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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Der schönste Tag meines Lebens

Wegen der Vorgänge im Frühjahr und Sommer 1919 saßen vierundzwanzig Arbeiter aus Falkenstein seit neun Monaten in Untersuchungshaft im Plauener Landgericht. Unter dem Schutze der Noskiden sollte ihnen während der Kapp-Tage der Prozess gemacht werden. Die Falkensteiner Arbeiter hofften, die Arbeiterschaft in Plauen werde die Genossen befreien. Tag um Tag verging, aber die Ersehnten kamen nicht.
Da entschloss ich mich, die Genossen durch einen Gewaltstreich aus dem Kerker zu holen. Mitten in der Nacht rückte ich mit nur fünfzig Mann und drei Maschinengewehren in das hundertdrei­ßigtausend Einwohner zählende Plauen ein. Ein größeres Aufgebot wäre zu auffällig gewesen. Die Befreiung konnte nur gelingen, wenn sie so überraschend vor sich ging, dass ich dem Militär, der Gendarmerie und der Polizei gar keine Zeit zum Eingreifen ließ.
Da die Tore des Gefängnisses von den Beamten nicht geöffnet wurden, mussten wir alle Türen zertrümmern und mit Gewalt eindringen. In den Innenräumen des Gefängnisses versperrte uns eine sehr hohe und breite Eisentür den Zugang zu den Zellen. Dieser Tür konnten wir mit Äxten nicht beikommen, höchste Eile war aber geboten, damit Reichswehr und Gendarmerie nicht alarmiert werden konnten. Wir stellten uns in Doppelreihen hintereinander auf, so dass Körper an Körper lehnte, und im Takt auf Kommando wurde hin und her gewippt, bis nach einigen Sekunden unter fürchterlichem Krachen das riesige Tor zusammenstürzte. Zum Glück wurde dabei niemand verletzt.
Die Gefangenen in den Zellen, die merkten, dass die Freiheitsstunde nahte, begannen einen ohrenbetäubenden Lärm, riefen, klopften, sangen, pfiffen, jubilierten, so dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Jetzt kamen auch, zitternd am ganzen Körper und weiß wie Kalk, die Nachtaufseher herbei, die sich bisher ganz still verhalten hatten, weil sie es für unmöglich hielten, dass wir diese riesige Tür zertrümmern könnten. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen, denn viele von ihnen hatten unsere Genossen sehr schlecht behandelt.
Ich verlangte die Liste der politischen Gefangenen und befahl: »Schließen Sie die Zellen dieser vierundzwanzig Mann sofort auf, wir nehmen unsere Genossen mit nach Falkenstein.« Ohne Widerspruch wurde der Befehl ausgeführt. Es war der schönste Tag meines Lebens, als wir die Genossen, die seit neun Monaten in qualvoller Untersuchungshaft schmachteten, der Freiheit und ihren Angehörigen wiedergeben konnten.
Aber zu langer Wiedersehensfreude blieb keine Zeit. Die Maschinengewehre wurden auf die Autos geladen und alles zum Abmarsch bereit gemacht.
Und fast hätte ich eine wichtige Angelegenheit zu erledigen vergessen. Mir war bekannt, dass viele meiner Genossen nur durch Denunziationen verhaftet worden waren. Es lag mir sehr daran, aus den Akten herauszufinden, wer die Verräter waren. Ich verlangte von den Beamten die Untersuchungsakten der vierundzwanzig Genossen, die Beamten erklärten aber, die politischen Akten habe der Erste Staatsanwalt in persönlicher Verwahrung. Der Mann, dessen Wohnung am Gefängnis lag, hatte sicherlich schon den nächtlichen Krach gehört, sich aber nicht gerührt. Mit einigen Genossen ging ich an seine Haustür und pochte laut. Nach einer Weile wurde oben zaghaft ein Fenster geöffnet, ein Kopf mit einer Schlafmütze schaute heraus, und eine ängstliche Stimme fragte: »Was wünschen Sie?« Ich antwortete: »Sind Sie der Erste Staatsanwalt?« - »Der bin ich.« - »Na, dann kommen Sie schnell herunter!« Er sagte, dass das nicht so schnell ginge, er müsse sich erst anziehen. Ich erwiderte: »Wenn Sie in zwei Minuten nicht unten sind, sprenge ich die Tür mit einer Handgranate.« Und damit er merkte, dass ich nicht nur drohte, band ich zwei Stielhandgranaten an die Türklinke.
Nach nicht ganz zwei Minuten kam der Erste Staatsanwalt schlotternd herunter und erklärte sich sofort bereit, die Akten herauszugeben.
Ich ging mit ihm in das Gerichtsgebäude, wo die Akten lagen. Er gab mir einige Pakete, aber ich merkte bald, dass das längst nicht alle waren und die wichtigsten Akten fehlten. Ich sagte: »Wir haben keine Zeit, hier länger zu verweilen, aber ich muss die Akten haben. Sie bürgen mir mit Ihrem Leben dafür, dass ich sie noch heute bekomme; ich nehme Sie als Geisel mit nach Falkenstein, und wenn die Akten nicht innerhalb weniger Stunden dorthin gebracht werden, lasse ich Sie erschie­ßen!«
Es blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen. Ich nahm ihn ins Auto, damit ihm nichts passiere. Zu dieser Maßnahme hatte ich allen Grund: in dem
Augenblick, als ich mit den befreiten Genossen die Zellen verließ, war ich Zeuge eines Streites zwischen vier befreiten Genossen. Jeder beanspruchte für sich das Recht, Vergeltung an dem Aufseher zu üben, der sie besonders gequält hatte. Ich wusste, dass unsere Freunde furchtbar gelitten hatten, und begriff ihre grenzenlose Erbitterung. Aber wir hatten keine Zeit, um mit diesen Folterknechten abzurechnen.
In der Stadt begann es lebendig zu werden, die Schreckenskunde hatte sich verbreitet. Aber noch ehe die staatlichen und städtischen Sicherheitsorgane auf dem Plan erschienen, lag Plauen längst hinter uns.
Unter beispiellosem Jubel zogen wir in Falkenstein ein.
Dem Staatsanwalt verschaffte ich ein gutes Frühstück aus dem besten Hotel; er konnte sich auch sonst über schlechte Behandlung nicht beklagen. Ich empfahl ihm, sofort Briefe zu schreiben, die durch einen Motorradfahrer zu seiner Frau gebracht würden. Darin stand: wenn bis zwölf Uhr mittags die noch fehlenden Akten nicht abgeliefert seien, werde er erschossen.
Noch vor zwölf Uhr erschien seine Frau mit einem Beamten des Landgerichts und lieferte alle noch fehlenden Akten an mich ab.
Als der Erste Staatsanwalt merkte, dass er so glimpflich davongekommen war, obwohl er viele unschuldige Arbeiter auf dem Gewissen hatte, wurde er frech und beanspruchte für sich, seine Frau und den Beamten ein Auto zur Rückfahrt. Ich dämpfte seinen Übermut und sagte, dass wir ihm gestatteten, in einem Landauer nach Plauen zurückzukehren, den ein Fabrikbesitzer aus Falkenstein zur Verfügung stellen müsse. Für dieses Entgegenkommen habe er tausend Mark an die Kasse der Kriegshinterbliebenen zu zahlen.
Aus den Akten ersah ich dann, dass zwei Leute, die sich als Mitglieder in die Partei eingeschlichen hatten, Polizeispitzel waren. Sie wurden sofort festgesetzt.
Am Nachmittag des gleichen Tages ging ich mit einem Genossen in das Falkensteiner Gerichtsgebäude und ließ sämtliche Beamten vom Oberamtsrichter bis herunter zu den Gerichtsvollziehern und Justizwachtmeistern zusammenrufen. Ich erklärte ihnen, jetzt habe die Arbeiterschaft die Macht in den Händen. Sie brauche die bürgerlichen Gesetze nicht, die nur gemacht seien, um die Arbeiter ihren Unterdrückern botmäßig zu erhalten. Wir machten uns unsere Gesetze selbst.
Ich hieß die Beamten alle Akten und Bücher aus dem Gericht heraustragen und auf dem großen Platz zwischen dem Gerichtsgebäude und der Schule aufstapeln.
Der Oberamtsrichter hielt meine Anordnung für einen schlechten Witz. Als er merkte, dass es mir ernst war, verlegte er sich aufs Bitten und sagte unter Tränen, sein ganzes Leben hänge doch an dieser Arbeit und an diesen Papieren. Er sei aufgewachsen in diesen Anschauungen, und ich solle doch versuchen, mich in seine Lage zu versetzen. Ich erwiderte, ich könne auf seine Gefühle keine
Rücksicht nehmen, hier handle es sich um größere Dinge als persönliche Empfindungen. Mein Vorgehen sei nur ein winziges Glied in der Kette des großen Befreiungskampfes der Werktätigen.
Es blieb ihm nichts übrig, als die Akten mit hinauszuschaffen. Stundenlang arbeiteten die Richter und die unteren Beamten an der Errichtung eines riesigen Akten- und Bücherhaufens, während ich die Aufsicht führte. Als das letzte Aktenbündel und das letzte Buch - mit Ausnahme der Mündelakten - die staubigen Regale verlassen hatte, gab ich den zwei Amtsrichtern und einem Referendar je eine Schachtel Streichhölzer, eine vierte nahm ich, und auf meinen Befehl wurde der riesige Aktenberg zu gleicher Zeit an vier Ecken angezündet. Das Feuer brannte ununterbrochen drei Tage und drei Nächte.
Ich war mir bewusst, dass es eine historische Pflicht der Revolution ist, diese Aufräumungsarbeiten allerorts zu vollbringen. Denn in diesen Tausenden von Paragraphen und Gesetzen drücken sich ja jene kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus, die es der kleinen herrschenden Klasse erlauben, von der Ausbeutung der breiten Massen zu leben. Die Revolution muss schon bei ihren ersten Schritten die »Gesetzestafeln« der alten Ordnung zerstören. Die große, allgemeine Umwälzung ist gewiss kein einmaliger Vorgang, sondern ein langwieriger Prozess, in dem solche einzelnen Aktionen zur Störung der bürgerlichen Ordnung und ihres »Rechtes«, wie unsere Aktenverbrennung, symbolische Bedeutung haben.

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