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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Die verwundbare Stelle des Strafvollzugs - Mein Kampf beginnt

Ich stellte bei der Anstaltsleitung den Antrag, den Gefangenen aus meiner Zelle herauszunehmen, da er mir mit dem Erzählen seiner Hochstapeleien auf die Nerven falle. Trotzdem blieb der Denunziant, und ich musste zu einem radikalen Mittel greifen, um seine Entfernung zu erzwingen. Jedes Mal, wenn die Zelle früh, mittags oder abends aufgeschlossen wurde, um die Kübel hinauszustellen und Essen und Wasser hereinzunehmen, lief ich mit meiner Essschüssel in der Hand schnell aus der Zelle, setzte mich auf die Steinfliesen des langen Zellenganges und weigerte mich, wieder in die Zelle hineinzugehen, wenn der Gefangene nicht sofort entfernt werde. Die Beamten mussten mich täglich ein halbes Dutzend Mal in die Zelle hineintragen, und jedes Mal, wenn sie mich anpackten, begann ich mit lauter, in den Gängen furchtbar schallender Stimme revolutionäre Verse zu rezitieren.
Diesen Obstruktionskampf führte ich fast zwei Wochen lang, bis die Beamten es satt bekamen und dem Direktor erklärten, sie könnten das nicht mehr mitmachen. Daraufhin wurde der Gefangene endlich in eine andere Zelle verlegt.
Eine Zuchthausverwaltung kann einen geordneten Strafvollzug nur dann durchführen, wenn absolute Ruhe, das heißt Kirchhofsruhe, in der Anstalt herrscht. Jede, auch die kleinste Störung im Ablauf der schematischen Tageseinteilung und jede Unruhe unter den Gefangenen hemmt das Räderwerk der Strafvollzugsmaschine. Eine planmä­ßige, überlegte und mit zäher Ausdauer durchgeführte Störung der Anstaltsruhe wirkt wie in das Getriebe eines Dieselmotors geschütteter Sand. Das tägliche und mit aller Lungenkraft betriebene Hinausschreien der aufgespeicherten Empörung und Erbitterung aus der Zelle in die weiten Zuchthausgänge stört die Ruhe und »Ordnung« im steinernen Riesensarge. Das ist die verwundbare Stelle des Strafvollzugs, seine Achillesverse. Gegen diese Stelle musste ich meinen Obstruktionskampf richten, wenn ich die Behörden zwingen wollte, mich in ein anderes Zuchthaus zu bringen.
Mitten in der Nacht begann ich zu obstruieren. Mit überlauter Stimme deklamierte ich aus dem Zellenfenster in den Hof hinaus alle revolutionären Verse und Lieder, die ich auswendig konnte. Dieses Brüllen in die unheimliche Stille einer Zuchthausnacht hinein wirkte wie eine ansteckende Krankheit. Ein Teil der aufgeschreckten Gefangenen begann mitzubrüllen, die anderen schimpften über die nächtliche Störung. Sie trommelten mit Schemeln wie besessen an die Zellentüren. Aufgeregt liefen die wenigen Nachtaufseher in den Gängen umher, klopften an die Türen, geboten Ruhe, aber kein Mensch kümmerte sich darum, am allerwenigsten ich. Ich hatte den Kampf aufgenommen und musste ihn durchhalten, bis die Anstaltsleitung oder das durch sie informierte Ministerium mein Verlangen, in eine andere Anstalt überführt zu werden, erfüllte. Die Zwangsmaßnahmen und Strafen, die in Verfolg meiner Obstruktion gegen mich angewandt wurden, durften mich nicht schrecken.
Der Arzt hatte inzwischen meine Unterbringung in das Anstaltslazarett veranlasst, da ich nach dem Hungerstreik und durch den Nervenzusammenbruch sehr geschwächt war. Ich konnte nicht von der Pritsche bis zum Kübel gehen - kaum zwei Schritte -, ohne dass ich aus Schwäche zusammenbrach. Monatelang musste ich während der Freistunde unten im Hof auf einer Pritsche liegen - auch im Winter-, weil ich nicht gehen konnte. Trotzdem setzte ich meine Obstruktion auch im Lazarett fort.
Der Versuch des Direktors, mich durch Einsperrung in die Tobzelle mürbe und gefügig zu machen, war bereits dreimal gescheitert. Er wendete nunmehr andere Mittel an.
In der Krankenzelle, in der ich mit zwei anderen Gefangenen untergebracht war, befanden sich vier Fenster. Der Direktor ließ drei davon - ausgerechnet die Sonnenseite - zumauern. Die Zelle wurde dadurch sehr dunkel und kalt.
Direkt unter dieser Krankenzelle befanden sich die beiden gefürchteten Folterkammer-Tobzellen.
Sie waren immer besetzt. Nur der Fußboden trennte mich von den Gefangenen, die in diesen Löchern genauso wie vorher ich misshandelt wurden. Ich wusste, wie die Eigenart der Tobzellen, wie die Stickluft in ihnen auf Menschen wirkte. Nachts, aber auch am Tag, drangen Schreien, Wimmern und verzweifeltes Klopfen herauf.
Für gewöhnlich durften in die Tobzellen nur solche Gefangenen gesperrt werden, die wirklich tobten. Aber Scheidges hielt sich in keinem Fall an Vorschriften gebunden. Er sperrte zweiundfünfzig Tage lang einen jungen Gefangenen in die Tobzelle, der nie getobt und nichts getan hatte, was nach den Bestimmungen des Strafvollzugs die Maßnahme des Direktors rechtfertigte. Der Direktor wollte von dem Gefangenen ein Geständnis erpressen über Vorgänge in der Anstalt. Während der vielen Wochen durfte er nicht ein einziges Mal aus der Zelle heraus und konnte an keiner Freistunde teilnehmen.
Ein anderer Gefangener namens Schuffenhauer musste sechs Wochen nackend in der Tobzelle zubringen. Seine Stimme klang schon nicht mehr menschlich. Tag und Nacht klang markdurchdringendes Stöhnen aus der Zelle.
Tragisch war das Schicksal eines jungen ehemaligen Frontsoldaten. Der hatte 1918 während eines Urlaubs für seine Frau und sein Kind ein Pfund Butter gekauft. Auf dem Bahnhof nahm ihm ein den Schleichhandel kontrollierender Gendarm die Butter ab. In seiner großen Erregung darüber schoss der Urlauber den Gendarmen mit einer Armeepistole nieder. Die ihm zudiktierte lebenslängliche Zuchthausstrafe empfand er als viel zu hart und grausam für seine Tat. Er versuchte immer wieder zu fliehen. Dadurch kam auch er wochenlang in die Tobzelle. Nach kurzer Zeit war aus dem vorher gesunden, blühenden Menschen ein Wrack geworden.
Schlimm waren die sanitären Verhältnisse in der Anstalt. Ein schwer syphilitischer Gefangener, dessen Gesicht und Hände mit ekelerregendem Ausschlag bedeckt waren, wurde zur Essenverteilung verwendet. Erst als vier Gefangene die Entgegennahme des Essens aus seinen Händen verweigerten und lieber hungerten, veranlasste die Verwaltung die Entfernung des Syphilitikers.
In der Strafanstalt waren Dutzende von geschlechtskranken Gefangenen. In bestimmten Zwischenräumen wurden sie dem Arzt vorgeführt und erhielten von ihm Spritzen, Medikamente und frische Binden. Die alten, mit Eiter getränkten Binden wuschen die Kalfaktoren nur oberflächlich - meist nur mit kaltem Wasser - in der Lazarettbadewanne, in der auch ich während meiner Unterbringung im Lazarett baden musste. Die »gewaschenen« Mullbinden wurden an kreuz und quer laufenden Leinen in der Badezelle zum Trocknen aufgehängt. Es geschah oft, dass in das frisch eingelassene Badewasser Tropfen von den Binden fielen.
Meinen Obstruktionskampf führte ich länger als sechs Monate durch. Der Direktor erfand immer neue Gegenmaßnahmen; er ordnete an, dass an der
Außenseite des einzigen noch nicht zugemauerten Fensters der Lazarettzelle ein dicker Vorhang aus einer Reihe zusammengenähter Wolldecken angebracht wurde. Sobald ich mit meiner Obstruktion in der Zelle begann, ließ ein Aufseher den dicken, schalldichten Vorhang herunter, so dass die Zelle dunkel wurde und kein Laut nach außen dringen konnte. Aber bald hatte ich etwas entdeckt, wodurch ich diese Maßnahme des Direktors unwirksam machte. Sofort, wenn der Vorhang fiel, nahm ich einen Zellenbesen, klemmte ihn zwischen Fenster und Vorhang, so dass eine breite Öffnung entstand; dadurch erhielt die Zelle etwas Tageslicht, und der Schall meiner laut rezitierten Verse drang wie vorher bis in die entferntesten Räume der Anstalt, ja bis hinein in die Straßen der Stadt Münster. Große Menschenmassen sammelten sich in der Nähe des Zuchthauses. Die einen schrieen und schimpften, man solle mich aufhängen, die anderen sympathisierten mit mir.
Nachts patrouillierten im Hof vor meinem Zellenfenster Schutzpolizisten. Kurz nach meiner Einlieferung in Münster war ein Kommando von fünfundzwanzig Mann Schupo in die Anstalt gelegt worden, nur zu dem Zweck - wie der Direktor selbst sagte -, mich zu bewachen und zu verhindern, dass ich entfliehe. Die Sipo-Wachtposten pfiffen mitten in der Nacht oder ganz früh am Morgen vor meinem Zellenfenster ostentativ den »Fridericus Rex« und »Heil dir im Siegerkranz«. Als Gegenmaßnahme arrangierte ich mit den beiden anderen Lazarettinsassen einen Sprechchor, an dem sich bald Hunderte von anderen Gefangenen beteiligten. Jedes Mal, wenn die Sipo ihre Heldenlieder anstimmte, riefen wir Gefangenen im Sprechchor: »Es kommt der Tag der Freiheit und der Rache, dann werden wir die Richter sein.«
Eines Tages wurde vor meinem Zellenfenster ein Gerüst aufgebaut. Die Vorbereitungen ließen darauf schließen, dass nun auch das letzte Fenster zugemauert werden sollte. Das geschah zwar nicht, aber der Direktor hatte, um meiner Obstruktion zu begegnen, einen neuen Schlag gegen mich ausgedacht. Er ließ am Fenster durch Maurer und Schlosser einen ungemein dicken und festen Laden anbringen und an diesem eine Vorrichtung, die es dem Aufseher ermöglichte, jederzeit durch einen kleinen Handgriff die Zelle hermetisch abzuschließen, so dass nicht ein Lufthauch und nicht der kleinste Lichtstrahl hereinkonnte. Der Direktor war überzeugt, wie er sich ausdrückte, dass diesmal mein Widerstand unbedingt gebrochen werden würde. Er brachte es tatsächlich fertig, meine zwei Leidensgenossen und mich tagelang in der vollkommen finsteren Zelle zu lassen, die nicht gelüftet werden konnte. Ich fürchtete, der Direktor werde diesmal Sieger bleiben, ich fand nichts, womit ich seinen Hieb hätte parieren können. Nach längerem Suchen kam mir ein Einfall, durch den ich den Direktor schachmatt setzte. Als nach tagelanger, hermetischer Abschließung der Zelle von Luft und Licht der schwere, torähnliche Laden für einen kurzen Augenblick geöffnet wurde - der Arzt hatte das vom Direktor verlangt, damit wir nicht erstickten - und nach kurzer Zeit wieder geschlossen werden sollte, steckte ich schnell meinen Holzpantoffel zwischen den Laden und den Fenstersims. Der Aufseher konnte von unten nicht sehen, woran es lag, dass der Laden, der mittels eines Drahtseils nur vom Hof aus geöffnet und geschlossen werden konnte, nicht wie sonst sofort in das Schloss einschnappte. Er holte eine Leiter und stieg herauf, um nachzusehen. Nun zog ich schnell den Pantoffel wieder zurück. Der Beamte kletterte hinunter, versuchte erneut den Laden zu schließen, aber schon hatte ich den Pantoffel wieder dazwischen.
Dieses Katze- und Mausspiel ging so lange, bis der Direktor einsah, dass alle seine Zwangsmaßnahmen zwecklos waren, da ich stets eine Gegenmaßnahme fand.
Das Ministerium sandte einen zweiten Direktor ins Zuchthaus Münster, den Staatsanwaltschaftsrat Dr. Hauptvogel. Er behandelte nicht nur mich, sondern auch alle anderen Gefangenen viel menschlicher. Direktor Scheidges war zwar noch auf seinem Posten als erster Direktor, meine Anträge und Beschwerden wurden aber von Dr. Hauptvogel bearbeitet. Obwohl Staatsanwalt, war er doch nach ganz kurzer Zeit bei allen Gefangenen sehr geachtet. Mir fiel es schwer, in seiner Anwesenheit die Obstruktion durchzuführen. Aber ich musste mit allen Mitteln versuchen, von Münster fortzukommen, da infolge der großen Entfernung von Berlin meine Bemühungen um die Wiederaufnahme meines Prozesses sehr erschwert wurden, weil Zeitverlust und Reisekosten der Anwälte zu groß waren.
Die Vollzugsbehörde begriff endlich, dass es die allerhöchste Zeit war, mich von Münster wegzubringen.
Meine Obstruktion hatte alle anderen Gefangenen angesteckt, sie obstruierten mit, und Hunderte von Gefangenen schrieen die ganze Nacht hindurch nur: »Kohldampf!«, »Hunger!« Es kam zu einem regelrechten Aufstand im Zuchthaus.

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