Sechsundvierzig Stunden in den Händen der weißen Mörder
Nach dem Gefecht bei Beesenstedt, dem letzten Aufflackern des mitteldeutschen Aufstandes, die zerstreuten Kräfte erneut zu sammeln, war nach Lage der Dinge absolute Unmöglichkeit. Das Auf-
Standsgebiet glich einem einzigen Heerlager der Sipo und Reichswehr. Und es war außerordentlich schwierig für die zersprengten und verstreuten revolutionären Kämpfer, aus dieser Umklammerung herauszukommen.
Als sie die Saale im Rücken hatten, trennten sich die Arbeiter in Gruppen von vier bis sechs Mann; aber auch diese geringe Zahl war noch zu auffällig, und wir mussten versuchen, zu zweit, höchstens zu dritt, den Marsch ins Ungewisse fortzusetzen. Mit mir gingen der Genosse Thiemann und ein ortskundiger Genosse, der uns führte. Wir wurden noch immer von dem nachdrängenden Gegner beschossen. Überall tauchten Radfahrerpatrouillen und Lastautos voll Sipos und Reichswehr auf.
Gegen sieben Uhr abends, nachdem wir fünf Stunden lang über weichen Ackerboden marschiert waren, immer die Landstraßen meidend, gelangten wir in die Nähe von Könnern. Zweitausend Meter vor dem Ort sahen wir plötzlich in kaum vierhundert Meter Entfernung ausgeschwärmte Sipo vor uns. Wir drei warfen uns rasch in den etwa einen halben Meter tiefen Graben des Feldweges, der nach Könnern führt, und krochen auf allen vieren vielleicht fünfhundert Meter, bis uns das Blut von den Knien rann. Dadurch hatten wir die Schützenlinie der Sipo umgangen und konnten nun gehend unsern Weg fortsetzen. Die Waffen verbargen wir unter einer Schleuse, um eventuell als völlig harmlose Wanderer durchzukommen. In Könnern war kurz vorher eine Abteilung süddeutscher Zeitfreiwilliger eingetroffen, der wir jetzt direkt in die
Hände liefen. Auf die Frage, wie ich hieße, antwortete ich: »Reinhold König«. Auf diesen Namen trug ich Ausweispapiere bei mir. Unter Kolbenstößen und Fußtritten mussten wir im Eiltempo nach dem Bahnhofsgelände laufen, wo sich bereits etwa zwanzig gefangene Arbeiter befanden. Jeden Augenblick wurden neue gebracht.
Ich konnte nun Vergleiche zwischen der Menschlichkeit der Arbeiter und der Grausamkeit und Rohheit der monarchistischen Schildhalter anstellen.
Diese bezahlten Menschenjäger trugen durchweg neue feldgraue Uniformen mit silbernen Abzeichen, Stahlhelme, Karabiner, Seitengewehre, Trommelrevolver und Gummiknüppel. Bei vielen sah ich auch Totschläger.
Alle Gefangenen wurden mit Gummiknüppeln und Kolbenstößen traktiert. Dabei fragten die Zeitfreiwilligen zu Hunderten von Malen: »Na, wo habt ihr denn euren Hölsch?« (Hoelz). Eine Rückfrage in Ammendorf hätte ergeben, dass meine Papiere, die man mir abgenommen, wohl echt, jedoch nur geborgt waren. Auch die zahlreich vorhandenen Sipo- und Zeitfreiwilligenspitzel konnten leicht in mir den Hoelz erkennen, sofern sie sich nicht durch die Brille, die ich mir aufgesetzt hatte, täuschen ließen.
Nach einigen Stunden mussten die Gefangenen unter »Hände hoch!« auf den Perron treten und in kleinen Gruppen von drei bis vier Mann in den bereitstehenden Zug steigen. Ich kam mit Thiemann und zwei anderen Genossen in ein Abteil.
Vier Zeitfreiwillige übernahmen unsere Bewachung. Jeder hielt seinem Gefangenen den Trommelrevolver an die Stirn. Nach schweren Misshandlungen mit Totschlägern und Seitengewehren kamen wir mitten in der Nacht in Sangerhausen an. In diesem Ort musste ich bestimmt damit rechnen, erkannt zu werden. Bei dem Gefecht mit der Besatzung des Panzerzuges hatten mich hier Hunderte von Einwohnern gesehen.
Vom Augenblick meiner Verhaftung an glaubte ich nicht mehr an ein lebendes Entkommen. Mit meiner baldigen Abreise ins Nichts hatte ich mich abgefunden.
Unter »Hände hoch!« und harten Kolbenstößen wurden wir in den Keller des Bahnhofsgebäudes hineingestoßen. In diesem dreckigen, stinkigen Raum hockten etwa fünfzig bis sechzig gefangene Arbeiter mit blutigen und geschwollenen Gesichtern, in denen man die Augen kaum sehen konnte. Manche hatten faustgroße Beulen am Kopf. Viele lagen wie tot am Boden.
Den Genossen Thiemann fragte ein Offizier, was er bei der Roten Armee gemacht habe. Er antwortete: »Kompanieführer«. Darauf stieß ihm ein danebenstehender Unteroffizier den Gewehrkolben mit solcher Wucht gegen die Brust, dass Thiemann lautlos nach hinten fiel. Ich sprang auf, um weitere Misshandlungen von ihm abzuhalten. Nun richtete die Meute ihre ganze Wut gegen mich.
Während der Nacht kamen ununterbrochen Sipo und Zeitfreiwillige in den Keller und übten ihren Heldenmut an wehrlosen Gefangenen. Den zusammengebrochenen Arbeitern, die teils bewusstlos, teils erschöpft am Boden lagen, traten die Ordnungshüter in viehischer Weise mit den Stiefelabsätzen ins Gesicht, damit sie aufstehen sollten. Viele wurden einzeln aus dem Kerker herausgeholt; einige kehrten wieder zurück, andere nicht.
Ihre Notdurft mussten die in dem Keller befindlichen Genossen in einer Ecke verrichten. Was das bei fünfzig Menschen in einem so winzigen Raum bedeutet, kann sich jeder vorstellen.
Ein Sangerhauser Einwohner, Sohn des Führers der dortigen Deutschnationalen und Mitglied der Einwohnerwehr, war bei unserem Gefecht gegen den Panzerzug von uns als Spitzel verhaftet und zwei Tage lang festgehalten worden. Er hatte reichlich Gelegenheit gehabt, sich mein Gesicht einzuprägen. Dieser Mensch leistete jetzt den weißen Mördern Spitzeldienste. Mehrmals kam er mit den Polizisten in den Keller, leuchtete jedem der Gefangenen ins Gesicht und erklärte dabei selbstsicher: »Ich kenne den Hoelz ganz genau, mir hat er ein paar Ohrfeigen gegeben.« Dass er mich trotzdem nicht erkannte, war mir unbegreiflich.
Meine Genossen waren in Bezug auf meine Freilassung sehr zuversichtlich, jedenfalls zuversichtlicher als ich selbst. Wer glaubhaft nachweisen konnte, dass er am Aufstande nicht beteiligt war, hatte Aussicht, aus dieser Folterkammer herauszukommen.
Ich versprach den Genossen, falls man mich laufen ließe, alle meine Kraft für ihre Befreiung einzusetzen. Am zweiten Tage verlangte ich kategorisch meine Vernehmung. Sonntag, den 3. April, nachmittags gegen drei Uhr wurde nach Reinhold König gerufen. Der sich meldende »König« sah sehr geknickt aus. Es war ein gewagtes Spiel, aber ich hatte nichts mehr zu verlieren; bestenfalls konnte ich gewinnen.
Im Bahnwagen, der als Vernehmungsbüro diente, saßen an einem langen Tisch mehrere Offiziere und Oberwachtmeister. In einer Ecke stand zu meinem nicht geringen Schrecken der Spitzel, der »mich genau kannte«. Ich rechnete jede Sekunde damit, dass man mir auf den Kopf zusagte, ich sei Hoelz. Meine Hoffnung war auf Null gesunken. Der Spitzel besah scharf jeden Vorgeführten. Bei Beginn des Verhörs beschwerte ich mich über die bereits zwei Tage dauernde Haft und die Misshandlungen. Ich erklärte - und dachte bei mir: >Jetzt kann dich nur noch faustdicker Schwindel retten< -, ich sei am Freitagmorgen mit meinem Fahrrad von Ammendorf fortgefahren, um auf dem Land Eier zu kaufen. Bei Beesenstedt sei ich durch die Schießerei zwischen Arbeitern und Polizei von meinem Weg abgedrängt worden. Mein Rad und die Eier hätten die Zeitfreiwilligen an sich genommen, die mich verhafteten. Warum, wisse ich nicht, verlange jetzt aber den Grund zu erfahren. Es sei ein schwerer Missgriff, völlig harmlose, unbeteiligte Leute festzuhalten. Ich forderte meine Freilassung, da sich Frau und Kinder bestimmt sehr um mich bangten. Sie wüssten nicht einmal, wo ich sei.
Ein Beamter protokollierte meine Aussage, und ich unterschrieb. Meine Papiere wurden eingehend geprüft, sie waren in Ordnung: Reinhold König lebte, hatte drei Kinder, bezahlte seine Steuern; wo er selbst im Augenblick war, konnte ich nicht wissen, ich war jedenfalls hier. Man erklärte mir, dass meine Verhaftung ein Missgriff sei. Der Offizier entschuldigte sich, ich war entlassen. Ich sagte aber, dass ich ja an der nächsten Ecke wieder verhaftet werden könnte, und ersuchte um einen Passierschein. Darauf wurde mir meine absolute Harmlosigkeit amtlich bescheinigt.
Nun war ich frei. Aber der erste Schritt, den ich außerhalb des Bahnwagens machte, konnte mir zu neuem Verhängnis werden. Es brauchte nur einer zu rufen: »Das ist der Hoelz!« Ich musste versuchen, schnellstens aus dem Ortsbereich zu kommen.
Ohne eine Straße zu berühren, lief ich aufs Geratewohl den Bahndamm entlang. An einem Bach löschte ich meinen Durst und wusch mir zum ersten Mal seit drei Tagen Gesicht und Hände. Das Gesicht, das mir aus meinem Taschenspiegel entgegengrinste, war entsetzlich! Das war nicht das Gesicht eines Mannes, sondern das einer müden Greisin. Jetzt verstand ich, warum der Spitzel und auch andere mich nicht erkannt hatten. In dieser Verfassung hätten mich nicht einmal meine Angehörigen erkannt.
Mich ergriff tiefe Trauer, fast Mutlosigkeit. Ich dachte an die revolutionären Arbeiter und Genossen, die noch in dem Keller waren, alles ehrliche, treue Kämpfer. War es nicht feig von mir, mich selbst in Sicherheit zu bringen, während sie weiter von ihren Peinigern gequält wurden? Aber ich durfte jetzt meine Freiheit nicht dem Gefühl opfern. Ich konnte und musste in Freiheit den Genossen mehr nützen als dort im Keller. Sie hatten mein Versprechen, dass ich alles Menschenmögliche für sie und ihre Angehörigen tun werde - dieses Versprechen musste Tat werden. |
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