Die furchtbarste Nacht meines Lebens
Um mich von den Schmerzen abzulenken, verfiel ich auf einen Ausweg: Ich rezitierte Verse von Herwegh, Freiligrath, Erich Mühsam und anderen. Dadurch verschaffte ich mir wesentliche Erleichterung.
Die Aufseher waren darüber anderer Meinung. Vier von ihnen traten in meine Zelle und forderten mich auf, herauszukommen. Ich ahnte nichts Gutes und weigerte mich. Sie schlossen die Tür ab und entfernten sich. Nach einer Weile kamen sie wieder und schleppten mich mit Gewalt auf den Gang. Ich war nur mit dem dünnen, kurzen Leinenhemd bekleidet und barfüßig. Zwei drehten mir die Arme in den Gelenken um. Die anderen schlugen fortwährend auf mich ein, der eine bearbeitete mit seinem schweren Schlüsselbund meinen Kopf, der andere schlug mit seinem Seitengewehr auf meinen Rücken und das Gesäß. Abwechselnd traten sie mir mit ihren schweren Stiefeln in die Kniekehlen, bis ich zusammenbrach, und schleiften mich hinunter nach dem Kellergeschoß. Ich rief, sie sollten mich doch nicht so unmenschlich schlagen: Darauf griff einer nach meiner Gurgel und drückte sie mit beiden Händen fest zusammen, so dass ich keinen Laut mehr von mir geben konnte, und sagte: »So, du Hund, jetzt bist du schon stumm.« Mein Hemd hing als loser Fetzen am Leib; ich blutete stark.
Meine Peiniger schlugen immer toller auf mich ein und stießen mich aus dem Hauptgebäude in den Lazaretthof. Aus den nach dem Hof gelegenen Zellenfenstern des Hauptflügels hörte ich Gefangene aufgeregt schimpfen, weil ich geschlagen wurde. Die Aufseher ließen sich aber dadurch nicht beirren. Nachdem sie mich über den langen Hof geschleppt hatten, schlossen sie die in das Lazarettgebäude führende Tür auf, einer der Beamten gab mir einen furchtbaren Tritt von hinten, so dass ich kopfüber sechs Sandsteinstufen hinunterflog. Unten stand der Nachtaufseher vom Lazarett, der meinen Rücken und Kopf sofort mit zwei schweren Holzpantinen bearbeitete. Ich war über die Misshandlung so entsetzt, dass ich nicht einmal daran dachte, mich überhaupt zur Wehr zu setzen. Es hätte auch nichts genützt.
Die Aufseher schlossen eine im Keller liegende Zelle auf, die schalldicht gepolsterte Doppeltüren hatte. Sie rissen mir den Hemdfetzen vom Leibe und schmissen mich wie ein Lumpenbündel in dieses Loch.
Nun lag ich splitternackt und blutend in einem kalten Keller, der, wie ich später erfuhr, im Munde der Gefangenen die Bezeichnung »Folterkammer« führt, amtlich aber zwei Bezeichnungen hat, die einander widersprechen: »Tobzelle« und »Beruhigungszelle«. Es war darin vollkommen leer und noch enger als in den anderen Gefangenenzellen. Es war gar nichts vorhanden, nicht einmal eine Decke, in die ich mich hätte wickeln können. Vom Fußboden, auf dem ich lag, ging mir die Kälte in die Knochen, die Zähne schlugen im Fieberfrost aufeinander. Trotz meiner zerschlagenen Glieder versuchte ich herumzulaufen, um mich zu erwärmen. Durch das Laufen in dieser winzigen Rundzelle - immer im Kreise - wurde ich müde und ganz benommen. Ich versuchte mich auf den Fußboden zu setzen, um etwas auszuruhen, aber da spürte ich wieder die beißende, fast messerscharfe Kälte. Ich raffte mich auf und wankte in der Zelle hin und her.
In diesem Loche herrschte ein fürchterlicher Gestank. Ich konnte mir nicht erklären, warum die Luft so dumpf und stickig war. Bald jedoch fand ich den Grund. Ich musste Urin lassen und meine Notdurft verrichten, es war aber kein Gefäß vorhanden; so musste ich meine Notdurft auf dem Boden verrichten. Den Dutzenden Gefangenen, die vor mir in dieser Zelle gelegen hatten, war es bestimmt ebenso ergangen, und der entsetzliche Geruch der Exkremente hatte sich im Fußboden festgesetzt.
Nach drei qualvollen Stunden hörte ich ein leises Geräusch. Die Klappe des kleinen Gucklochs in der Tür bewegte sich, und ich bemerkte in diesem so genannten »Spion« ein menschliches Auge. Das konnte nur der Nachtaufseher sein, der wohl nachsehen wollte, ob ich wieder auf den Beinen war. Ich bat ihn, mich doch aus dieser furchtbaren Zelle herauszunehmen oder mir wenigstens eine Decke zu geben, da ich schrecklich unter der Kälte zu leiden hätte. »Häng dich auf, du Lump, du hast doch in München sechzehn Beamten die Augen ausgestochen!« war die Antwort. Nie in meinem Leben war ich in München gewesen, hatte nicht nur keinem Beamten die Augen ausgestochen, sondern auch nie einen misshandelt.
Wie mussten diese Menschen verhetzt worden sein! Jetzt glaubte ich die eigentliche Ursache zu kennen, warum die vier Aufseher mich so wahnsinnig geschlagen hatten.
Diese Nacht in der Folterkammer des Zuchthauses Münster war für mich seelisch und körperlich die grauenhafteste Qual meines Lebens.
In dieser Nacht zerbrach etwas in mir.
Wenn ich in den zweieinhalb Jahren vorher jemals noch gezweifelt hätte an der Notwendigkeit der Zertrümmerung dieser Gesellschaftsordnung und ihrer Justiz, so wären hier alle Zweifel gelöscht worden.
Nicht die schweren körperlichen Misshandlungen durch die Aufseher waren das Furchtbarste, sondern das nackte, hilflose Herumtappen in dem eiskalten Kellerraum. Diese Folter wird gerade deshalb angewendet, weil kein Mensch, der es nicht am eigenen Leib erlebt hat, sich vorzustellen vermag, welche Wirkungen auf Körper und Geist eine solche Tortur ausübt.
Wenn ein Gefangener nach seiner Freilassung erzählen würde, man habe ihm die Haut aufgeschnitten und Salz und Pfeffer hineingestreut, ihm die Fußsohlen mit glühenden Zangen gebrannt, Daumenschrauben angesetzt und ihm die Gelenke gebrochen, dann gäbe es keinen Menschen, der sich nicht vorstellen könnte, dass das entsetzliche Folterqualen sind. Aber jemanden nackt in einen kalten Raum einzuschließen wird dem Außenstehenden nicht ohne weiteres als eine besondere Unmenschlichkeit erscheinen.
Nur die Zuchthausaufseher, Direktoren und Ärzte wissen um das Geheimnis dieser höchsten Kunstfertigkeit moderner Menschenquälerei. Sie wissen, dass von hundert Gefangenen, die jemals nackt in ein solches Loch gestoßen wurden, bestimmt fünfundneunzig für ihr ferneres Leben »fertiggemacht« sind. »Fertiggemacht« ist in der Zuchthaussprache der Ausdruck dafür, dass ein Gefangener durch schwere körperliche und seelische Misshandlungen irrsinnig wurde. Ich wusste nicht, wie viel Stunden ich bereits in diesem Zustand verbracht hatte, ob es noch immer Nacht oder schon Morgen war. Ich fühlte nur, dass ich am Ende meiner Kraft war; das Gefühl absoluter Ohnmacht zerfraß mein Denken. In meinen Schläfen spürte ich ein wahnsinniges Pochen. Aus dieser Zelle jemals mit klarem Verstand herauszukommen erschien mir unmöglich.
Plötzlich wurden die Türen aufgeschlossen, und ein Beamter stellte eine Schüssel aus Pappe auf den Fußboden. Ich wandte mich sofort an den Beamten und bat, mich in meine alte Zelle zurückzubringen. Der Beamte entfernte sich, ohne mir Antwort zu geben.
Ich warf einen Blick in die Schüssel, sie enthielt die übliche Zichorienbrühe. Also musste es früh am Morgen und zwar zwischen sieben und acht Uhr sein. Als ich die Schale vom Boden nahm, um zu trinken, bemerkte ich, dass hineingespuckt war. Obenauf schwammen dicke Fetzen gelben
Schleims, wie ihn Lungen- oder Halskranke auswerfen. Ich konnte nicht einen Schluck trinken, obwohl ich gern etwas Warmes zu mir genommen hätte.
Nach einigen Stunden kam ein Aufseher mit dem Anstaltsarzt. Jetzt hoffte ich aus der qualvollen Lage befreit zu werden. Ich schilderte dem Arzt, wie die Beamten mich misshandelt hatten, und zeigte ihm die Wunden. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, sie zu untersuchen, er sagte bloß, das ginge ihn nichts an, das sei nicht seine Sache. Ich bat ihn, dafür zu sorgen, dass ich aus der Folterkammer herausgenommen werde. Er gab mir keine Antwort und verließ mit seinem Begleiter die Zelle.
Wieder vergingen qualvolle Stunden, die endlos schienen. Um die Mittagszeit wurde in einer Pappschüssel ein undefinierbarer Brei in meine Zelle gestellt, ohne Löffel. Ich war gezwungen, den Kleister mit der Hand zu essen. Dem Beamten, der mir das Essen brachte, sagte ich, er möge mich dem Direktor melden, ich wolle Anzeige wegen der Misshandlungen erstatten. Obwohl ich an diesem und den nächsten Tagen wiederholt beantragte, dem Direktor vorgeführt zu werden, ließ er sich nicht blicken.
Im Laufe des Tages wurde mir eine Hose gebracht. In der folgenden Nacht warfen die Beamten eine zerrissene Matratze, die mit Kot und Urin ganz besudelt war und unbeschreiblich stank, in meine Zelle.
Am zweiten Tag besuchte mich ein anderer
Arzt. Das war der eigentliche Anstaltsarzt, Professor Dr. Többen, zugleich Professor an der Universität in Münster. Auch ihm zeigte ich meine Verletzungen und bat, mich aus der Tobzelle herauszunehmen. Er tat nichts, um mir eine Linderung zu verschaffen. Als der vierte Tag zu Ende ging und ich keine Möglichkeit sah, aus meiner Lage befreit zu werden, bemächtigte sich meiner eine grenzenlose Verzweiflung. Meine Widerstandskraft war erschöpft.
Der Fußboden, mit den Exkrementen der vor mir in diesem Loch untergebrachten Gefangenen wie ein Schwamm voll gesogen, verbreitete eine unerträgliche Ausdünstung. Die atemraubende Stickluft drückte wie eine Zentnerlast auf mein Gehirn. Ich versuchte, durch Rezitieren von Versen mir eine Zerstreuung zu verschaffen. Aber die Worte klangen infolge der eigenartigen Akustik dieses Raumes unheimlich dumpf und hohl; sie wurden von den Wänden wie ein vielfaches Echo mit schaurigem Klang zurückgeworfen. Entsetzen ergriff mich vor der eigenen Stimme.
Ich war überzeugt, dass meine Peiniger mich auf kaltem Wege morden wollten, und hielt es für absolut unmöglich, noch eine Nacht in der »Beruhigungs-«-Zelle auszuhalten, da schien es mir richtiger, die langsame Hinrichtung abzukürzen. In der kommenden Nacht wollte ich mir die Pulsadern aufbeißen, um durch Verbluten der Quälerei ein Ende zu machen. Professor Többen, der mich auch am vierten Tag aufsuchte, mochte wohl gemerkt haben, dass ich vor einer Katastrophe stand. In den
Abendstunden des vierten Tages wurde ich aus der Kerkerzelle herausgenommen und in meine alte Zelle zurückgebracht.
Wie ich später erfuhr, hatte der Professor Többen erst nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Direktor Scheidges meine Herausnahme aus der Tobzelle durchgesetzt. |
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