zu meiner Überführung ins Zuchthaus Sonnenburg übertraf alles, was ich vorher im Zuchthaus Münster und Breslau erlitten hatte. Mein Pech war, dass auch hier, genau wie in Breslau, der Direktor erst seit einiger Zeit seinen Posten übernommen hatte. Auch er war vorher Gefängnisgeistlicher. Sosehr ich die Staatsanwälte hasse, ziehe ich sie doch als Zuchthausdirektoren bei weitem den Geistlichen vor. Vor meinem Eintritt in die politische Bewegung hatte ich unter Geistlichen verschiedener Konfessionen Freunde gehabt, die ich aufrichtig schätzte und verehrte. Ich war also bestimmt nicht gegen Geistliche voreingenommen. Als ich in Münster hörte, dass seit Schaffung von Strafvollzugsämtern auch Geistliche als Anstaltsleiter verwendet werden sollen, begrüßte ich sogar diesen Gedanken. Wie sehr ich mich irrte, zeigten mir meine Erfahrungen mit den beiden Priester-Direktoren in Breslau und in Groß-Strehlitz.
In Groß-Strehlitz wurde ich von allen übrigen Gefangenen vollständig isoliert und in einer Weise behandelt, die mich ans graue Mittelalter und an die Zeiten der Inquisition erinnerte.
Die vierzig bis fünfzig andern »Lebenslänglichen«, darunter zwei- und dreifache Raubmörder, wurden menschlicher behandelt und waren nicht so isoliert wie ich. Selbst die schwersten Verbrecher durften gemeinsam mit den anderen Gefangenen in die Hofstunde gehen, und wenn es auch streng verboten war, miteinander zu sprechen, so gelang es ihnen doch hin und wieder, unbemerkt von den Aufsehern, sich ein paar Worte zuzuflüstern.
Ich wurde allein in den Hof geführt, und zwar stets von zwei bis drei Aufsehern. Ehe ich aus der Zelle trat, mussten alle Gefangenen und Kalfaktoren von den Gängen verschwinden. Sooft aber zufällig von weitem ein Gefangener auftauchte, fuchtelten die mich begleitenden Beamten mit den Armen, damit der Gefangene schnellstens in irgendeine Zelle eingeschlossen oder mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt wurde. Diese unverständlichen Maßnahmen weckten die Neugierde der Gefangenen natürlich erst recht, und mancher versuchte von seinem Zellenfenster aus, mich zu sehen, wenn ich im Hof im Kreis herumlief. Sobald der mich im Hof Bewachende ein Gesicht am Fenster auftauchen sah, nahm er sein Notizbuch aus der Tasche, rechnete sich die Zellennummer des betreffenden Gefangenen aus und erstattete gegen ihn Anzeige, weil er es gewagt hatte, den Versuch zu machen, mich zu sehen. Ganz schlimm aber erging es denen, die es wagten, mir aus dem Fenster einen Gruß zuzurufen. Die wurden von dem Hauptwachtmeister Czursiedel bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit malträtiert und schikaniert.
Vor meinem Eintreffen in Groß-Strehlitz lag weder in der Anstalt noch in der Stadt Sipo. Zwei
Tage nach meiner Ankunft wurde die Anstalt mit einem Sipokommando belegt.
Während ich die halbe Stunde im Kreis herumlief und von Beamten bewacht wurde, stellte sich noch ein Sipobeamter hinzu, dessen einzige Aufgabe es war, während meiner kurzen Freistunde im Hof zu patrouillieren. Zu ihm gesellten sich meist noch drei bis vier andere Sipobeamte, die nicht im Dienst waren. Es bereitete ihnen sichtliches Vergnügen, sich so hinzustellen, dass ich immer an ihnen vorbeilaufen musste. Sie lachten, machten ironische Bemerkungen und bliesen mir ostentativ den Rauch ihrer Zigaretten ins Gesicht. Ich beschwerte mich über das Verhalten dieser Sipobeamten bei dem wachhabenden Aufseher und nachher beim Direktor.
Meine Beschwerde hatte keinen Erfolg. Täglich wiederholte sich das widerliche Schauspiel, dass mich die Sipoleute in provozierender Weise wie ein im zoologischen Garten zur Schau gestelltes exotisches Tier anstarrten. Ich rief ihnen eines Tages zu, sie sollten sich schämen und lieber arbeiten, als mich durch ihr Auftreten zu reizen. Da ich die Ordnungshüter mit Ausdrücken wie »Laubfrösche« und »Faulenzer« belegte, erstatteten sie gegen mich Anzeige, und der Direktor kündigte mir an, dass er mich dafür mit Arrest bestrafe. Ich weigerte mich, unter solchen Umständen überhaupt noch in die Freistunde zu gehen, und bildete mir ein, durch diese passive Resistenz den Direktor zu bewegen, den Sipoleuten den Aufenthalt im Hofe zu verbieten. Aber nach einigen Tagen sah ich, dass sich nichts geändert hatte. Ich verlor die Geduld und bewarf jeden Sipomann, den ich im Hof erblickte, mit den herumliegenden Steinen. Ich rechnete damit, dass die Sipoleute sich das nicht gefallen lassen und auf mich schießen würden. Sie taten es nicht, sondern stellten ihre Zudringlichkeiten im Hof ein, hielten sich aber dafür schadlos, indem sie an meine Zellentüre schlichen, durch den »Spion« schauten und dabei faule Witze machten. Der Rentmeister, der als stellvertretender Direktor fungierte, brachte außerdem Sipooffiziere an meine Zelle, die sich in derselben albernen Weise benahmen wie ihre Untergebenen. Wenn ich merkte, dass Neugierige an der Zellentür standen und durch das Loch äugten, nahm ich den Schemel und trommelte damit so lange an die Tür, bis die draußen es vorzogen, zu verschwinden.
Der Direktor bereitete seinen Bekannten aus der Stadt folgendes merkwürdige Vergnügen: Um die Zeit meines täglichen Kreislaufs im Hof ließ er sich von neugierigen Spießbürgern besuchen, stellte sich mit ihnen an das geöffnete Fenster des Direktionszimmers und sah ruhig mit an, wie die gaffenden und rauchenden, sensationshungrigen Bürger mit Fingern auf mich wiesen und sich über mich lustig machten.
Nach den geltenden Bestimmungen über den Strafvollzug an Zuchthausgefangenen durfte ich - nach drei Zuchthausjahren - nicht mehr gegen meinen Willen in Einzelhaft gehalten werden, zumindest hatte ich Anspruch, während der Freistunde mit den anderen Gefangenen zusammen zu gehen. Ich beantragte, in der Hofstunde mit den drei politischen Gefangenen, die sich außer mir in Groß-Strehlitz befanden, zusammen gehen zu dürfen. Der Direktor versprach, meinen Wunsch zu erfüllen. In derselben Nacht aber ließ er die drei Gefangenen von Groß-Strehlitz in ein anderes Zuchthaus überführen.
Ich durfte über ein halbes Jahr lang kein Buch in der Zelle haben und später auch noch kein eigenes, sondern nur ein einziges aus der Bibliothek. Eine Zeitung zu halten war mir nicht erlaubt.
Die Zellen aller anderen Gefangenen, auch der Lebenslänglichen und Schwerverbrecher, waren mit nur einem Schloss versehen. Meine Zelle wurde mit zwei Schlössern gesichert, und beim Auf- und Zuschließen mussten stets zwei, oft sogar drei Beamte zugegen sein. Wenn mich der Anstaltsbarbier rasierte oder mir die Haare schnitt, dann standen rechts und links von mir zwei Beamte wie Cherubim und passten auf, dass ich ja kein Wort mit dem Gefangenen sprach.
Diese besonders scharfe Isolierung bedrückte mich schwer. Der Direktor verlangte, dass ich den ganzen Tag über Strümpfe ketteln sollte, eine Arbeit, die sonst kleine Mädchen verrichten, bei der aber ein Mann blödsinnig werden kann. Ich bemühte mich trotzdem, die mir zugewiesene Arbeit auszuführen, da der Direktor mir erklärte, er wolle meine Behandlung mildern, wenn ich arbeitete. Als es mir klar wurde, dass meine Behandlung sich nicht besserte, sondern noch mehr verschlechterte - ich wurde in eine Zelle gelegt, die ganz verwanzt war, in einer einzigen Nacht tötete ich Dutzende dieser Tiere -, verweigerte ich die Arbeit.
Eines Tages wurde die Einsamkeit meiner Zelle durch ein sonderbares Geräusch unterbrochen; ich konnte nicht feststellen, woher die grunzenden, hohlklingenden Laute kamen. Es war, als ob jemand aus einer hohlen Wand heraus meinen Namen rufe. In der einen Ecke der Zelle über dem Kübel befand sich ein kleiner Luftschacht in der Mauer, durch den die Zelle etwas gelüftet und der Gestank aus dem Kübel ins Freie geleitet wurde. Ich rief hinein, ob jemand da sei und was man von mir wolle. Darauf hörte ich wie aus weiter Ferne: »Ich bin der Gefangene, der die Heizung versorgt. Ich sitze hier oben unterm Dach, wo dein Luftschacht mündet. Ich muss sehr aufpassen, dass mich die Aufseher nicht dabei erwischen. Es ist streng verboten, mit dir in Verbindung zu treten und mit dir zu sprechen. Wenn es herauskommt, dann verliere ich meinen Posten, durch den ich viele Erleichterungen habe. Ich komme als gelernter Schlosser öfters in die Beamtenwohnungen, wo ich Reparaturen machen muss, dann bekomme ich manchmal was zu rauchen oder auch etwas Speck. Vielleicht hast du mich schon einmal gesehen, ich bin der mit dem großen Vollbart. Ich weiß, dass es dir schlecht geht, und lass dir jetzt an einem Bindfaden ein paar alte Zeitungen herunter und ein Stück Speck und Brot.« Noch ehe ich antworten konnte, hörte ich ein sausendes Geräusch, kleine Steinchen und Kalk fielen aus dem Schacht, und in einer dicken Staubwolke landete plötzlich vor meinen Augen ein Päckchen. Das alles kam für mich so überraschend, dass ich es kaum für Wirklichkeit hielt. Am nächsten Tage wiederholte sich dasselbe. Der Gefangene erzählte mir unter anderem, dass in der Anstalt viel geprügelt werde, besonders der Hauptwachtmeister Czursiedel bearbeite die Gefangenen immer mit einem Gummiknüppel, vor ihm solle ich mich in acht nehmen. Am Tage vorher habe sich direkt über meiner Zelle ein Gefangener, der oft geprügelt worden war, vom höchsten Stockwerk herabgestürzt und sei zerschmettert unten liegen geblieben. Es kämen hier oft Selbstmorde vor. Ein anderer Gefangener habe sich aufgehängt. Die Anstalt heiße im Munde der Gefangenen »das oberschlesische Sibirien«.
Mein geheimnisvoller Freund bot mir an, für mich Briefe an meine Freunde aus der Anstalt herauszuschmuggeln. Ich hatte vorher auf legalem Wege versucht, meinen Angehörigen und Anwälten mitzuteilen, welcher besonders schlechten Behandlung ich ausgesetzt war. Aber der Direktor hatte die Briefe nicht abgeschickt. Deshalb ergriff ich bereitwilligst die mir gebotene Gelegenheit, hatte aber weder Papier noch Bleistift, um meine Kassiber schreiben zu können.
Mein geheimnisvoller Freund versprach mir, auch das zu besorgen. Da er nur einmal am Tage diese gefährliche Verbindung mit mir aufnehmen konnte, wollte er mir am nächsten Tag das Erforderliche bringen.
Ich schrieb dann einen längeren Kassiber an Erich Mühsam, der damals schon frei war, schilderte ihm alle Einzelheiten der mir zuteil werdenden Behandlung und bat ihn, er möge die Tatsachen in der Öffentlichkeit bekannt machen. Ich musste sehr vorsichtig sein, konnte nur minuten- und sekundenlang schreiben, da ich fortwährend von den Aufsehern durch den Spion beobachtet wurde. Am Bindfaden zog der Gefangene den Brief nach oben, und ich war sehr gespannt darauf, ob der Brief in die Hände Mühsams gelangen werde. Der Brief kam gut aus der Anstalt heraus und gelangte in die Hände eines Parteifreundes in Breslau, der die Einzelheiten in unserer Presse ver­öffentlichte.
Die Strafvollzugsbehörden waren bestürzt, dass trotz meiner scharfen Isolierung die Dinge in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Sie veranlassten eine Haussuchung in der Redaktion unseres Breslauer Parteiblattes. Dadurch fiel ihnen eine Abschrift meines Kassibers in die Hände, die mein Parteifreund mit der Maschine angefertigt und der Redaktion übersandt hatte. Ein paar Tage später kam der Direktor aufgeregt in meine Zelle und erklärte, das Strafvollzugsamt in Breslau habe ihm soeben mitgeteilt, dass ich Kassiber aus der Anstalt herausgeschmuggelt hätte. Die Herren seien sehr ungehalten, dass so etwas möglich sei. Der Direktor fragte mich, ob ich tatsächlich Kassiber aus der Anstalt geschmuggelt hätte. Ich sagte: »Nein, das ist doch ganz ausgeschlossen, das wissen Sie ja selbst, wie sollte ich aus dieser Isolierung jemals einen Kassiber herausbringen.« Der Direktor strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Sehen Sie, das habe ich dem Strafvollzugsamt ja auch gesagt. Sie sind hier so bewacht und abgeschlossen, dass Sie gar nichts herausbringen können.« Während er noch mit mir sprach, hörte ich zu meinem Schrecken wieder das Grunzen aus dem Luftschacht, das das Signal dafür war, dass wieder eine Sendung für mich herabkommen werde. Ich war sehr in Ängsten, dass der Direktor mein Geheimnis jetzt entdecken werde. Aber mein Freund unter dem Dache schien gemerkt zu haben, dass die Luft in meiner Zelle nicht ganz rein war. Nachdem sich der Direktor entfernt hatte, versuchte ich einen zweiten Kassiber an meine Freunde zu schmuggeln.
Diesmal hatte ich Pech. Die Verbindung des Gefangenen mit der Außenwelt klappte nicht sofort, und er musste über eine Woche lang den Brief bei sich verbergen, und so wurde er bei einer Revision seiner Zelle gefunden. Der Gefangene verlor sofort seinen Posten und erhielt vier Wochen Arrest. Auch ich bekam für den herausgeschmuggelten Brief vier Wochen Arrest, die ich sofort antreten musste. Im Arrest gab es nur trocken Brot und Wasser. Die Arrestzelle war ein ganz fürchterliches, dreckiges Loch. Nachts kamen die Mäuse und Ratten in Scharen und fraßen das bisschen Brot, das ich mir für den nächsten Tag aufbewahrt hatte. Es gab sehr wenig Brot und jeden dritten Tag ein wenig Suppe. Die Wände waren über und über mit gelbem, vertrocknetem Speichel bedeckt, es sah aus, als ob Dutzende von Lungenkranken die Wände als Spucknäpfe benutzt hätten.
Überall befanden sich Karikaturen auf den Direktor mit wenig schmeichelhaften, mit Nägeln in die Wände geritzten Versen, wie: »Grausamer als ein Henker ist der Pfaffe Adamietz« (Name des Direktors) oder »Hier habe ich mir die Lungenpest geholt, Fluch dem Mörder Adamietz«.
Die Pritsche, auf der ich während der vier Wochen Arrest schlafen musste, bestand aus einer schweren, eichenen Bohle, die mit fünf Zentimeter breiten Eisenschrauben auf einem Unterbau aus Backstein befestigt war. Diese Eisenschrauben standen drei bis vier Zentimeter aus dem Holze heraus und drückten sich des Nachts tief in meinen Kopf und Rücken. Das Schlafen auf dieser Pritsche glich einer mittelalterlichen Folter, denn es gab nur jeden dritten Tag eine Matratze. Erst auf meine wiederholten Proteste und Beschwerden hin ließ der Direktor die hervorstehenden Eisenschrauben etwas abfeilen. Der Gefangene, der damit beauftragt war, arbeitete sich buchstäblich die Hände blutig, ohne dass es ihm gelang, die Schrauben bis auf die Bohlenfläche abzufeilen.
Mehrere Wochen in einer solchen Arrestzelle wirken physisch und psychisch auf den Gefangenen in der gleichen Weise wie die Unterbringung in einer Tobzelle. Dadurch, dass der Gefangene nicht die geringste Ablenkung hat, nur jeden dritten Tag an die Luft kommt, keine Zeitung, kein Buch lesen darf, keine Briefe schreiben oder empfangen und mit keinem Menschen sprechen darf, ist er nur auf sich selbst angewiesen, sitzt grübelnd und brütend, vom Hunger gepeinigt, im Käfig und spürt, wie scharfe Krallen sein Gehirn zerfetzen, verfolgt bewusst seine langsam fortschreitende geistige Verblödung. Gefangene, die nach wochen- und monatelangem Arrest aus diesen Löchern herauswanken, sind ganz verstört und lallen oft wie Kinder. Ich selbst nahm in den vier Wochen zwanzig Pfund ab. Dass ich ohne größeren psychischen Schaden die Arreststrafe überstand, verdankte ich zu einem Teil meinen täglichen gymnastischen Übungen, die ich auch in der Arrestzelle täglich vier Stunden durchführte, obwohl ich nur Wasser und Brot erhielt und dadurch sehr geschwächt war. Wenn ich meine gymnastischen Übungen beendet hatte, rezitierte ich Dutzende von Gedichten und Versen, die ich auswendig konnte. Damit lenkte ich mich vom Grübeln ab und verhinderte, dass ich mich zu stark mit mir selbst beschäftigte.

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