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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Der Fall Heß

Am 7. Mai fand meine erste Gegenüberstellung mit der Zeugin Heß statt, der Frau des während des mitteldeutschen Aufstandes erschossenen Gutsbesitzers. Der Staatsanwalt hatte mir vorher nicht gesagt, dass an diesem Tage Frau Heß vernommen werden sollte.
Ich wurde morgens aus meiner Zelle in das Vernehmungszimmer geführt. Vor der Tür sah ich mehrere Zivilisten stehen, darunter auch eine Frau in Trauerkleidung, mit einem Schleier vor dem Gesicht. Die vier bis fünf Menschen, an denen ich dicht vorbeigehen musste, musterten mich sehr scharf.
Der bereits im Zimmer anwesende Staatsanwalt gab nach meinem Eintritt dem Justizwachtmeister den Auftrag, die draußen wartenden Zeugen hereinzurufen.
Die Tür ging auf, langsam wankte die schwarz gekleidete Frau über die Schwelle, schlug den Schleier zurück und warf beide Arme hoch. Unter krampfhaftem Schluchzen schrie sie laut und durchdringend, indem sie auf mich wies: »Das ist der Mörder meines Mannes!«
Über die Begrüßung war ich erstaunt. Im Augenblick wusste ich nicht, ob diese Szene Theater war oder ein Missverständnis. Ich hatte weder den Gutsbesitzer Heß erschossen noch einen Auftrag dazu gegeben, hatte überhaupt nichts mit der Erschießung zu tun.
Der Staatsanwalt trat zu der zusammenbrechenden, schluchzenden Frau, tröstete sie und redete ihr zu, sich zu beruhigen. Er versprach ihr, den Mörder ihres Mannes der wohlverdienten Strafe auszuliefern. Dann führte er die Zeugin um den Tisch herum und ließ sie auf einen Stuhl nieder. Frau Heß saß so, dass sie mein Gesicht in schärfster Beleuchtung sehen konnte.
Der Staatsanwalt stellte die Frage, ob sie mich bestimmt als den Mörder ihres Mannes wieder erkenne. Die Zeugin sollte mich genau ansehen, er wolle ihr Zeit geben, sich auf die Vorgänge zu besinnen.
Ich musste vom Stuhl aufstehen und im Zimmer herumlaufen, damit Frau Heß meinen Gang und meine Größe beobachten konnte. Damit sie auch meine Stimme höre, ließ der Staatsanwalt mich sprechen. Länger als eine halbe Stunde betrachtete mich die Frau von allen Seiten. In der Zwischenzeit beruhigte sie sich und begann dann ihre Aussage zu machen.
Mit klarer, ruhiger Stimme schilderte sie die Vorgänge bei der Erschießung ihres Mannes. Am Schlusse ihrer Aussage fragte der Staatsanwalt: »Nun, Frau Heß, jetzt sagen Sie einmal, ist Hoelz der, der Ihren Mann getötet hat?« Darauf antwortete die Zeugin: »Ich kann nicht sagen, dass es
Hoelz gewesen ist, der auf meinen Mann geschossen hat.«
Nun war der Staatsanwalt aber wirklich entsetzt. Das hatte er nicht erwartet. Er sagte folgendes wörtlich zu ihr: »Frau Heß, ich kann verstehen, dass Sie sich im Augenblick vielleicht nicht genau auf die Einzelheiten der Vorgänge besinnen. Ihre heutige Aussage können Sie jederzeit zurückziehen. Sie dürfen, wenn Sie sich besser besinnen, auch eine andere Aussage machen. Ich werde Sie jederzeit wieder vernehmen.«
Das war die erste Aussage dieser Frau, die dann drei Tage später, am 7. Mai, vor dem Kriminalkommissar Woosmann in Halle mich schwer belastete und aussagte, sie habe gesehen, wie ich auf ihren Mann geschossen hätte und dass auf meine Aufforderung hin noch mehrere Schüsse auf ihn abgegeben worden seien. Im ganzen hat die Frau Heß über die Vorgänge vier einander widersprechende Aussagen gemacht. Die Erschießung des Gutsbesitzers Heß hat sich nach meinen Feststellungen in folgender Weise zugetragen:
Am Mittwoch, dem 30. März, gegen vier Uhr nachmittags waren die Arbeitersoldaten von Gröbers abmarschiert, in der Richtung nach Mansfeld, um sich dort mit den anderen revolutionären Kämpfern zu vereinigen. Die Truppe wurde von Gerhard Thiemann geführt, der sie in Bitterfeld und Holzweißig zusammengestellt hatte.
Auf dem Marsch requirierten die Arbeitersoldaten etwa fünfzig Pferdegespanne. Fast alle Rotgardisten trugen nur dünne, zerschlissene Kleidung.
Ich schlug vor, einen Wagen mit einigen Genossen dem Haupttrupp voranzuschicken, um auf großen Gütern Mäntel für die Truppen zu requirieren, da in diesen Märznächten noch bittere Kälte herrschte. Bald waren ein paar Dutzend Mäntel beschlagnahmt, ohne dass es zu Konflikten mit den Gutsbesitzern kam.
Wir hatten auf unserem Marsche sieben bis acht Dörfer passiert. Im Dorf Roitzschgen trat an den Wagen der Kampfleitung (ich fuhr mit der Kampfleitung an der Spitze der Truppen) ein Mann vom Requisitionskommando und meldete, es sei auf dem Gutshof Heß zu einem Streit mit dem Besitzer gekommen. Er wolle keine Mäntel herausgeben. Er habe auch den Zutritt zu seinem Hof verweigert und bedrohe und beschimpfe die Arbeiter. Vom Haupttrupp waren inzwischen zwanzig bis dreißig Mann ebenfalls in das Gehöft gedrungen, dessen Tor sie überstiegen und von innen geöffnet hatten.
Der Lärm auf dem Gutshofe veranlasste mich, nachzusehen, warum wegen ein paar alter Mäntel solcher Radau gemacht wurde. Beim Betreten des Hauses fand ich im ersten Stock etwa fünfzehn bis zwanzig Menschen, die den Heß umringten und mit ihm zankten. Verschiedene Arbeiter versuchten sachlich mit ihm" zu verhandeln. Dies scheiterte aber an dem Verhalten des Gutsbesitzers. Er benahm sich unsicher und widersprach sich fortwährend. Kein Mensch begriff, was er eigentlich wollte. Einmal sagte er: »Ja, ich gebe die Mäntel!«, dann wieder: »Ich gebe keine Mäntel!«
Bei meinen Versuchen, den Menschenknäuel auseinander zubringen und mit Heß sachlich zu verhandeln, erhielt ich bei dem wirren Durcheinander mit einem harten, scharfen Gegenstand einen derben Schlag auf die rechte Hand, so dass mein Daumen verletzt wurde. Ich suchte vergeblich, mich in diesem Wirrwarr und Radau durchzusetzen. Es gelang mir nicht, mir Gehör zu verschaffen, weil die meisten der Arbeitersoldaten mich nicht kannten. Ich hatte mich erst wenige Stunden zuvor ihrer Truppe angeschlossen. Von der - mehrere hundert Mann starken - Kampftruppe hatten viele mich überhaupt noch nicht gesehen.
Als ich den Schlag auf die Hand erhielt, drängte auch schon die Menge von oben nach unten in den Hausflur. Heß erklärte, er müsse erst die Schlüssel zu den Kleiderschränken aus den unteren Räumen holen. In dem Durcheinander wurde ich mitgeschoben. Im Hausflur hörte ich meinen Namen rufen. Ein auswärtiger Kurier überbrachte mir Meldungen und Nachrichten.
Während ich mit ihm auf den vorderen Hof hinaustrat, um mit ihm zu sprechen, vernahm ich plötzlich den scharfen Knall eines Schusses. Ich glaubte, dass ein Mann von der auf der Straße haltenden Truppe den Schuss abgefeuert hätte, rief mehrere Male laut: »Nicht schießen!« und schimpfte über diese unmotivierte Knallerei. Im gleichen Augenblick fielen weitere Schüsse. Etwa zwanzig bis dreißig Männer stürzten aus dem Haus auf die Straße.
Ich hörte jetzt, dass Heß vor den ihn umdrängenden Arbeitern nach dem hinteren Hof geflüchtet war. Dort wurde der Gutsbesitzer von den Rotgardisten erschossen, weil er sie mit einem Revolver bedrohte. Der ganze Vorgang von meinem Eintritt in das Haus bis zu dem letzten Schuss dauerte höchstens zwei Minuten. Alles hatte sich so schnell abgespielt, dass die wenigsten überhaupt wussten, was geschehen war.
Ich habe sofort nach der Erschießung des Heß und auch an den darauf folgenden Tagen mehrere Arbeiter über die Vorgänge befragt.
Die Angaben lauteten nicht übereinstimmend. Einige sagten, Heß habe zuerst geschossen, daraufhin hätten sie geschossen. Andere wieder behaupteten, Heß habe den Revolver gegen die Leute gerichtet, da sei man ihm durch einige Schüsse zuvorgekommen.
Während der Verhandlung in Moabit sagte ein Dienstmädchen von Heß aus: »Nachdem Heß erschossen war und alle Leute das Heßsche Gut längst verlassen hatten, kam ein Mann in den Hof zurück, sah den toten Heß an und sagte: >Hättest du nicht zuerst geschossen, dann wäre das nicht passiert.<«
Auf dem Hofe und im Hause befanden sich auch Männer, die nicht zu der Arbeitertruppe gehörten, sondern die aus dem Orte Roitzschgen selbst oder aus der näheren Umgebung stammten. Heß hatte, wie die Einwohner erzählten, während des Kapp-Putsches als ehemaliger Reserveoffizier eine üble, arbeiterfeindliche Rolle gespielt. Da lag für ihn die Vermutung nahe, dass der Auflauf auf seinem Hof eine scharfe Auseinandersetzung bringen könnte.
Das Auftauchen von ein paar ihm bekannten Leuten, die nicht zur Arbeitertruppe gehörten, bestärkte seine Befürchtung.
Die Absicht, Heß zu erschießen, bestand bei keinem der Mitglieder der Arbeiterkampftruppe. Das hat das Gericht auch selbst zugegeben.

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