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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Transport nach Breslau - Die Begleitmannschaft verliert mich

Mitten in der Nacht fuhren plötzlich mehrere Automobile in den Anstaltshof. Ihnen entstiegen mein Anwalt Hegewisch, ein Major aus dem Berliner Polizeipräsidium, ein Kriminalkommissar, ein Arzt und eine ganze Anzahl Schutzpolizisten in Zivil und Offiziere.
Mir wurde eröffnet, dass mein Wunsch, in eine andere Anstalt überführt zu werden, erfüllt werde. Ich befand mich seit fünf Tagen wieder im Hungerstreik, und da ich deshalb sehr geschwächt war, hatten die Behörden angeordnet, dass in dem Auto, in dem ich transportiert wurde, ein Arzt mitfuhr.
Als ich fertig zum Abtransport in den Korridor des Verwaltungsgebäudes trat, kamen ein Polizeimajor und ein anderer Offizier auf mich zu und erklärten, sie hätten den Auftrag, mich zu fesseln. Für die Fahrt mit den Automobilen in das andere Zuchthaus waren zwei Tage vorgesehen, und während dieser ganzen Zeit sollte ich gefesselt bleiben. Die Fesseln bestanden aus meterlangen, schweren Eisenstangen, die mit breiten Eisenbändern zwischen die Füße und Hände geschlossen wurden, außerdem waren die Fuß- und Armstangen noch mit schweren Ketten verbunden. Diese Fesseln wogen fast einen halben Zentner.
Ich erklärte dem Major, dass ich mich unter keinen Umständen fesseln lasse und dass ich, wenn man gegen mich Gewalt anwende, bestimmt nicht lebendig aus der Anstalt herauszubekommen sei. Die Fesselung unterblieb.
Zwischen zwei und drei Uhr morgens verließen die Autos mit mir die Anstalt, in der ich genau vierzehn Monate lang einen harten, unerbittlichen Kampf gegen einen grausamen Strafvollzug gekämpft hatte. Ich atmete auf: Schlechter als im Zuchthaus Münster konnte es mir in einer anderen Strafanstalt kaum gehen.
Während der Fahrt hatte ich das Bedürfnis, auszutreten. Der Major, mit dem zusammen ich im Auto fuhr, weigerte sich, die Autos vor einem Gasthause des nächsten Ortes, wo ich hätte austreten können, halten zu lassen. Er habe die strikte Anweisung, unter keinen Umständen in einer bewohnten Gegend haltzumachen. Er verlangte von mir, dass ich auf freiem Felde austrete, rechts und links von einem Sipomann flankiert. Ich war über diese Zumutung empört und erklärte ihm, wenn er in der nächsten Ortschaft nicht halten lasse, müsse ich im Auto meine Notdurft erledigen. Als er sah, dass ich Ernst machte und bereits die Hosen abzuknöpfen begann, beschwichtigte er mich und veranlasste sofort, dass wir im nächsten Ort Halt machten.
Überwältigend wirkte auf mich die im Herbstschmuck stehende Landschaft. Ich hatte vierzehn Monate lang einen solchen Anblick nicht genossen und war wie berauscht von den Eindrücken, die ich jetzt empfing. Es schien mir, als sei ich nicht ein Jahr und zwei Monate, sondern viel, viel länger von der Außenwelt abgeschnitten gewesen.
In den Abendstunden desselben Tages kamen wir in Magdeburg an. Hier wurde ich in einer Zelle des Polizeipräsidiums für die Nacht einquartiert. Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter. Ich glaubte, dass mein Antrag, in das Zuchthaus Waldheim in Sachsen überführt zu werden, erfüllt würde, als wir aber den Elbestrom überquert hatten und weiter nach dem Osten fuhren, merkte ich, dass man mich in eine ganz andere Gegend verschleppte. Ich fragte den Polizeimajor, ob er vielleicht den Auftrag habe, mich nach Moskau zu bringen.
Ein paar hundert Meter hinter Cottbus hielten die Autos plötzlich an. Auf der Straße war ein gro­ßer Menschenauflauf. Die mich begleitenden Polizeimannschaften stiegen aus, um nachzusehen, was dieser Auflauf bedeute. Mein Anwalt und ich blieben allein im Auto zurück, und als das Warten zu lange dauerte, stiegen wir aus.
Mitten auf der Straße lag sterbend ein ganz altes Mütterchen, das kurz vorher von einem Privatauto überfahren worden war. Die Frau kam vom Holzlesen aus dem Walde, der an die Straße grenzte. Ein Kinderwagen, in dem sie die Reisigbündel hatte, lag vollkommen zertrümmert auf der Straße. Von den Menschen, die auf der Straße standen und gafften, dachte niemand daran, die Frau mit dem Auto in ein Krankenhaus zu bringen. Der Unglückswagen stand noch da, sein Besitzer stand unter den übrigen Gaffern. Ich erinnerte mich an die Szene auf dem Transport ins Zuchthaus - es drängte sich mir der Vergleich auf zwischen diesen teilnahmslosen Menschen, die kein Mitgefühl für die überfahrene Frau zu haben schienen, und dem kleinen Hund, der traurig auf seinen überfahrenen Gefährten schaute.
Ein Schutzpolizist in Zivil und ich trugen die Frau in das Auto, das sie überfahren hatte. Der Beamte setzte sich mit in den Wagen, er veranlasste den Besitzer, sofort in das nur einige Minuten entfernt liegende Krankenhaus zu fahren.
Ich ging die paar Schritte bis zu der Stelle, wo die Reste des zerbrochenen Kinderwagens lagen. Als ich mich umwandte, um eine Frage an meine Begleiter zu richten, merkte ich zu meiner Überraschung, dass ich ganz allein war. Ich stand unter Dutzenden von fremden Menschen, die mich nicht kannten und - da ich Zivilkleidung trug -, auch nicht wussten, dass ich Zuchthäusler war. Weit und breit war nichts von meinen Bewachungsmannschaften zu sehen. Ich brauchte nur zehn
Schritte seitwärts zu gehen, dann befand ich mich im dichten Wald und hätte mich leicht in Sicherheit bringen können.
Trotzdem benutzte ich diese günstige Gelegenheit zur Flucht nicht. Ich hätte ins Ausland fliehen müssen, und es wäre schwerer gewesen, von dort aus die Wiederaufnahme des Prozesses in Fluss zu bringen. Auch hätte meine Flucht den Eindruck machen können, die persönliche Freiheit sei mir wichtiger gewesen als mein Kampf gegen das Fehlurteil, den zu führen ich für meine revolutionäre Pflicht hielt.
Es dauerte ein paar Minuten, ehe ich meine Begleiter wieder fand; der Kommissar und der Major hatten geglaubt, ich sei bei den Sipoleuten, und die wieder nahmen an, ich sei beim Major und beim Kommissar.
Der Major bat meinen Anwalt flehentlichst, von dieser Sache nichts in die Presse zu bringen, denn das würde ihn, den Major, die Stellung kosten. Der Anwalt war aber klug genug, sich von dem Beamten ausdrücklich bestätigen zu lassen, dass ich hier Gelegenheit hatte, zu entfliehen, und es doch unterließ.
Die Automobile waren früh von Magdeburg abgefahren und erreichten Breslau erst am nächsten Morgen gegen fünf Uhr. Die zweite Hälfte der Fahrt hatte also ununterbrochen nahezu vierundzwanzig Stunden gedauert. Dass das Reiseziel Breslau war, erfuhr ich erst kurz vor meiner Ankunft.
Ich war sehr erregt darüber, dass ich nicht, wie ich beantragt hatte, in ein Zuchthaus in der Nähe meiner Angehörigen überführt wurde, sondern nun noch viel weiter von ihnen entfernt war.

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