Kurzer Aufenthalt in Wien - Mit falschem Pass zurück nach Deutschland
In den ersten Oktobertagen kam ich in Österreich an. Dort wohnte ich eine Zeitlang in einer kleinen Pension im Eichgraben bei Wien, dann im Sanatorium Prießnitzthal in Mödling. Hier kamen im Auftrage der vogtländischen Parteiorganisationen Genossen aus dem Vogtlande zu mir. Von ihnen erfuhr ich, dass in Dresden zahlreiche Prozesse gegen Rotgardisten liefen und viele schon verurteilt waren. Sie glaubten, dass ich für die verhafteten Genossen und ihre Angehörigen etwas tun könne, wenn ich nach Deutschland zurückkehrte. Daher gab ich meine Absicht, von Wien nach Russland zu reisen, auf und beschloss, in Deutschland die Vorbereitungen zu treffen, um durch einen Handstreich die in Dresden und Plauen in Haft befindlichen Genossen zu befreien.
Durch Vermittlung eines Wiener Studenten, der mit uns sympathisierte und gute Beziehungen zu höheren Polizeibeamten hatte, kam ich in den Besitz eines ordnungsgemäßen Passes auf den Namen Alexander Matiasek.
Ich fuhr von Wien über Passau nach Deutschland zurück. Als ich die Grenze passierte, wo mein Pass kontrolliert wurde und die Beamten mich musterten, wurde mir doch ein bisschen seltsam zumute. Es war immerhin etwas riskant, da ich in keiner Weise verkleidet war. Ich trug nur eine Brille, außerdem hatte ich mein sonst buschiges Haar glatt gescheitelt und den Schnurrbart abrasiert. Von Passau fuhr ich bis Hof, mietete dort ein Auto und überraschte ein paar Wochen vor Weihnachten 1920 meine Freunde in Oelsnitz und Falkenstein durch meine plötzliche Rückkehr.
Für mich bedeutete meine Ankunft im Vogtland eine Befreiung von einem starken seelischen Druck. In Wien hatte ich in Arbeiterkreisen nicht verkehren dürfen, weil ich gerade dort von den Häschern gesucht wurde. Ich hatte mir gute, bürgerliche Kleidung verschafft und lebte nur an Orten, wo die oberen Schichten ihren Vergnügungen nachgingen. Ich besuchte Opern, Theater und Kabaretts sowie viele vornehme Restaurants. Ich wusste, dass ich mit meiner goldenen Brille und meinem gescheitelten Haar in diesen halbfeudalen Kreisen am allerwenigsten für Hoelz gehalten würde.
Nach meiner Ankunft im Vogtlande merkte ich, dass es die allerhöchste Zeit war, dieses illegale Leben in bürgerlichen Kreisen aufzugeben, weil ich mich dadurch den Arbeitern innerlich und äußerlich entfremdet hatte. Sie hatten mich immer als einen der Ihren gekannt, der sich kleidete wie sie selbst und die Sprache sprach, die sie verstanden.
Und nun waren sie enttäuscht, nach kaum sechs Monaten einen Menschen wieder zu sehen, der - so schien es ihnen - Interesse für solche Kleider und allen bürgerlichen Kram hatte. Meine äußere Erscheinung befremdete sie; es war, als ob sich eine Kluft aufgetan hätte zwischen den vogtländischen Arbeitern und mir.
In diesen Tagen fühlte ich, dass alle meine revolutionären Energien wirkungslos verpuffen mussten, wenn meine Handlungen nicht von dem unbedingten Vertrauen der Arbeiter getragen wurden. Dieses fast verloren gegangene Vertrauen wollte ich wiedergewinnen, und dazu war es nötig, die im Ausland angenommenen bürgerlichen Allüren radikal abzustreifen.
Vom Vogtland aus fuhr ich nach Ilten bei Hannover, um meine Angehörigen zu besuchen. Von meiner Anwesenheit in Oelsnitz im Vogtland wussten nur zwei oder drei mir ganz zuverlässig erscheinende Parteigenossen. Dennoch schien ein Spitzel von meiner Anwesenheit erfahren zu haben, denn als ich das Postauto nach Hof besteigen wollte, um von dort mit der Bahn weiterzufahren, sah ich mehrere Kriminalbeamte an der Haltestelle. Ich machte noch rechtzeitig kehrt.
Der Genosse, bei dem ich übernachtet hatte, und seine Frau begleiteten mich nun zu Fuß nach Hof. Während der langen ermüdenden Nachtwanderung wurde ich die Befürchtung nicht los, die Spitzel seien uns auf den Fersen.
Bei der Ankunft in Hof gegen ein Uhr nachts verteilte ich die Rollen so, dass der Genosse und seine Frau zuerst in den Bahnhof gingen, um zu sehen, ob die Luft rein sei, während ich in einem dem Bahnhof gegenüberliegenden Hotel ein Zimmer nahm; wenn Spitzel auftauchten, sollte der Genosse mir kurz vor Abgang des Zuges Bescheid geben.
Ich wartete im Hotelzimmer Stunde um Stunde, es kam niemand.
Ich beschloss, selbst nach dem Bahnhof zu gehen. Aber noch ehe ich das Bahnhofsgebäude betrat, sah ich in den aus der Stadt führenden Straßen auffallend viele Polizisten, die zu dritt oder viert in das Gebäude hineingingen. Mehrere liefen direkt an mir vorüber; da wusste ich, was es geschlagen hatte. Der Genosse und seine Frau waren wahrscheinlich nicht zu mir gekommen, damit sie die
Spitzel und Polizisten nicht auf meine Spur lenkten.
Ich rannte in eine dunkle Seitenstraße, um aus der Nähe des Bahnhofs zu kommen. Da hörte ich hinter mir schnelle Schritte, dann Rufen und Pfeifen. Etwa zwanzig Meter vor mir, etwas seitwärts, befand sich ein ungefähr zwei Meter hoher Bretterzaun, der einen Baumaterialienplatz umschloss. Ich sprang hinüber, zerriss dabei meine Kleider am Stacheldraht und versteckte mich zwischen den aufgestapelten Brettern.
Ein ganzer Stab von Schutzleuten war aufgeboten, die stundenlang die Umgebung absuchten und immer wieder zurückkamen. Überall blitzten Taschenlampen und Blendlaternen.
Ich blieb fast eine Stunde lang unbeweglich in meinem Versteck. Es war eine eisige Novembernacht. Plötzlich hörte ich vor mir ein Rascheln. Bemüht, mit meinem Blick die Dunkelheit zu durchdringen, sah ich dicht vor mir einen großen Wachhund, der mit seiner Nase den Boden beschnupperte. Der Hund konnte mich jeden Augenblick anspringen und mich durch wütendes Gebell verraten. Erschrocken hielt ich den Atem an und schaute mit nicht geringem Entsetzen auf das Biest vor mir. Das Tier aber gab keinen Laut von sich, schnupperte weiter am Boden und machte dann kehrt.
Ein zweites Mal wollte ich mich der Gefahr, durch den Hund entdeckt zu werden, nicht aussetzen und sprang deshalb wieder über den Bretterzaun. Ich kam aus dem Regen in die Traufe. Die
Polizisten suchten mich noch immer. Ich lief, als ob tausend Teufel hinter mir her wären, in eine Richtung, von der ich annahm, dass sie mich aus der Stadt führte. Auf der Flucht kam ich über ein großes Wiesengelände, dessen weite Wasserflächen mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Es blieb mir keine andere Wahl, als bis fast zu den Knien durch das Wasser zu waten oder in die Hände der Verfolger zu fallen, die dicht hinter mir waren; gerade mein schnelles Laufen hatte sie auf mich aufmerksam gemacht. Fast eine Stunde lief ich in diesen halbgefrorenen sumpfigen Wasserwiesen herum, bis ich endlich wieder trockenen Boden gewann und mich außerhalb der Stadt befand.
Es war mittlerweile gegen sechs Uhr morgens geworden. Die um diese Zeit noch herrschende Dunkelheit hatte mein Entkommen begünstigt. Ich befand mich in einem trostlosen Zustande: die Kleider zerfetzt, durchnässt bis auf die Haut, zähneklappernd, todmüde und hungrig, mit Kot bespritzt und ohne Hut; den hatte ich auf der Flucht verloren. Immerhin, es war noch ein Glück, dass mir wenigstens mein dünner Mantel geblieben war, den ich bisher in der Hand getragen hatte und nun über die nassen, beschmutzten und zerrissenen Kleider zog, um den mir bei Tagesanbruch begegnenden Menschen nicht aufzufallen; wärmen konnte der Mantel mich nicht.
Ich lief nach einer kleinen Bahnstation, von der aus ich auf Umwegen nach Hannover fuhr. Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr stieg ich vorsichtshalber eine Station vor Hannover aus und ging den Rest des Weges zu Fuß, um nicht den Spitzeln auf dem Hauptbahnhof zu begegnen.
Der Winter hatte mit voller Macht eingesetzt, es lag hoher Schnee. Ich spürte, dass ich mir eine schwere Erkältung zugezogen hatte.
Meine Frau Klara traf ich zu Hause nicht an. Sie befand sich außerhalb der Stadt, bei meiner Schwester in Ilten. Ich schickte die Quartierwirtin meiner Frau in einer Autodroschke nach Ilten mit dem Auftrag, Klara sofort mitzubringen. In Hannover wollte ich mich nur ganz kurz aufhalten, um dann in aller Stille die Vorbereitungen für die geplante Befreiungsaktion der gefangenen Genossen zu treffen.
Gegen Abend traf meine Frau in Hannover ein. Ich blieb mit ihr nicht in ihrer Wohnung. Wir nahmen ein Zimmerchen bei der Schwester eines zuverlässigen Genossen, im vierten Stock eines Mietshauses.
Nachts gegen zwölf Uhr trommelte es plötzlich an die Wohnungstür. Mein erster Gedanke war: Polizei. Die Wohnungsinhaberin schlief im anderen Zimmer. Sie war klug genug, nicht sofort zu öffnen, ließ ruhig weitertrommeln und sagte bloß: »Ja, ja, lasst mir doch Zeit, ich muss mich erst anziehen.«
In der Zwischenzeit stürzte sie in unser Zimmer und fragte, was sie tun sollte. Ich raffte in aller Eile meine Sachen zusammen, da ich keine Zeit mehr hatte, mich anzuziehen, hängte mir die Schuhe um den Hals, nahm alles übrige in die Hände, damit die Polizei nichts von mir vorfinden sollte. Durch ein kleines Fenster kletterte ich auf das Dachgesims - nicht ohne vorher die Frau zu bitten, hinter mir das Fenster zu schließen und einen Wecker davor zu stellen - und kroch von dort über das schneebedeckte, steile Dach. Dort versteckte ich mich hinter einem Schornstein.
Nur halb angezogen, kauerte ich frosterstarrt und zähneklappernd bis zum frühen Morgen, vergeblich auf ein Zeichen wartend, um endlich meinen fürchterlichen Aufenthaltsort verlassen zu können. Gegen sechs Uhr früh waren meine Glieder so erstarrt, dass ich lieber der Polizei in die Hände fallen wollte, als vom Dach herunterzustürzen. Selbst mit Aufbietung aller Energie konnte ich mich nicht mehr festhalten, deshalb machte ich die halsbrecherische Klettertour zurück. Ich fand die Wohnung leer und befürchtete, dass sowohl meine Frau als auch die Schwester des Genossen verhaftet worden seien. Erst nach ein paar Stunden kehrten die Frauen zurück und erzählten, dass sie die Polizei auf eine falsche Spur gebracht hätten.
Am Tage erfuhr ich, dass ich diesmal durch den unverantwortlichen Leichtsinn meiner Frau Klara und meiner Schwester fast verhaftet worden wäre.
Die beiden hatten acht Tage vorher in einem Cafe in Hannover die Bekanntschaft von zwei Herren gemacht, die sich als Jockeis ausgaben. Meine Schwester lud die Burschen mehrfach in ihr Haus nach Ilten ein. Klara war bei diesen Zusammenkünften stets zugegen. Die beiden angeblichen
Jockeis bekundeten starkes Interesse für meine Schwester und Klara - und die beiden Frauen liefen nichts ahnend auf die ihnen vorgelegten, gezuckerten Leimruten.
In der Nacht vor meiner Ankunft in Hannover waren die beiden Männer wiederum mit meiner Frau und meiner Schwester in Ilten zusammengewesen. Sie zechten die Nacht hindurch und hatten bei dieser Gelegenheit wohl herausbekommen, dass ich meiner Frau von Wien aus meine Ankunft angekündigt hatte. Als Klara mit dem Auto abgeholt wurde, waren die Spitzel schlau genug, sich die Nummer der Droschke zu merken. Sie fuhren gemächlich nach Hannover zurück und erforschten bei dem Chauffeur sowie bei der Wirtin meiner Frau, die sie einschüchterten und der sie Geld versprachen, unser Quartier.
Als ich von der Straße aus das verschneite Dach sah, auf dem ich mich nachts aufgehalten hatte, war es mir und dem Genossen, der mich begleitete, unfassbar, dass ich bei der halsbrecherischen Klettertour nicht abgerutscht war. Solche gewagten »Kunststücke« können wohl nur Menschen ausführen, die entweder mondsüchtig oder irrsinnig sind oder in Todesverzweiflung handeln.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Braunschweig, wo ich unerkannt blieb, reiste ich in der zweiten Hälfte des Dezember 1920 nach Berlin, um mit bestimmten Genossen zu sprechen, die an der geplanten Befreiungsaktion mitwirken sollten. Ich hatte keine persönliche Fühlung mit führenden Genossen, kam aber in Verbindung mit den führenden Persönlichkeiten der KAPD. Mit ihrer Taktik war ich nie einverstanden, obwohl sie immer meinten, ein Mensch mit meinem Temperament könne nur auf ihrer Seite stehen. Insbesondere meine scharfe Kritik an dem Verhalten Brandlers, Heckerts und anderer zur Zeit des Kapp-Putsches führender Genossen bestärkte die KAPD-Leute in ihrer Annahme, dass ich ihre politische Linie als allein richtige wählen müsse.
In Arbeiterkreisen, vor allem in Kreisen der Genossen, die sich zur KPD oder KAPD rechnen, ging die Auffassung über die politische Lage in Deutschland dahin, dass sich die monarchistische Reaktion nicht mit der Niederlage im März begnügen werde, sondern dass sie bereits mit allen Kräften an der Vorbereitung eines neuen Vorstoßes arbeite. Die Arbeiterschaft sei um ihrer selbst willen gezwungen, diesmal den Gegner ganz anders zu packen: nicht nur den Angriff abwehren, sondern selber angreifen. Ferner müssten die Arbeiterschaft und die politischen und gewerkschaftlichen Arbeitervertretungen alles tun, um Sowjetrussland bei der Erhaltung und dem Aufbau der Sowjetmacht zu unterstützen und den ersten Arbeiterstaat der Welt gegen seine Feinde zu schützen. Dazu gehörte aber auch, die Widererstarkung der Reaktion in Deutschland zu verhindern, sie niederzuhalten und sie gänzlich zu vernichten.
Die klassenbewusst denkenden Arbeiter waren sich absolut klar darüber, dass in dieser Zeit fortwährender wirtschaftlicher und politischer Spannungen - Beginn der Inflation, Polenkrieg, Fabrikbesetzungen in Italien - jeden Augenblick wieder eine ähnliche Situation in Deutschland eintreten konnte wie im März 1920. Die Warnungsrufe der Kommunistischen Partei Deutschlands fanden starken Widerhall in den Kreisen der Arbeiterschaft. Es galt, wachsam zu sein und in erhöhter Alarmbereitschaft zu bleiben. Nicht die schlechtesten Elemente forderten damals von den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, zur Offensive überzugehen.
Ich selbst hatte erkennen gelernt, dass es nicht genügt, sich gefühlsmäßig auf die Seite der unterdrückten, besitzlosen Klasse zu stellen, sondern dass man für die soziale Revolution auch mit all den Mitteln kämpfen muss, die ich im Krieg verachten gelernt hatte. Ich war aus dem Krieg als Pazifist heimgekehrt.
Aus den Vorgängen im Vogtland und aus meiner Beschäftigung mit der Theorie und Praxis des Klassenkampfes lernte ich aber, dass sich die Befreiung der Arbeiterschaft nicht durch wirtschaftliche oder politische Reformen erreichen lässt, sondern dass der Kampf um die politische Macht notwendig ist und mit allen Mitteln geführt werden muss. Denn die Bourgeoisie hält die wirtschaftliche Knechtung der Arbeiterschaft mit allen Mitteln der Gewalt aufrecht. Durch meine Vertiefung in das Wesen der proletarischen Revolution war ich zur Einsicht gekommen, dass man die soziale Revolution nicht mit einem bewaffneten Putsch herbeiführen kann, sondern dass sie das Resultat bestimmter wirtschaftlicher Bedingungen und sozialer Kräfte ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass man die Revolution durch Aktionen fördern kann.
Sofern aber eine der politischen Arbeiterorganisationen einen Massenaufstand und eine bewaffnete Aktion vorbereitet hätte, würde ich mich ohne Bedenken dafür zur Verfügung gestellt haben. Nur eine bewaffnete Aktion - allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen - kann zur Ergreifung und Behauptung der Macht durch das Proletariat führen. Da ich aber von einer solchen Vorbereitung weder etwas sah noch hörte, beschränkte ich mich lediglich darauf, den noch vom Kapp-Putsch her eingekerkerten Genossen Erleichterung zu verschaffen und an ihrer gewaltsamen Befreiung zu arbeiten. Zu diesem Zwecke organisierte ich in Berlin, Braunschweig und im Vogtlande etwa 50 Genossen, die ich bewaffnete und mit Fahrrädern ausstattete. Die Geldmittel, die ich dafür verwendete, stammten noch aus den während des Kapp-Putsches von den vogtländischen Kapitalisten erhaltenen Kontributionsgeldern. |
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