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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Freiwillig weg vom Generalstab an die Front

Nun teilte ich mit den Kameraden die Entbehrungen und Strapazen an der Front und war froh, dass es mir nicht besser erging als denen, die mich vorher oft beneidet hatten. Ich erhielt das Eiserne Kreuz und die Friedrich-August-Medaille und nahm an allen Kämpfen des 27. Reservearmeekorps an der Ost- und Westfront 1917 teil. Während des Vormarsches in Russland lernte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Sozialisten kennen und kam durch einen sonderbaren Zufall mit ihm in enge persönliche Beziehung. Der Redakteur der Leipziger Volkszeitung, Georg Schumann, der damals als Soldat im Feld stand, war denunziert worden und wurde vor das Kriegsgericht gestellt, das sich bei unserer Division befand. Einige Kameraden meiner Truppe und ich mussten den verhafteten Georg Schumann bewachen. So waren wir täglich mit ihm zusammen und, obgleich es eigentlich streng verboten war, mit Gefangenen zu sprechen, unterhielten wir uns mit ihm. Er machte aus seiner sozialistischen revolutionären Gesinnung kein Geheimnis und war bemüht, uns politisch Indifferente für seine Weltanschauung zu gewinnen.
Das, was ich von Schumann hörte, war für mich etwas Überwältigendes, Neues, Unerhörtes, war ein Blick in eine ganz andere Welt, von deren Vorhandensein ich bisher keine Ahnung hatte. Ich verstand und begriff vieles nicht, was er sagte, aber es regte mein Denken an und wies mir den Weg zu einer neuen Weltanschauung, von der ich früher nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Georg Schumann, gegen den der Anklagevertreter beim Kriegsgericht zwölf Jahre Zuchthaus beantragt hatte, wurde wegen »Zersetzungsarbeit« unter den Soldaten zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Auf dem Vormarsch in Galizien gegen die russische Grenze erhielten wir Soldaten die ersten spärlichen Nachrichten über den Ausbruch der russischen Revolution. Einen ungeheuer starken Eindruck, auch auf uns Nichtsozialisten, machten die Mitteilungen gefangener russischer Soldaten, dass in Russland Arbeiter- und Soldatenräte gebildet worden seien. Selbst jene deutschen Soldaten, die sich bisher mit dem Sozialismus nie beschäftigt hatten - ich gehörte ja auch zu ihnen -, begriffen instinktiv, dass eine Umwälzung vor sich ging, die nicht auf Russland allein beschränkt bleiben konnte. Fast alle hatten denselben Gedanken: das sei endlich der Anfang vom Ende des Krieges. Als größere Teile der deutschen Truppen sich an der Front mit russischen Soldaten verbrüderten, ließ die Heeresleitung die im Osten stehenden Formationen durch andere ablösen. Wir wurden nach der Westfront zurücktransportiert.
Während der letzten großen Offensive im Frühjahr 1918 stieß der Truppenteil, zu dem ich gehörte, von Cambrai aus vor. Die Verpflegungsschwierigkeiten hatten ihren Höhepunkt erreicht. Wir bekamen pro Tag einen gestrichenen Esslöffel voll Rübenmarmelade und so wenig Brot, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten. Dabei mussten wir täglich Märsche von 40 bis 50 Kilometern machen.
Auf den Straßen und Feldern lagen Dutzende von toten Pferden - zum Teil schon tagelang -in der Sonnenhitze; aus diesen Pferdeleibern schnitten sich die Soldaten große Stücke Fleisch, das sie nur ungenügend kochten. Die meisten hatten nicht einmal Salz oder andere Zutaten. Sie verschlangen es jedoch mit unbeschreiblicher Gier, um ihren entsetzlichen Hunger zu stillen. So sehr mich der Hunger quälte, brachte ich es doch nicht fertig, von diesem Fleisch zu essen, und dabei war Pferdefleisch fast das einzige Fleisch, das ich in meiner Jugend zu essen bekommen und stets als eine ganz besondere Delikatesse betrachtet hatte. Als ich einmal versuchte, ein Stück Pferdefleisch zu essen, das einer der Kameraden kunstgerecht und mit allen Gewürzen zubereitet hatte, musste ich mich tagelang erbrechen.
Erst vor Amiens kam der deutsche Vormarsch zum Halten. Die Franzosen hatten Verstärkung durch amerikanische Streitkräfte bekommen. Diese Tatsache wirkte furchtbar deprimierend auf die Truppen. Sie fühlten sich von Tirpitz und den anderen Kriegspropheten, die immer behauptet hatten, Amerika könnte unmöglich Truppen herüberschaffen, verraten und verkauft.
Nach fast vierjährigem, zermürbendem Kampf war es den deutschen Truppen, denen es an allem mangelte, einfach nicht möglich, den gutgenährten und technisch aufs vollkommenste ausgerüsteten amerikanischen Soldaten ernsten Widerstand zu leisten. Vor Amiens bekamen wir zu spüren, was es bedeutete, dass an der französischen Front Amerikaner gegen uns kämpften. Die ersten amerikanischen Granaten wirkten verheerend in unseren Reihen, sowohl physisch als auch moralisch; unsere Artillerie konnte nur noch schwach erwidern. An der Straße sah ich die großen 21-cm-Mörser, auf die wir immer so stolz waren, untätig stehen; es fehlte an Munition. Der Vormarsch war überraschend schnell vonstatten gegangen, aber der Munitionsnachschub hatte nicht gleiches Tempo halten können, und nun standen die Kanonen wie traurige Wahrzeichen da, als ein Symbol unserer Hoffnungslosigkeit, während ringsum Tausende von amerikanischen Geschossen den Erdboden aufwühlten und entsetzliche Zerstörung in den Reihen der Deutschen anrichteten.
Am 6. März, an einem regnerischen Morgen, hielt ich mit zwei Kameraden und unseren Pferden in einer Waldecke, wenige Kilometer vor Amiens. Wir hatten die Aufgabe, hier auf Meldungen vom Brigadestab zu warten, die wir dann den einzelnen Regimentern übermitteln sollten. Etwa hundert Meter hinter uns stand der Rest unserer Artillerie. Um sechs Uhr früh eröffnete sie ihr Feuer über unsere Köpfe hinweg gegen die feindliche Stellung. Kaum eine halbe Stunde später begannen die Amerikaner ein wahnsinniges Trommelfeuer gegen unsere Linie. Sie hatten durch ihre zahlreichen Flieger schnell den Standort unserer Artillerie erfahren. Dieser Tag kostete die deutschen Truppen Tausende von Toten und Verwundeten. Neben mir brach ein Telefonist zusammen, der die zerstörten Leitungen nach dem Beobachtungsstand reparierte. Es war ein junger Mensch, der kaum achtzehn Jahre zählen konnte und wie ein Fünfzehnjähriger aussah. Er war schwer getroffen; ein Unterschenkel hing nur noch an der Wickelgamasche. Der Verwundete schrie immerfort: »Mutter, Mutter!« Unaufhörlich schlugen die Geschosse dicht neben uns in den Erdboden und in die Bäume. Über den nahen Kanaldamm kamen etwa sechs Verwundete, die sich gegenseitig stützten. Eine Granate schlug mitten in die Gruppe; als ich kurz darauf an dieser Stelle vorüberritt, sah ich von den Verwundeten nur noch ein paar Zehen, einen nackten Fuß und Fleischfetzen.
Mein Pferd wurde durch einen Granatsplitter getötet. Ich hatte Dreck und Sand in den Augen und konnte kaum noch sehen. Als wir uns um die Verwundeten bemühten, traf einen Kameraden, mit dem ich vier Jahre lang im Felde war, eine Granate und riss ihm das ganze Kreuz heraus. Er blieb noch fünfzehn Minuten am Leben, seine Augen waren schon völlig verglast. Andauernd schrie er meinen Namen. Auf der an der Waldecke vorbeiführenden Straße schleppten sich mühsam viele Verwundete. Ganz in der Nähe, in einem französischen Bauernhof, war ein Feldlazarett eingerichtet; mehr als fünfhundert schwerverwundete Soldaten lagen dort, und nur ein einziger Arzt war vorhanden. Bald ging der Verbandstoff aus. Noch am selben Tage schlugen Dutzende von Granaten in jenes Feldlazarett, alle Insassen samt dem Arzt wurden getötet. Auch den auf der Straße dahinwankenden Verwundeten war ein fürchterliches Schicksal beschieden. Die im Galopp vorbeirasenden Geschütz-Abteilungen achteten kaum auf diese Menschen, sie versuchten über die Straßenkreuzung hinwegzukommen, auf die sich das Feuer der Amerikaner konzentrierte. So wurden viele Verwundete von den Pferden zertrampelt.
Ich durfte meinen Standort nicht verlassen, da ich Meldungen abzuwarten hatte. Das Trommelfeuer wurde immer stärker. Das Krachen der ununterbrochen krepierenden Granaten vermischte sich mit den Schreien der Verwundeten, denen niemand helfen konnte. Es machte mich fast wahnsinnig, und ich sprang in ein Erdloch, das meinem Körper knapp Raum bot.
Mich erfüllte nur der eine Gedanke: Eine Granate müsste mich jetzt treffen, aber so, dass nichts mehr von mir übrig blieb. Vor dem Verstümmeltwerden hatte ich entsetzliche Angst. Nur nicht stundenlang liegen und so schreien müssen!!! Mit verzweifelter Inbrunst betete ich um einen schnellen Tod... Es war mein letztes Gebet! Nach diesen furchtbaren Stunden hatte ich keine religiösen Illusionen mehr.
Ich musste eine Meldung zum Regiment bringen. Mit dem Pferd meines erschossenen Kameraden ritt ich los und geriet nun vollends in den feindlichen Geschoßhagel. Zwei bis drei Meter vor dem Gaul schlug eine Granate in den weichen Ackerboden, das Pferd bäumte sich, überschlug sich, ich geriet unter den Pferdeleib und blieb in dieser
Stellung - vom Sturz betäubt - bis zum Abend liegen. Vorübermarschierende Soldaten befreiten mich aus meiner Lage.
Mit ihnen ging ich zwei- bis dreihundert Meter nach vorn, dann wurde das Feuer so intensiv, dass ein Weitermarschieren Wahnsinn schien. Der Führer gab Befehl, in den unzähligen Granatlöchern Deckung zu suchen. Zu zweit fanden wir in einem Loch Unterschlupf; darin warteten wir durstig, hungrig und frierend - es war ein nasskalter Tag - auf ein Nachlassen des rasenden Feuers, aber es schwoll immer mehr an. Eine schwere Granate schlug in unserer Nähe ein, und die aufgeworfenen Erdmassen verschütteten uns. Erst während einer Feuerpause gelang es der anrückenden Verstärkung, uns auszugraben. Die deutschen Truppen konnten sich nicht mehr halten, sie mussten den Rückzug antreten. Wir wurden durch frische Truppen abgelöst und kamen in Ruhestellung in die Nähe von Verdun. Mich ekelte das Leben in der Etappe noch immer an, deshalb meldete ich mich wieder an die Front und wurde einer Maschinengewehrabteilung zugeteilt. Wider Willen geriet ich in die Hände von Militärärzten, denen ich stets aus dem Wege gegangen war, weil sie den gemeinen Soldaten so rücksichtslos behandelten. Infolge eingewachsener Nägel eiterten meine Zehen, ich musste in die Revierstube. Der Arzt veranlasste meine zwangsweise Überführung ins Lazarett zwecks Operation. Im Lazarett fragte ich den mich behandelnden Arzt, ob mir die Nägel wieder herausgerissen werden sollten; ich hatte schon vor dem Krieg eine derartige Operation durchgemacht. Die Antwort war: »Das geht Sie nichts an, das machen wir, wie wir wollen.« Nun stellten sich sieben Mann um mich herum, hielten mich fest, und der Chirurg riss mir - ohne mich zu narkotisieren - die Nägel samt den Wurzeln heraus. Ich zitterte und bekam Angstzustände.

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