Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
http://nemesis.marxists.org

Qualen der Einsamkeit und ihre Folgen

Die älteren Beamten, die schon unter der Monarchie Aufseher waren, sind fast alle wortkarg und verknöchert. Ihnen sitzt noch das absolute Sprechverbot, wie es unter der Monarchie in den Anstalten herrschte, in den Knochen. Es geschieht oft, dass ein Gefangener selbst auf eine rein sachliche Frage keine Antwort erhält.
Eine in solcher Form durchgeführte Einzelhaft zwingt den Gefangenen, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen.
Er denkt nur an seine Lage, an sein Leben und seine Entbehrungen, an seine Wünsche und Hoffnungen. Die Monotonie der Zuchthausarbeit bedeutet für ihn keine Ablenkung und Zerstreuung.
Die Bücher der Anstaltsbibliothek sind ganz selten geeignet, dem Gefangenen geistige Anregung und Ablenkung zu bieten. Aus der Bücherei des Zuchthauses Münster z. B. erhielt ich im Laufe von vierzehn Monaten nicht ein einziges Buch, aus dem ein Mensch etwas hätte lernen können, kein Buch, das auch nur irgendwie interessant und unterhaltend gewesen wäre. In Breslau gab es fast nur Romane, darunter nur wenige gute. Die armselige Bibliothek des Zuchthauses Groß-Strehlitz erhielt während der Jahre meines Aufenthalts nur 20 neue Bücher (für 600 bis 700 Gefangene), darunter allerdings ein paar wertvolle Werke, die aber kaum in die Hände der Gefangenen kamen, da sie erst die Runde unter den Beamten machten.
Zeitungen erhielten die wenigsten Gefangenen. In den Zuchthäusern Münster, Groß-Strehlitz und Sonnenburg und ebenso im Gefängnis Breslau, die für je 600 bis 700 Gefangene eingerichtet sind, bekamen nur 20 bis 30 Gefangene Zeitungen. Es ist streng verboten, dass ein Gefangener seine Zeitung an einen anderen Gefangenen weitergibt. Im allgemeinen dürfen nur solche Gefangene sich Zeitungen halten, die so viel Arbeitsverdienst haben, dass sie davon ihre Zeitungen bezahlen können. Der durchschnittliche Arbeitsverdienst eines Gefangenen beträgt im Monat 1,92 Mark. Davon darf nur die Hälfte für den Gefangenen verwendet werden. Für 96 Pfennige im Monat aber wird heute keine Tageszeitung geliefert. Und außerdem müssen ja davon auch das Briefporto für den Gefangenen bestritten werden und andere Dinge, wie Zahnputzmittel, Seife u. a. Die wenigen Zeitungen aber, die in die Anstalt gelangen, sind einer doppelten und dreifachen Zensur unterworfen, die für die Gefangenen eine Kette von Aufregungen bedeutet. Kommunistische Zeitungen dürfen, wie schon erwähnt, nicht gelesen werden. Aber auch die bürgerlichen Zeitungen, wie Zentrumsblätter, demokratische Blätter, gelangen in den Zuchthäusern nur verstümmelt in die Hände ihrer Bezieher. In Breslau und Münster wurden von der Direktion oder von den Geistlichen einfach große Stücke herausgeschnitten. In Sonnenburg wurden halbe oder ganze Seiten einfach geschwärzt und dadurch unleserlich gemacht, darunter auch die Berliner Illustrierte Zeitung. Selbst die gedruckten Berichte über die Reichstags- und Landtagssitzungen wurden mir und anderen Gefangenen vorenthalten oder nur verstümmelt und geschwärzt ausgehändigt.
In einigen preußischen Anstalten wird für wenige Pfennige eine in einem Zuchthause (zur Zeit im Zuchthaus Wohlau) gedruckte Wochenzeitung an die Gefangenen geliefert: »Der Leuchtturm«. Ihr Inhalt ist nur ein magerer Ersatz für das, was man unter Zeitung versteht. Es wird darin viel vom »lieben Gott«, von Sünde und Schuld und »verdienter Strafe« geschrieben. Anpassungsfähige Gefangene laden in dieser Zeitung selbstgemachte sentimentale Gedichte ab, in denen sie die Zuchthausdirektoren und Geistlichen schwülstig verherrlichen.
Nur um nach Erledigung des verhassten Arbeitspensums irgendeine Beschäftigung zu haben, verfällt ein Teil der Gefangenen auf die sonderbarsten Einfälle. In Groß-Strehlitz - wohin ich nach Breslau kam - war es vielen Gefangenen gestattet, sich von ihren Angehörigen ein Musikinstrument bringen zu lassen. Sie durften an den Sonntagen darauf spielen. In Münster, Breslau und Sonnenburg war das aber nicht gestattet.
In Sonnenburg befand sich ein Gefangener, der die trostlose Einsamkeit der Zellenhaft dadurch zu bannen suchte, dass er sich aus Holzabfällen, die er in der Freistunde im Hof verstohlen aufgelesen hatte, eine kleine Geige zimmerte und darauf mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit spielte. Der Aufseher nahm ihm aber die mit vieler Geduld und Mühe selbstverfertigte Geige weg und vernichtete sie. Und sooft es dem Gefangenen auch gelang, sich aus neu zusammengesuchten Abfällen wieder ein Instrument herzustellen (meines Wissens mehr als zehnmal), immer wieder nahm der Aufseher es bei der Zellenrevision weg.
In Breslau hatte sich der Gefangene Teindl, von Beruf Klempner, aus altem Zeitungspapier ein Schachbrett und Schachfiguren angefertigt. Er war eine Art Landstreicherphilosoph, der in sein Tagebuch kleine Aufsätze über ernste Probleme schrieb; ein ruhiger und bescheidener Mensch, der den Beamten nicht viel zu schaffen machte. Aber sein selbstverfertigtes Schachbrett erregte doch den Unwillen eines Aufsehers, der das Schachbrett nahm und vor den Augen des Gefangenen zerriss. Darüber geriet Teindl, ein sonst nicht aus der Ruhe zu bringender Mensch, in starke Erregung und ließ sich hinreißen, dem Aufseher ein paar heftige Worte zu sagen. Nun wurde er obendrein noch vom Aufseher wegen ungebührlichen Benehmens angezeigt und am nächsten Tag dem Direktor zur Bestrafung vorgeführt. Der Direktor war noch vor wenigen Monaten katholischer Geistlicher in einer anderen Anstalt gewesen und verfügte nicht über die geringste Befähigung, Gefangene zu behandeln. Er schrie den um sein Schachbrett gebrachten Übeltäter an: »Wie können Sie es wagen, sich dem Beamten gegenüber ungebührlich zu benehmen? Ich bestrafe Sie dafür mit sieben Tagen Arrest!« Da erwiderte ihm der Landstreicher: »Du kannst mich siebenmal am Arsch lecken.« Der Direktor, wütend über diese Frechheit und mit keinerlei Humor beschwert, donnerte ihn an: »Jetzt bestrafe ich Sie mit vierzehn Tagen Arrest.« Da war die Antwort. »Du kannst mich vierzehnmal am Arsch lecken!« Darauf brüllte der Direktor fuchsteufelswild: »Herr Hauptwachtmeister, den Mann bestrafe ich mit vier Wochen Arrest!« (Das war das höchste Strafmaß.) Nun rief der gefangene Philosoph: »Du kannst mich vier Wochen lang am Arsch lecken!« Die Szene wegen des vernichteten Schachspiels endete damit, dass der Direktor den Gefangenen aus dem Zimmer hinauswerfen ließ.
Ein anderer Gefangener, seines Zeichens Zuckerbäcker, versuchte auf folgende originelle Weise, ein wenig Abwechslung in sein freudloses Kerkerdasein zu bringen. Er wusste, dass der vom katholischen Geistlichen zum Zuchthausdirektor avancierte Mann sehr fromm war und großen Wert darauf legte, dass ein Gefangener seine Religiosität möglichst sichtbar bekundete. Also verschaffte sich der Zuckerbäcker vier Rosenkränze; einen hängte er über seine Schlafpritsche, den anderen über den winzigen Zellentisch, den dritten um den Hals, den vierten wickelte er sich andachtsvoll um die Hände. Sooft der Direktor die Zelle betrat, ließ der Gefangene mit. tiefernster, trauriger Miene die Perlen des Rosenkranzes von der einen Hand in die andere gleiten. Die Anschaffung der Rosenkränze war die strategische Vorbereitung für weitergehende Versuche.
Eines Tages fragte der Zuckerbäcker den mit mir in die Hofstunde gehenden Gefangenen, ob der Direktor auf Tränen reagiere. Ja, er solle ihm nur etwas vorweinen, dann erreiche er bei ihm alles, war die Antwort.
Am nächsten Tag ließ sich der eifrige Rosenkranzbeter frühzeitig beim Direktor melden. Als man ihn in die Direktion führte, wankte er tränen­überströmt, mit in den Rosenkranz verkrampften Händen, in das Zimmer und jammerte zum Steinerweichen: »Herr Direktor, meiner Seele Seligkeit hängt davon ab, dass ich nur auf eine halbe Stunde mal zu meiner Frau kann. Ich habe in dieser Nacht einen furchtbaren Traum gehabt und kann meine Seelenruhe nicht wieder finden, bevor ich nicht meine Frau gesehen habe.« Der Direktor, erschüttert von dieser Szene, antwortete: »Jaja, jaja, gehen Sie 'raus, Sie dürfen heute noch zu Ihrer Frau.« Zwei Stunden später ging der Gefangene strahlend - in Begleitung eines Beamten - zu seiner in der Stadt wohnenden Frau. Der Beamte lieferte den ungewöhnlich dicken Zuckerbäcker vorschriftsmäßig und rechtzeitig in der Anstalt wieder ab. Aber beim nächsten Ausgang - der gerissene Bursche wiederholte mit Erfolg die tränenreichen Besuche beim Direktor - entwischte er dem Aufseher und wurde nie mehr gesehen.
Nicht alle Gefangenen konnten auf diese oder andere Weise die graue Eintönigkeit ihrer Einzelhaft abkürzen. Die furchtbaren Wirkungen jahrelanger Zellenhaft spürten die Gefangenen, die in den fünf, zehn oder fünfzehn Jahren ihrer Haft nicht einen einzigen Besuch empfingen, weil sich ihre Angehörigen von ihnen losgesagt hatten oder weil sie so arm waren, dass sie die hohen Kosten einer tagelangen Reise nicht aufbringen konnten. Die wenigen Gefangenen aber, die das Glück hatten, jedes Vierteljahr oder jedes Jahr einmal von ihren Angehörigen besucht zu werden, erlebten daran keine reine Freude.
Menschen außerhalb der Zuchthausmauern können sich nicht vorstellen, was für eine Folter der Seele und der Nerven es für den Gefangenen bedeutet, mit seinen Angehörigen nur unter Aufsicht von Aufsehern oder Irrenwärtern sprechen zu können. In Breslau durften die Gefangenen gewöhnlich 10 bis 20 Minuten mit ihren Angehörigen sprechen. Aber es geschah sehr oft, dass diese Sprechzeit noch verkürzt wurde, es kam oft vor, dass nicht genügend Beamte zur Beaufsichtigung von Besuchen vorhanden waren, dann wurden die Sprechzeiten auf fünf Minuten und noch weniger verkürzt.
Man muss sich vorstellen, was es heißt, eine Reise von Hannover oder von Berlin nach Breslau zu machen, eine Reise, die hin und zurück nahezu hundert Mark kostet, um dann knapp ein paar Minuten mit einem Menschen zu sprechen, den man monate- oder jahrelang nicht gesehen hat. Und selbst diese kurze Spanne Zeit nicht ohne Aufsicht, sondern in Gegenwart von einem, oft zwei bis drei Beamten, die auf jedes Wort achten, jeden zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen gewechselten Blick oder Händedruck kontrollieren und beargwöhnen.
Fast jeder Gefangene, der den angekündigten Besuch seiner Angehörigen erwartet, befindet sich in den Stunden und Tagen vor ihrer Ankunft in einer unbeschreiblichen Spannung. Hunderte von Fragen fallen ihm ein, und je näher die Besuchsstunde rückt, um so aufgeregter wird er. Steht er dann endlich im Besuchszimmer, von seinen Angehörigen durch eine breite Holzbarriere getrennt, dann bringt er vor innerer Erregung fast kein Wort über die Lippen.
Noch ehe er richtig zur Besinnung kommt, ist die Besuchszeit abgelaufen, kaum ein Gruß getauscht, kaum ein Wort gewechselt und von all den vielen Fragen nicht eine beantwortet. Nur in den allerseltensten Fällen wird Sprecherlaubnis für eine halbe oder ganze Stunde erteilt, aber auch dann bildet die Gegenwart der Beamten eine so starke Hemmung, sowohl für den Gefangenen als auch für den Angehörigen, dass an eine offene, alle Sorgen und Familienangelegenheiten behandelnde Aussprache nicht zu denken ist. Unter solchen Umständen muss eine Entfremdung zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen eintreten. Ehen, Freundschaften, Familienbeziehungen - der letzte Halt, der den Gefangenen während und nach Ablauf der Strafe an die Gesellschaft bindet -werden zerrüttet und zerstört. Das wissen alle Zuchthausdirektoren und Aufseher sehr gut.
Ich sah viele Gefangene, die tagelang vor und nach solchen Besuchen ganz kopflos waren und sich mit Selbstmordgedanken oder Fluchtplänen trugen. Hinzu kommt noch, dass manche Beamte die internen Familienangelegenheiten, die zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen besprochen werden, nicht für sich behalten, sondern weitererzählen. Ich selbst habe bei meinen Besuchen in Breslau erlebt, dass Aufsichtsbeamte die zwischen mir und meiner Frau besprochene Ehescheidungsangelegenheit in der ganzen Anstalt erzählten. Meine Frau hatte sich damals - überzeugt, dass ich nie mehr in die Freiheit zurückkehren werde - einem andern Menschen angeschlossen. Wir ließen uns daher im Oktober 1923 scheiden.
Ein Gefangener namens Plamp, der in Sonnenburg auf meiner Station Kalfaktor war, erzählte mir und belegte es mit den Prozessakten, dass ein Aufseher, der bei den Besuchen der Frau des Gefangenen in der Anstalt zugegen war, sich an die Frau herangemacht und unter der Vorspiegelung, er könne etwas für ihren Mann tun, bei ihr erreicht hatte, dass sie sich ihm hingab. Der Gefangene, der davon Wind bekam, brach eines Nachts aus der Anstalt aus, um den Aufseher bei seiner Frau zu überraschen. Durch diesen Ausbruch holte sich Plamp noch ein paar Jahre Zuchthaus hinzu. Der Beamte wurde zwar später von dieser Anstalt versetzt, aber die Ehe war zertrümmert.
Alle Verbesserungen des modernen Strafvollzugs und alle Erleichterungen, die den Gefangenen gewährt werden, können nie und nimmer verhindern, dass der Gefangene durch jahrelange Haft körperlichen und geistigen Schaden nimmt. Vor allem, solange es dem Gefangenen nicht ermöglicht wird, mit seinen Angehörigen, besonders mit seiner Frau, bei den Besuchen ohne Aufsicht zu sein.
Die physischen und psychischen Verheerungen, die als Folge erzwungener sexueller Enthaltsamkeit unter den Gefangenen auftreten, sind allen verantwortlichen Stellen genau bekannt.
Die Gefangenen verfallen auf die sonderbarsten Einfälle, um sich abzureagieren. Einer schickte an seine Frau einen Kassiber und bat, dass sie ihm Haare von ihrem Geschlechtsteil bei ihrem nächsten Besuch heimlich zustecken solle. Die Frau konnte ihn in den nächsten sechs Monaten nicht besuchen, weil ihr das Reisegeld fehlte. Sie beging die Unvorsichtigkeit, ihrem Mann das Gewünschte in einem Brief zu schicken, der die Zensur passierte. Der Anstaltsgeistliche, durch dessen Hände alle Briefe an die Gefangenen gingen, war entsetzt, als er den merkwürdigen Inhalt und das dazugehörige Begleitschreiben fand. Er ließ sich den Gefangenen vorführen und hielt ihm eine stundenlange empörte Moralpauke. Außerdem sorgte der Geistliche dafür, dass der Gefangene wegen »Unsittlichkeit« mit Arrest bestraft wurde und für lange Zeit keinen Besuch und keine Briefe bekam.
Sehr beliebt und begehrt waren die von einigen Gefangenen mit seltener Kunstfertigkeit aus Räucherspeck und Haaren nachgeahmten weiblichen Geschlechtsteile. Sie fanden reißenden Absatz und wurden hoch bezahlt: mit Seife, Kautabak, Lebensmitteln oder Zahnpasta.
Ein schwerkranker Gefangener gab monatelang den ihm vom Arzt verordneten halben Liter Milch und die 30 Gramm Fettzulage an einen in der Anstaltsbäckerei beschäftigten Gefangenen ab, damit er ihm aus Teig ein weibliches Geschlechtsteil mit Unterleib und Schenkeln anfertige. Das Produkt war ein kleines Meisterwerk und fand ungeteilte Bewunderung und Anerkennung. Das für diese Zwecke verwendete Mehl wurde den Brotrationen für die Gefangenen abgezwackt.
Nicht wenige Gefangene machten sich aus zusammengelesenen Kleiderfetzen Miniaturfrauen, die sie mit aus zusammengebettelten Taschentüchern und anderen Stoffen hergestellten Höschen schmückten.
Mit den Speck-, Teig- und Stofffrauen bzw. Geschlechtsteilen befriedigten die Gefangenen in den langen schlaflosen Zuchthausnächten ihre misshandelten und doch so natürlichen Triebe.
Mein Begleiter in der Hofstunde, ein ganz junger Mensch, gestand mir, sein höchster Genuss sei, sich nachts eine Fliege, deren Flügel er abreiße, in seine Harnröhre zu pressen.
Der junge Mensch, der mit siebzehn Jahren wegen Fahnenflucht, Landesverrat und Entwendung eines Maschinengewehrs zu neun Jahren verurteilt worden war - er hatte bereits fünf Jahre verbüßt -, litt schwer unter der erzwungenen sexuellen Enthaltsamkeit. Alles, was ihm über geschlechtliche Perversitäten erzählt wurde, nahm er begierig auf und wollte, wie er sagte, alle diese Kunststücke nach seiner Freilassung ausprobieren. Durch täglich fünf- bis sechsmaliges Onanieren war er sehr heruntergekommen, war kaum noch ein Schatten seiner selbst.
Mit guten Ratschlägen und Ermahnungen war dem armen Teufel nicht zu helfen.
Ich erzählte ihm, wie ich nach langen qualvollen Kämpfen vom Onanieren losgekommen sei und es jetzt nur noch in monatelangen Zwischenräumen täte, damit die Drüsen nicht verdorrten und die Geschlechtsorgane ihre Funktionen nicht ganz einstellten.
Mir war bekannt, dass Gefangene infolge jahrelanger gewaltsamer Enthaltsamkeit absolut impotent geworden waren.
Ich gab meinem jungen Begleiter das Buch »Mein System« (Gymnastik von Müller) und bat ihn, das zu versuchen, was mir geholfen hatte, meine Sexualität zu regulieren. Der Lazaretthauptwachtmeister und der Arzt prophezeiten ihm, dass er sich bestimmt noch totonanieren werde. Ich sagte dem Beamten, er möge sich seine Vorwürfe sparen und lieber dafür eintreten, dass den Gefangenen durch den Strafvollzug nicht die ganze Mannbarkeit zerstört wird.
Ich selbst litt kaum weniger als die anderen Gefangenen unter der erzwungenen Askese. Der ganze Körper glühte wie höllisches Feuer im Verlangen nach einer Frau. Um nicht verrückt zu werden in dieser sehnsüchtigen Qual, sprang ich oft des Nachts um ein, zwei oder drei Uhr von der Pritsche und goss einen fünf Liter fassenden Steinkrug mit eiskaltem Wasser über meinen Körper. Dann rieb ich mich trocken, wischte den Fußboden auf und machte anschließend zwei bis drei Stunden lang gymnastische Übungen.
Ein Kapitel für sich ist die in den Zuchthäusern stark verbreitete Homosexualität.
Gerade durch lange Einzelhaft, aber auch durch die Gemeinschaftshaft in den Zuchthäusern wird die bei vielen Männern vielleicht latent gewesene Gleichgeschlechtlichkeit in den Vordergrund gedrängt. Aus einer harmlosen Freundschaft, die mit einem verstohlen während der Freistunde gewechselten Gruß beginnt, entwickelt sich in nicht wenigen Fällen ein festes Verhältnis. Diese Entwicklung wird dadurch begünstigt, dass in den meisten Anstalten gerade während der Wintermonate eine Überfüllung herrscht und die Verwaltung daher gezwungen ist, drei Männer in eine nur für einen Gefangenen bestimmte Zelle zu sperren. Besonders in Münster und Breslau gab es viele Einzelzellen, in denen allen hygienischen und amtlichen Vorschriften zum Hohn drei Gefangene untergebracht wurden, die durch das tägliche enge Beisammensein, das Beieinanderliegen in den langen Nächten, direkt zur Homosexualität gereizt wurden, auch wenn nur eine ganz schwache Veranlagung oder gar keine vorhanden war. Es gibt Gefangene, die es anfänglich nur aus Neugierde versuchen, nachher aber Gefallen daran finden und nicht wieder davon lassen.
Das gleichgeschlechtliche Verhältnis in den Anstalten führte nicht selten zu direkten Tragödien. In Groß-Strehlitz war ein Gefangener namens Baude, der einen jungen Freund fand, mit dem er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zärtliche Blicke und Worte tauschte. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging dahin, mit seinem Freund zusammen in eine Zelle zu kommen; nach monatelangen Bemühungen gelang ihm das auch. Aber sein Glück war nur von kurzer Dauer, denn der dritte Mann in der Zelle fand auch Gefallen an dem jungen Menschen, und nun begann ein mit allen Mitteln geführter Kampf.
Die Verwaltung sah sich gezwungen, die drei wieder in Einzelzellen zu legen. Eines Tages, als die Station, auf der die drei nun in Einzelzellen lagen, zur Freistunde ging, stellte sich Baude beim Aus- oder Rückmarsch- vom Aufseher unbemerkt - in eine Nische, wartete, bis sein weit hinter ihm laufender Nebenbuhler vorbeikam, und schlug dem Nichtsahnenden mit einem schweren Holzklotz den Schädel halb ein. Baude erhielt dafür eine empfindliche Hausstrafe, die ihn vollends verwirrte und noch mehr verbitterte. Er schrie in der Zelle stundenlang nach seinem Freund und bat die Direktion flehentlichst, man möge ihn doch mit ihm zusammenlassen. Sein Wunsch wurde nicht erfüllt, und darüber geriet er vollends in Verzweiflung. Eines Tages schrie er durchdringend aus der Zelle, man wolle ihn vergiften. Er klammerte sich mit den Händen an die Gitter des kleinen Fensters und weigerte sich, herabzusteigen.
Die Aufseher riefen ein paar Kalfaktoren zu Hilfe, obwohl das verboten war. Die packten Baude und schleppten ihn auf Geheiß der Aufseher in die Arrestzelle. Auf dem Weg dorthin und in der Arrestzelle wurde Baude schwer misshandelt und geschlagen; er erhängte sich noch in derselben Nacht.
In Groß-Strehlitz war ein Kalfaktor, der einen sehr wichtigen Vertrauensposten innehatte. Dieser Gefangene nahm sich einen jungen, wie ein Kind aussehenden Menschen zum Freund. Der Kalfaktor, der den ganzen Tag unbeaufsichtigt auf der Station herumlaufen konnte, da er den Gefangenen, die Schneiderarbeiten verrichteten, die hei­ßen Bügeleisen in die Zellen zu tragen hatte, verschaffte seinem Freund alle möglichen Erleichterungen und Vergünstigungen, gab ihm seine Lebensmittelration und war emsig bemüht, alle seine Wünsche zu erfüllen. Eines Tages wurde der Kalfaktor in der Zelle seines Freundes, die der Beamte gegen alle Vorschriften einen Augenblick unverschlossen gelassen hatte, beim homosexuellen Verkehr erwischt. Nun wurden die beiden durch Verlegung in verschiedene Stationen voneinander getrennt. Der Kalfaktor hatte aber einen so starken Einfluss auf die Beamten, dass es ihm nach kurzer Zeit wieder gelang, mit seinem Freund zusammenzukommen.
Die Beamten und viele Gefangene betrachteten die gleichgeschlechtliche Veranlagung als ein strafwürdiges, abscheuliches Verbrechen. Meine Versuche, den Beamten und einigen Gefangenen auseinanderzusetzen, dass diese Veranlagung gar nichts mit Verbrechen zu tun habe, dass es nur zu verwerfen sei, wenn ein Partner dem anderen Gewalt antue, stießen auf heftigsten Widerstand. Ich bat Erich Mühsam, er möge vermitteln, dass mir Magnus Hirschfeld eines seiner Werke sende. Hirschfeld hatte die Freundlichkeit, mir den ersten und später auch den zweiten Band seiner umfangreichen Arbeit: »Geschlechtskunde« zu schicken. Diese beiden Bände, um die sich sowohl die Beamten als auch die Gefangenen rissen, schafften in wenigen Wochen mehr Aufklärung, als ich es mit Worten in vielen Jahren vermocht hätte. Auch mir selbst brachten die Bücher von Hirschfeld erst volles Verständnis für die Naturbedingtheit der gleichgeschlechtlichen Veranlagung unter Männern und Frauen.
Ich habe seine Werke außer an die Beamten an etwa drei Dutzend Gefangene verliehen. Durch eine Umfrage stellte ich fest, dass mehr als die Hälfte durch diese Bücher vom täglich mehrmaligen Onanieren abkamen. Sie gewannen ihr Selbstvertrauen wieder und hatten sich so in der Gewalt, dass sie wochen- und monatelang auf die bisher im Übermaß betriebene Selbstbefriedigung verzichten konnten. Unter den Inspektionsbeamten und Aufsehern in den Zuchthäusern, die ich hintereinander kennen lernte, gab es ganz wenige, die menschliches Verstehen und Begreifen für die Gefangenenpsyche hatten. Unter den wenigen war der Anstaltslehrer Winkler in Breslau. Dieser gänzlich unpolitische Kopf hing mit allen Fasern seines Seins an - wie er sagte - Deutschlands großer Vergangenheit. Er liebte die Monarchie und ihre Träger, und es schmerzte ihn, wenn ich ihm gegenüber ein scharfes Wort über das frühere System äußerte.
Dieser Mann, der aus seiner Anhänglichkeit an längst gestürzte Götzen keinen Hehl machte, betreute alle Gefangenen ohne Ausnahme, auch die Kommunisten, und suchte unermüdlich das Los jedes einzelnen nach Kräften zu erleichtern. So mancher dankt seine vorzeitige Entlassung dem persönlichen Eintreten Winklers. Trotz der vielen und oft sehr bitteren Enttäuschungen, die er damit erlebte, verlor er seine Hilfsbereitschaft nicht. Die schweren Nackenschläge, die er erlitt, konnten ihn wohl erschüttern und oft recht traurig stimmen, aber er raffte sich immer wieder auf und half, wo er nur helfen konnte.
Er kämpfte jahrelang für die Entlassung eines jungen, früh gestrauchelten Menschen. Er verschaffte ihm eine Anstellung in der Stadt, noch ehe die Begnadigung erfolgte, versorgte ihn mit Kleidern und Wäsche, so dass der Gefangene, als die Begnadigung endlich eintraf, nicht obdach- und stellenlos dastand, sondern die Möglichkeit hatte, sich wieder emporzuarbeiten. Er schmiss die Arbeit aber sehr bald wieder hin, war eine Zeitlang stellungslos und beging dann Betrügereien und Fälschungen. Als Reisender für eine größere Maßschneiderei schrieb er fingierte Bestellungen, unter die er die Namen verschiedener Beamter aus der Strafanstalt setzte. Auch den Namen des Mannes, dem er so viel verdankte, fälschte er, und der Lehrer war nicht wenig erstaunt, als ihm eines Tages ein Anzug ins Haus gebracht wurde, der ihm nicht passte und den er nicht bestellt hatte, der aber sehr viel Geld kosten sollte. Es dauerte nur wenige Wochen, und der Mann saß wieder hinter Schloss und Riegel in seiner Zelle, aus der ihm der Lehrer zur Freiheit verholfen hatte.
Um dieselbe Zeit erlebte der Lehrer eine zweite große Enttäuschung. Ein Gefangener, ein früherer Bankbeamter, hatte wegen Unterschlagungen eine fünfjährige Strafe abzubüßen. Auch für ihn setzte sich der Lehrer ein und erreichte nach langen Bemühungen eine Reduzierung der Strafe; der Mann kehrte in die Freiheit zurück. Auch ihm war vorher eine Beschäftigung zugewiesen worden, die er nur wenige Wochen behielt. Bei seiner Entlassung aus der Anstalt hatte er einen großen Pack vorgedruckter Formulare mitgenommen, wie sie für die Bestellung von Lebensmitteln für die Anstalt vorgeschrieben waren. Auf diesen Bestellungen fälschte er den Namen des Ökonomieinspektors, mietete sich dann einen großen Wagen und holte von den der Anstalt verpflichteten Lieferanten mehrere Zentner Butter, Konserven und andere Lebensmittel, die er sofort unter der Hand verkaufte.
Der Schwindel wurde schon nach wenigen Tagen aufgedeckt, und auch dieser Gefangene kehrte wieder in seine Zelle zurück.
Das Gegenstück zur warmherzigen Menschlichkeit und inneren Anständigkeit des Lehrers bildete der Kasseninspektor, der unter den Gefangenen und auch unter den Beamten ungemein verhasst war und den Spitznamen »Grauer Fuchs« hatte. Er bevorzugte ein paar wohlhabende Gefangene, einen   Rittergutsbesitzer,   einen   schwerreichen
Breslauer Fabrikanten und einen Hochstapler. Da der Inspektor auch Direktorstellvertreter war, verschaffte er seinen Lieblingen alle nur denkbaren Vergünstigungen. Sie durften fünf Stunden lang Besuche bei sich haben, und er drückte gern die Augen zu, wenn sie bei dieser Gelegenheit Hundert- und auch Tausend-Markscheine in die Anstalt schmuggelten und sich damit durch die Vermittlung einiger Aufseher, die sie für sich gewannen, Lebensmittel, Rauchwaren und Alkohol kauften.
Bei einem so ausgedehnten Besuch, den der Kasseninspektor beaufsichtigen sollte, erhielt der Hochstapler eines Tages von seiner Freundin, der durch den Allensteiner Offiziersmordprozess berühmt gewordenen Frau Lüda, früher Frau Major Schönbeck, den Betrag von 2000 Mark zugesteckt. Diesen Betrag steckte er in seinen in der Hausvaterei stehenden Koffer mit Kleidern. Der Hochstapler durfte in der Anstalt seine goldene Uhr tragen, was sonst verboten war, ferner Manschetten, weiße Kragen und seine gelben Straßenschuhe.
Eines Tages fand er seinen Koffer erbrochen, das Geld war verschwunden. Die von ihm erstattete Anzeige hatte einen Erfolg, an den er wohl selbst nicht gedacht hatte. Denn sein Freund, der Kasseninspektor, und ein anderer Beamter wurden noch am selben Abend durch die Kriminalpolizei verhaftet.
Durch diese Verhaftung wurden umfangreiche Durchstechereien und Betrügereien aufgedeckt, in die der Inspektor verwickelt war. Er wurde seines
Amtes entsetzt, aber - soviel ich erfahren konnte - nicht weiter bestraft.
Der Inspektor war ein äußerst frommer Mann, der an keinem Sonntag versäumte, zur Kirche zu gehen. Er war Mitglied des Kirchenvorstandes in seiner Gemeinde und bekleidete noch eine ganze Reihe anderer Ehrenämter.
In Münster hatte ich einen früheren Staatsanwalt als Zuchthausinspektor, und bei meiner Ankunft in Breslau fand ich ebenfalls einen früheren Staatsanwalt als Direktor vor. Letzterer, ein Paragraphenmensch durch und durch, behandelte die Gefangenen verhältnismäßig korrekt. Er hielt sich strikt an die Bestimmungen, und es war mit ihm relativ gut auszukommen. Auch wenn man mit ihm scharfe Auseinandersetzungen hatte, blieb er durchaus sachlich und ließ sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. Gerade diese Gelassenheit und Gleichmäßigkeit seines Wesens erleichterte den Gefangenen den Umgang mit ihm. Sein Regiment war jedenfalls viel erträglicher als das seines Nachfolgers, des schon früher erwähnten katholischen Geistlichen.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur