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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Der Druck der Massen öffnet mir die Zuchthaustore

Am 18. Juli kam ein Telegramm vom Reichsgericht an die Zuchthausdirektion, dass ich sofort zu entlassen sei. Diesem Telegramm lag folgender Beschluss des Reichsgerichts zugrunde:
»In der Strafsache gegen den verheirateten Techniker Max Hoelz von Falkenstein, geboren am 14. Oktober 1889 zu Moritz bei Riesa, zur Zeit Strafgefangener in Sonnenburg wegen Hochverrat und and. hat das Reichsgericht, Feriensenat, in der nicht öffentlichen Sitzung vom 18. Juli 1928 nach Anhörung des Oberreichsanwalts beschlossen: Auf den Wiederaufnahmeantrag des Verurteilten und seiner Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Apfel und Dr. Kurt Rosenfeld in Berlin und auf das Gesetz über Straffreiheit vom 14.Juli 1928 RGBL. I S. 195 wird gemäß §360 Abs. 2 St.P.O. die beantragte Unterbrechung der Strafvollstreckung angeordnet.«
Die zähe Kampagne, die seit Jahren von der Roten Hilfe für die Wiederaufnahme meines Prozesses geführt worden war, der Druck der von der KPD mobilisierten Arbeitermassen, die juristisch geschickte und von warmherziger Anteilnahme getriebene Arbeit Dr. Apfels und Felix Halles, die publizistischen Vorstöße der Journalisten und Schriftsteller wie Sling, Rudolf Olden und Thomas Mann, das unermüdliche Trommeln der Erich Mühsam, Egon Erwin Kisch, Arthur Holitscher, Ernst Toller und Armin T. Wegner, sowie die vielen Hunderte von Kundgebungen, in denen Traute gesprochen hatte, - hatten den Widerstand der Justizorgane gegen eine Aufhebung des ungeheuerlichen Fehlurteils gebrochen.
Ich war frei,... aber ich traute der ganzen Geschichte nicht. Ich glaubte, das Telegramm sei von irgendeiner Behörde fingiert, um mich aus der Anstalt herauszulocken und dann in ein Gefängnis zu überführen. Ich hatte von Beamten gehört, dass ich in ein Gefängnis gebracht werden sollte. Ich war entschlossen, einer solchen Überführung schärfsten Widerstand entgegenzusetzen. Der Direktor wieder glaubte, das Telegramm sei von meinen Parteigenossen fingiert, damit ich durch diesen Trick aus dem Kerker herauskomme. Er sandte eine telegraphische Rückfrage nach Leipzig, worauf die Antwort einging, ich müsse in einer Stunde die Anstalt bereits verlassen haben. Auch teilte mir der Direktor mit, mein Anwalt habe telefoniert, er sei unterwegs nach Sonnenburg, um mich abzuholen. Nun fing ich langsam an zu glauben, dass ich tatsächlich in die Freiheit zurückkehren solle. Ich empfand darüber nicht die leiseste innere Freude. Von dem Augenblick an, wo ich ernstlich mit meiner Freilassung rechnete, legte sich ein schwerer Druck auf mein Denken und Empfinden. Ich war entschlossen, nicht ohne die anderen vier Genossen, die nicht unter die Amnestie fielen, aus dem Zuchthaus zu gehen.
Die Tatsache meiner Freilassung erfuhr ich nachmittags vier Uhr. Um sechs Uhr kamen von Berlin im Automobil Dr. Apfel, seine Frau, seine Sekretärin und mein Freund Egon Erwin Kisch. Sie wollten mich in Empfang nehmen, ich weigerte mich, ihnen zu folgen, wenn die anderen Genossen nicht mit mir zugleich entlassen würden. Es kam zu längeren, teilweise scharfen Auseinandersetzungen, auch mit dem Direktor, der mir ankündigte, dass er rücksichtslose Gewalt anwenden müsse, wenn ich nicht freiwillig das Zuchthaus in spätestens einer halben Stunde verließe. Dr. Apfel und Kisch machten mir klar, dass ich in Freiheit viel mehr für die Freilassung der zurückbleibenden Genossen tun könne als im Kerker. Ich gab nach und verabschiedete mich von den vier Genossen mit dem Versprechen, zurückzukehren und die Justiz zu zwingen, mich erneut einzusperren, wenn es der Roten Hilfe, den Verteidigern und mir nicht gelinge, die Behörden davon zu überzeugen, dass auch sie unter die Amnestie fallen müssten. Ich habe nicht vergessen, was ich den Zurückbleibenden beim Abschied sagte: Sobald ich die letzte Korrektur an diesem Buche vorgenommen habe, werde ich mein Versprechen einlösen.
Im Hof der Anstalt stand ein Auto, das mein Anwalt gemietet hatte. Ich sah den Hauptwachtmeister Schneidau und einige Ober- und Unterbeamte, die sich mir und allen anderen Gefangenen gegenüber sehr menschlich benommen hatten, und verabschiedete mich herzlich von ihnen. Dann führte mich der Wagen durch das große Zuchthaustor in die Freiheit zurück.
Die Empfindungen, die ich hatte, sind nicht auszudrücken. Es war alles so unwirklich, und ich würde mich nicht gewundert haben, wenn ich mich plötzlich aus einem Traum erwacht auf der Pritsche meiner Zelle wieder gefunden hätte. Einige tausend Meter hinter dem Städtchen Sonnenburg bat ich, den Wagen halten zu lassen. Ich erklärte meinen Begleitern, dass ich unter keinen Umständen mit nach Berlin fahre; der plötzliche Wechsel und Übergang vom Zuchthaus in die Riesenstadt sei für mich zu krass. Ich bat, man möchte mich in einen kleinen Ort bringen, wo ich übernachten könne. Es wurde beschlossen, nach Küstrin zu fahren. Dort nahmen wir in einem Hotel Quartier. Um kein Aufsehen zu erregen, trug ich mich unter einem Decknamen ein. Freund Kisch bestellte etwas zu essen. Ich konnte nur mit Mühe ein paar Bissen herunterwürgen. Es hatte mich eine starke seelische Depression überfallen, der ich nicht Herr werden konnte. Ich musste an die vier Freunde denken, die in Sonnenburg hatten bleiben müssen. Am liebsten wäre ich davongelaufen und noch am selben Abend nach Sonnenburg zurückgekehrt.
Ich bat Kisch, Alkohol zu bestellen. Ich wollte damit meine tristen Gedanken verscheuchen. Während wir noch saßen und tranken, kam plötzlich ein Auto vorgefahren, dem die Genossen Schlör und Geschke entstiegen, die uns aufgestöbert hatten. Ich war bestürzt, weil ich fürchtete, es würden bald noch mehrere Freunde und Genossen erscheinen, und mir graute davor, eine Menge Menschen um mich zu haben.
Drei Viertel zwei Uhr ging ich mit Kisch in das gemeinsame Schlafzimmer und legte mich zum ersten Mal seit nahezu acht Jahren in ein richtiges Bett. Schlafen konnte ich nicht. Ich versank in dem weichen Unterbett und geriet in starken Schweiß. In den langen Kerkerjahren hatte ich mich nur mit den dünnen Zuchthausdecken zudecken können. Mir war, als müsse ich ersticken. Drei Viertel vier Uhr sprang ich aus dem Bett, übte eine Stunde Gymnastik, während Kisch neben mir schnarchte. Dann weckte ich meinen Anwalt und erklärte ihm, dass ich sofort das Hotel und Küstrin verlasse, um nicht am Morgen eine größere Anzahl Menschen von Berlin oder sonst woher hier zu sehen.
Gegen fünf Uhr verließ ich mit meinem Anwalt, seiner Frau und seiner Sekretärin, auch von dem Hotelpersonal unbemerkt, das Haus. Kurz vor fünf Uhr fuhren wir mit dem Zug von Küstrin nach Berlin ab. Ich bat Dr. Apfel, mich in Berlin so unterzubringen, dass ich möglichst mit keinem Menschen zusammentreffe.
Im Zug trat die Reaktion auf die Erlebnisse der letzten zwölf Stunden ein. Mir stürzten plötzlich unaufhaltsam die Tränen aus den Augen, ohne dass ich wusste, warum. Noch heftiger als am Abend vorher überfielen mich tiefe Trauer und Bedrücktheit. Ich sah die im Flug vorbeisausenden Wiesen, auf denen Vieh weidete, sah Bäume, Sträucher, Häuser und Brücken und dazwischen Menschen, die keine Zuchthauskleider trugen. Meine Gedanken schweiften unwillkürlich acht Jahre zurück, und greifbar deutlich erlebte ich noch einmal den Tag meiner Einlieferung in das Zuchthaus Münster, hörte die Ketten klirren und die schweren eisernen Türen zuschlagen, und ich spürte noch einmal dieselben, das Herz abschnürenden, grauenhaften Empfindungen wie in meiner ersten Zuchthausnacht. In diesen Sekunden und Minuten konnte ich nicht an die Zukunft denken, alles an und in mir war nur ein einziges, unsagbar schmerzliches Gefühl, und mir war, als ob Tausende von Stimmen mir zuriefen, warum, warum und wozu das alles?
Meine drei Begleiter waren taktvoll genug, mich in meiner Ecke nicht mit gut gemeinten Worten und Tröstungen noch mehr zu verwirren. Ich glaube, wenn ein Mensch mich in dieser seelischen Verfassung angesprochen hätte, wäre ich bedenkenlos aus dem Zug gesprungen.
Unerkannt erreichten wir Berlin. Im Büro des Anwalts hielt ich mich den ganzen Tag über in einem abgeschlossenen Zimmer auf. Am Abend holten mich die Genossen Golke und Schlör zu der Begrüßungskundgebung ab, zu der die Berliner Arbeiter in unübersehbaren Massen aufmarschierten. Es war ein unvergesslicher, mich vollkommen überwältigender Anblick. Ich hatte so ungeheure Massen noch nie auf einem Platz oder in
Straßen zusammengeballt gesehen. Ich musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht wieder wie im Zug von Küstrin nach Berlin die Fassung zu verlieren und den Tränen freien Lauf zu lassen wie ein Kind.
Ich spürte, dass die heißen Wellen von Sympathie und Liebe, die sich mir entgegenwälzten, nicht meiner Person galten, sondern dass diese von der Kommunistischen Partei Deutschlands organisierte und von einem einzigen Willen beseelte Masse an die Revolution und an ihren Sieg glaubte. Die Wogen der Begeisterung, die mich an diesem Abend in fast erdrückender Wucht hin und her warfen, waren mir der sicherste Beweis dafür, dass wir Hunderte von kommunistischen Gefangenen nicht umsonst in den Zuchthäusern gelitten hatten. Aus der kleinen Kommunistischen Partei von 1920 und 1921 war eine Massenpartei geworden, die das Vertrauen der Werktätigen besaß.
Hier in den Straßen Berlins, eingekeilt von un­übersehbaren Mengen, empfand ich mit aller Deutlichkeit, dass ich nicht aus dem Zuchthaus entlassen worden war, weil etwa die Justizorgane ein längst offensichtliches Fehlurteil korrigieren wollten, sondern weil der Druck der Hunderttausende und Millionen kommunistischer Arbeiter und mit der Kommunistischen Partei Sympathisierender den bürgerlichen Staat gezwungen hatten, mich freizugeben. Ich war so ergriffen von diesem machtvollen Aufmarsch und der leidenschaftlichen Begrüßung der Berliner Arbeiter, dass ich vor innerer Freude und Erregung kaum ein paar Worte zu den Hunderttausenden sagen konnte.
Von Hunderttausenden erschollen immer wieder und wieder die Rufe: »Heraus mit Margies, Burkhardt, Mehlhorn und allen kommunistischen Gefangenen!«
Wenn ich in Berlin, in Halle oder in anderen Städten, die ich nach meiner Freilassung sah, auf den Straßen ging, fühlte ich mich wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der starke Autoverkehr, die vielen Menschen, die an mir vor­überhasteten, die bunten Schaufenster machten einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich. Ich konnte mich von dem, was ich sah, kaum losrei­ßen, und es war, als ob meine Augen sich satt trinken müssten an all dem, was ich seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wenn Freunde oder Bekannte mit mir sprachen, war ich gar nicht imstande, aufmerksam zuzuhören. Meine Augen irrten wie trunken von einem Gegenstand zum anderen, jedes Kind, das ich irgendwo sah, hätte ich am liebsten gepackt und abgeküsst. Erwachsene hingegen wirkten fast fremd auf mich; mit ihnen fand ich schwer Kontakt. Sooft ich mit Freunden oder Genossen zusammen war, empfand ich das Bedürfnis, allein zu sein. Es bedeutete für mich eine fast unerträgliche Qual, mit mehreren Menschen länger als ein paar Minuten zusammenzubleiben. Auch heute, nach einem halben Jahr, sind diese Empfindungen noch die gleichen.
Wenige Tage nach der Begrüßung in Berlin kam ich zum ersten Mal wieder nach fast achtjähriger
Abwesenheit in das mitteldeutsche Kampfgebiet von 1921. In Bitterfeld, Halle, Ammendorf, Merseburg, Eisleben und Hettstedt wurde ich von den begeisterten Bergkumpels stürmisch begrüßt. Eine besondere Freude war es für mich, dass ich in Halle und Ammendorf mit meinem tapferen Sonnenburger Leidensgenossen Heinrich Wiekowski Zusammensein konnte. Der Empfang auf dem Bahnhof in Bitterfeld führte zu einem tragischen Zwischenfall. Beim Aussteigen aus dem Zug sah ich, dass Rote Frontkämpfer versuchten, einen Mann zurückzuhalten, der mit einem großen Blumenstrauß auf mich zustürzen wollte. Trotzdem durchbrach er die Absperrung. Da ein entsetzlicher Alkoholgeruch von ihm ausströmte, geriet ich in große Erregung, und um den Betrunkenen abzuwehren und zu verhindern, dass ausgerechnet er in seinem Rausch mich umarme, gab ich ihm einen scharfen Stoß vor die Brust, so dass er rückwärts in die Arme der Roten Frontkämpfer taumelte. Furchtbar bestürzt war ich, als mir nunmehr die Bitterfelder Genossen sagten, sie hätten mir gern die Szene ersparen wollen, der Mann sei Scheidecker gewesen, der während des mitteldeutschen Aufstandes als Kompanieführer mit mir gekämpft hatte und damals einer der tapfersten Genossen war. Nach seiner schon vor Jahren erfolgten Entlassung aus dem Zuchthause hatte er sich in der Freiheit nicht mehr zurechtfinden können und sich dem Trunke ergeben. Er war offenbar in das Lumpenproletariat hinabgesunken.
Dem Wunsche der Roten Hilfe, sofort nach meiner Freilassung in hundert Versammlungen für die noch in den Kerkern zurückgehaltenen kommunistischen Gefangenen zu sprechen, konnte ich nur zum Teil nachkommen.
Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, ein Versprechen einzulösen, das ich Hunderten von Gefangenen während meiner Kerkerjahre gegeben hatte. Ich wollte ein Buch schreiben über alles, was ich in Deutschlands Zuchthäusern erlebte. Und dieses Buch sollte den russischen und deutschen Arbeitern und allen Gefangenen, auch den kriminellen, gewidmet sein.
Um diese Arbeit zu beginnen, musste ich die Einsamkeit aufsuchen. Ich fühlte mich unglücklich unter vielen Menschen, ich hatte noch nicht den Kontakt mit der Freiheit, mit meiner neuen Umwelt und den Freunden und Genossen gefunden. Wann immer ich mit einzelnen Menschen oder auf Kundgebungen sprach, hatte ich das niederdrückende und hemmende Gefühl, für das, was ich sagen wollte, nicht die richtigen Worte zu finden. Sobald ich vor den meinen Worten lauschenden Massen stand, schnürte mir die Erregung die Kehle zusammen.
Nach der Kundgebung in Hannover besuchte ich zum ersten Mal meine Eltern, die in der Nähe wohnen. Sie hatten in diesen schweren Jahren mehr gelitten als ich. Ich hatte für eine Idee gelitten, von der ich ganz durchdrungen war und für die mir kein Opfer zu groß schien. Meine Eltern aber glaubten nicht an diese Idee, und darum war alles viel schwerer für sie zu ertragen gewesen.
Sie hatten nach meiner Verhaftung förmlich aus ihrer Heimat in Sachsen flüchten müssen, denn die Menschen dort, nicht nur die Bürger, sondern auch die Arbeiter, zeigten mit Fingern auf sie und machten sie für meine Taten und Handlungen mitverantwortlich, obwohl allen bekannt war, dass meine Eltern meine Handlungen verurteilten, da sie meine kommunistische Weltanschauung nicht verstanden.
Erschütternd war, als mein Vater, den ich neun Jahre nicht gesehen hatte, mir beichtete, dass er sich nach dem Kapp-Putsch, als die bürgerliche und sozialistische Presse verbreitete, ich hätte zahllose Morde und Brandstiftungen begangen, öffentlich von mir lossagen wollte. Er hatte innere Kämpfe durchgemacht, und der Entschluss war ihm nicht leicht gefallen. Aber der einfache, schlichte, von bürgerlichen Anschauungen beherrschte Proletarier hatte sich gesagt, wenn sein Sohn alle die Handlungen begangen habe, von denen die Presse berichtete, dann könne er nicht mehr sein Sohn heißen. Er ging in das Rathaus seines Heimatortes, um dort die Trennung von mir amtlich herbeizuführen. Der Bürgermeister redete ihm aber zu, er solle sich von seinem Sohn nicht lossagen, die Dinge seien nicht so, wie die Presse sie darstelle, das Ziel, das sein Sohn verfolge, sei kein schlechtes, nur die Wege, die er dazu eingeschlagen habe, seien verkehrt.
Von Hannover aus reiste ich in den badischen Schwarzwald und folgte der Einladung eines Mannes, der mit der Sache der Arbeiterbewegung sympathisierte und sich 1918 als Mitglied des Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrates den Hass der Reaktionäre zugezogen hatte. Der Tiefbauingenieur Heyd hatte für seine Kinder in dem kleinen Schwarzwälder Dorf Todtmoos-Rütte ein Bauernhäuschen gekauft. Hier in der Einsamkeit und Ruhe des Waldes hoffte ich den Übergang aus meiner engen Welt im Zuchthaus zu den Menschen und Dingen der großen Welt, die ich so verändert vorgefunden hatte, zu finden, und hier wollte ich das niederschreiben, was zugleich Rechenschaft und Abrechnung sein sollte.
Um kein Aufsehen zu erregen und um zu verhindern, dass fremde Menschen oder Freunde mich in meiner Einsamkeit aufsuchten, wählte ich für die Dauer meines Aufenthaltes in dem kleinen Häuschen ein Pseudonym - mein Anwalt hatte dazu vom preußischen Ministerium die Genehmigung erhalten. Ich musste mich nur verpflichten, solange ich das Pseudonym benutzte, dem Ministerium jeweils meinen Aufenthalt anzugeben. In dem Häuschen hatten vor mir eine ganze Reihe von Genossen und Freunden gewohnt, unter anderem Erich Mühsam, Georg Ledebour und Traute.
Ich hatte geglaubt, dass ich sofort nach meiner Ankunft in Todtmoos-Rütte mit meiner Arbeit beginnen könne. Wohl begann ich damit, aber ich kam nicht vorwärts. Fünf Wochen lang zerriss ich am nächsten Tag immer alles, was ich am vorhergehenden Tag geschrieben hatte. Ich hatte noch nie ein Buch verfasst, und das Schreiben fiel mir schon an und für sich sehr schwer. Aber dazu kam noch, dass ich vom Zuchthaus her starke Hemmungen verspürte, die ich nicht überwinden konnte und die mir jede konzentrierte Arbeit unmöglich machten. Obwohl seit jeher fast abstinent, brauchte ich jetzt große Mengen Alkohol, um überhaupt schreiben zu können. Außerdem aß ich übermäßig viel. Ich hatte immerzu Hunger und Durst.
Endlich, nach Wochen, trat die Reaktion auf diesen unhaltbaren Zustand ein. Ich konnte arbeiten, ohne vorher Rauschmittel nehmen zu müssen, ja ich empfand Ekel davor; ebenso vor dem vielen Essen.
Nun kam ich mit der Arbeit vorwärts, und bei jeder Seite, die ich schrieb oder diktierte, wurde ich seelisch freier.
Ich zwang mich zum Schreiben, obwohl ich mich während meiner acht Jahre langen Isolierung nach nichts so sehr gesehnt hatte als danach, sogleich nach meiner Freilassung wieder aktiv für die Sache der Arbeiter zu kämpfen, das heißt mit ganzer Kraft für die Partei zu wirken. Aber nach meiner Entlassung fühlte ich mich dazu nicht imstande, ohne vorher - indem ich meine Erlebnisse schilderte - einen Schlussstrich zu ziehen und zugleich das durch die Presse geschaffene Zerrbild meiner Person durch eine unverfälschte Darstellung meines Wollens und Handelns zu ersetzen.
So ist dieses Buch entstanden.

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