ZWEITER TEIL
Acht Jahre in Deutschen Zuchthäusern
Du bist nun ein gefangener Mann
Ehe ich in meinem Bericht fortfahre, lasse ich die Paragraphen der »Hausordnung« sprechen, der ich ausgeliefert war, als ich ins Zuchthaus Münster eingeliefert wurde. Diese Paragraphen, die noch aus dem alten Preußen stammten, veranschaulichen den wahren Sinn des Begriffes »Zuchthaus« in seiner ganzen Unbarmherzigkeit und Heuchelei. Wenn es bei dem Beschluss der Richter blieb, sollte mein ganzes weiteres Leben ein hoffnungsloses Dahinsiechen im Schatten folgender Paragraphen aus dem Jahre 1903 sein:
»Hausordnung der Strafanstalt Münster i. W. (Stark gekürzter Auszug.) Vorwort.
Du bist nun ein gefangener Mann! Die eisernen Stäbe Deines Fensters, die geschlossene Tür, die Farbe Deiner Kleider sagt Dir, dass Du Deine Freiheit verloren hast. Gott hat es nicht leiden wollen, dass Du länger Deine Freiheit zur Sünde und zum Unrecht missbrauchst; darum rief er Dir zu:
>Bis hierher und nicht weiter!<
Die Strafe, die der menschliche Richter Dir zuerkannt, kommt von dem ewigen Richter, dessen Ordnung Du gestört und dessen Gebot Du übertreten. Du bist hier zur Strafe, und alle Strafe wird als ein Übel empfunden; vergiss nie, dass niemand daran schuld ist als Du allein!
Aber aus der Strafe soll für Dich ein Gutes hervorgehen. Du sollst lernen, Deine Leidenschaften beherrschen, schlechte Gewohnheiten ablegen, pünktlich gehorchen, göttliches und menschliches Gesetz achten, damit Du in ernster Reue über Dein vergangenes heben Kraft gewinnest zu einem neuen, Gott und Menschen wohlgefälligen! So beuge Dich unter Gottes gewaltige Hand, beuge Dich unter das Gesetz des Staates! Beuge Dich auch unter die Ordnung dieses Hauses; was sie gebietet, muss unweigerlich geschehen. Besser also, Du tust gutwillig als dass Dein böser Wille gebrochen wird! Du wirst Dich wohl dabei befinden und die Wahrheit jenes Wortes wird sich an Dir bewähren: >Alle Züchtigung wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein. Darnach aber wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübet sind.<
Das walte Gott!
§ 1. Allgemeines Verhalten.
Den Gefangenen ist alles verboten, was gegen die gute Sitte oder die Gesetze des Staates verstößt. Verlangt wird von ihnen vor allen Dingen Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Fleiß, Ordnung Reinlichkeit, Wohlanständigkeit.
Im übrigen haben sich die Gefangenen in jeder Beziehung den Gesetzen des Hauses zu unterwerfen, die von den Beamten mit Unparteilichkeit, aber auch mit Ernst und Strenge gehandhabt werden.
§2. Beamte.
Die Beamten der Anstalt sind folgende: der Direktor, die Inspektoren, der Sekretär, der Assistent, der Hausvater, der Oberaufseher, die Anstaltswerkmeister und die Aufseher. Diesen liegt unmittelbar die Handhabung der Disziplin ob. Außerdem gehören zu den Beamten der Anstalt: die Geistlichen, der Arzt und die Lehrer. Allen Beamten sind die Gefangenen Ehrerbietung und unbedingten Gehorsam schuldig. Wird den Gefangenen etwas befohlen oder abgeschlagen, so dürfen sie keine Widerrede haben noch murren, wenn sie sich nicht strenge Bestrafung zuziehen wollen. Glauben sie, dass ihnen Unrecht geschehen ist, so können sie in geziemender Weise durch den Aufseher bei dem Direktor sich melden lassen und diesem ihre Beschwerden vortragen... Wer sich ohne Grund beschwert, falsche Anschuldigungen macht, mit Lügen umgeht, wird bestraft!. . .
Der in Einzelhaft befindliche Gefangene hält, sobald ein Beamter die Zelle betritt, mit der Arbeit inne und erwartet in gerader, ordentlicher Haltung dessen Anrede. In der gemeinsamen Haft geschieht solches auf Kommando des Stationsaufsehers von allen oder von dem Gefangenen, wenn der Beamte ihn anredet!...
Die Beamten haben strenge Zucht unter den Gefangenen zu halten, sie sind ihnen aber auch wohlmeinende Freunde, die für ihr Leid Teilnahme haben und ihnen zur Besserung helfen wollen.
§ 3. Verkehr mit den Gefangenen.
Der Verkehr der Gefangenen untereinander ist verboten. Jeder Versuch der Gefangenen der Einzelhaft, mit ihren Nachbarn durch Sprechen, Klopfen, Schreiben usw. in Verbindung zu treten, wird streng bestraft...
In der gemeinsamen Haft haben die Gefangenen jeder auf seinem Platz schweigend zu arbeiten; ohne Erlaubnis des Aufsehers darf der Arbeitsplatz nicht verlassen werden.
Das Zustecken oder Austauschen von Speisen oder anderen Gegenständen wird streng bestraft.
§4. Aufnahme.... Mitgebrachte eigene Gelder, Wertpapiere und Wertgegenstände werden von der Anstaltskasse zur Bestreitung der Strafvollstreckungskosten eingezogen, wenn letztere nicht auf andere Weise von dem Vermögen des Gefangenen bezahlt werden. Von der Einziehung zur Anstaltskasse befreit sind Invalidenpensionen, Unfallrenten, im Zuchthaus oder Gefängnis erworbene Arbeitsbelohnungen, gewöhnliche Taschenuhren, soweit diese nicht von Gold sind, Trauringe und die von unvermögenden Gefangenen mitgebrachten Geldbeträge bis zur Höhe von drei Mark. Der Versuch, von den mitgebrachten Sachen etwas zu verheimlichen, wird streng bestraft.
§ 5. Wohnung.
Jeder Gefangene wird zunächst in einer Zelle in Einzelhaft, das heißt unausgesetzt Tag und Nacht von anderen Gefangenen getrennt gehalten.
... Die Einzelhaft darf ohne Zustimmung des Gefangenen die Dauer von 3 Jahren nicht übersteigen.
Die Einzelhaft soll den Gefangenen vor der Verschlechterung durch andere Gefangene bewahren, den eingehenden Verkehr mit den Beamten der Anstalt ermöglichen, ihm Zeit und Gelegenheit geben, sich in seinen freien Stunden ungestört mit Lesen, Schreiben, Zeichnen usw. zu beschäftigen und im ernsten Nachdenken über seine Vergangenheit gute Vorsätze für die Zukunft zu fassen. Ob die Einzelhaft vor der gesetzlichen Dauer von 3 Jahren aufhören soll, bestimmt der Direktor.
Einzelhaft ist ausgeschlossen, wenn von derselben eine Gefahr für den körperlichen oder geistigen Zustand des Gefangenen zu besorgen ist....
Das Zelleninventar ist sorgfältig zu schonen... Die Fußböden dürfen nicht mit Ausspucken oder Ausschnauben verunreinigt werden... Die Zelleneimer müssen stets sauber und blank geputzt sein... Die Abtrittsgefäße sind nach der Reinigung innen und außen sauber abzureiben...
§6. Kleidung.... Den Gefangenen wird das Haar kurz geschoren und der Bart abgenommen...
§7. Tagesordnung.... Die Gefangenen müssen, wenn das Zeichen zum Aufstehen gegeben ist, sofort aufstehen, ihr Bett vorschriftsmäßig machen und das Fenster öffnen, welches erst bei Beginn der Arbeit wieder geschlossen werden darf...
§8. Arbeit.
... der fleißige, sorgfältige Arbeiter wird durch eine Arbeitsbelohnung belohnt, der faule und nachlässige wird bestraft...
§9. Arbeitsbelohnung und deren Verwendung.
Um den Gefangenen zu fleißigem Arbeiten anzuspornen und ihm bei der Entlassung die Mittel zur Rückkehr zu einem geordneten Leben zu bieten, wird eine Arbeitsbelohnung gewährt. Nur die Gefangenen können sie erhalten, welche den Anforderungen der Anstalt an Fleiß und Leistungen genügen; je größer der Fleiß und die Leistungen, desto höher die Arbeitsbelohnung...
Den Zuchthausgefangenen kann der Ankauf von Zusatznahrungsmitteln ausnahmsweise gestattet werden, wenn sie drei Jahre Strafe verbüßt haben und der Betrag der Arbeitsbelohnung mindestens 30 Mark beträgt. Zum Ankauf darf monatlich nur die Hälfte der im zweitletzten Monate gutgeschriebenen Arbeitsbelohnung jedoch keinesfalls mehr als eine Mark verwendet werden...
... Den Gefangenen steht ein rechtlicher Anspruch auf Gewährung einer Arbeitsbelohnung nicht zu; dieselbe ist vielmehr nur ein Geschenk...
§10. Beköstigung. Die Beköstigung der gesunden Gefangenen besteht aus; Morgens 1/2 Liter Kaffee, mittags 1 Liter Mittagsgericht, abends 3/4 Liter Suppe und täglich 550g Brot. Einer beschränkten Anzahl von Gefangenen, die besonders schwere Arbeit zu leisten haben, und solchen, die körperlich abgenommen haben und bei denen der Arzt es für erforderlich hält, können, sofern sie Gesundenkost erhalten, tägliche Ernährungszulagen in folgenden 3 Formen gewährt werden:
Zulage I: 150 g Brot mit 10 g Schmalz bestrichen
und 1 Portion Kaffee, Zulage IL 150 g Brot mit 20 g Schmalz bestrichen
und 1 Portion Kaffee, Zulage III: 150g Brot mit 20g Schmalz bestrichen
und 1 Portion Kaffee und 50g Speck.
§12. Besuche und Briefe.
Jeder Gefangene darf in der Regel alle 3 Monate einmal Besuch von Angehörigen in Gegenwart eines Beamten der Anstalt empfangen.
Der schriftliche Verkehr der Gefangenen, welche alle drei Monate einen Brief empfangen und absenden dürfen, unterliegt der Aufsicht des Direktors, bei ihm ist die Erlaubnis zum Briefschreiben nachzusuchen. Alle Briefe gehen durch die Hand des Direktors, die eingehenden Briefe sind daher frankiert an die Direktion der Strafanstalt Münster i.W. zu richten und ist im Briefe der Name des Gefangenen, an welchen er gerichtet ist, deutlich zu vermerken.
Eingaben an die zuständigen Gerichte, Staatsanwaltschaften und Aufsichtsbehörden werden nicht zurückbehalten. Eingaben an andere Behörden und Briefe an Privatpersonen werden zurückgehalten, wenn sie beleidigenden oder sonst strafbaren Inhalts sind. Wird ein für den Gefangenen eingegangener Brief nicht übergeben oder eine Eingabe oder ein Brief des Gefangenen zurückgehalten, so wird ihm davon unter Angabe des Grundes und eventuell unter Auferlegung einer Strafe Kenntnis gegeben. Zurückgehaltene Briefe und Eingaben werden zu den Personalakten genommen.
Die dem Gefangenen ausgehändigten Briefe und Zustellungsurkunden usw. dürfen weder beschrieben noch zerrissen werden. Die Briefe sind in einem dazu bestimmten Umschlage sorgfältig aufzubewahren und die Zustellungen usw. drei Tage nach deren Empfang dem Aufseher zurückzugeben, damit sie in den Personalakten verwahrt werden.
§13. Belohnungen.
... Die vorläufige Entlassung kann niemals als ein Recht in Anspruch genommen werden; sie bleibt stets nur eine Vergünstigung; gute Führung allein berechtigt noch nicht zur Hoffnung auf dieselbe, sondern die Beamten müssen unter Berücksichtigung des früheren Lebens, der verbrecherischen Tat und der Verhältnisse, in welche der Gefangene zurückkehrt, die Überzeugung gewinnen, dass er sich gebessert habe und in ein verbrecherisches Leben nicht zurückfallen werde. Rückfällige Verbrecher gegen das Eigentum können nur in seltensten Ausnahmefällen auf vorläufige Entlassung hoffen.
Wenn ein Gefangener bei außerordentlichen Ereignissen, z. B. bei Unterdrückung eines Aufruhrs oder einer Feuersbrunst oder bei Wiederergreifung eines Entwichenen usw., sich besonders hervorgetan hat, so kann ihm hierfür eine Belohnung bis zur Höhe von 15 Mark bewilligt werden.
§14. Strafen. Für schlechte Führung können folgende Disziplinarstrafen in Anwendung kommen:
1. Verweis,
2. Entziehung hausordnungsmäßiger Vergünstigungen, insbesondere der Besuche, des Briefwechsels, der Verfügung über die Arbeitsbelohnung bis zur Dauer von drei Monaten, sowie Verlust der Arbeitsbelohnung bis zum Betrag der drei letzten Monate.
3. Entziehung der Bücher und Druckschriften weltlichen Inhalts bis auf die Dauer von 4 Wochen.
4. Bei Einzelhaft Entziehung der Arbeit bis auf die Dauer einer Woche.
5. Entziehung der Bewegung im Freien bis auf die Dauer einer Woche.
6. Entziehung des Bettlagers bis zur Dauer einer Woche.
7. Schmälerung der Kost durch Entziehung der warmen Morgen- oder Mittag- oder Abendkost oder durch Beschränkung der Kost auf Wasser und Brot. Die Schmälerung darf nur einen um den anderen Tag zur Anwendung kommen und nicht über eine Woche ausgedehnt werden.
8. Fesselung bis zur Dauer von 4 Wochen. Die Fesselung kann erfolgen:
an den Händen durch einfache Handschellen, sowie durch Handschellen an einer 50 cm langen eisernen Stange; an den Füßen durch Fesselung an einem Fuße oder an beiden Füßen durch Beinschellen mit Kette; an Händen und Füßen zugleich.
9. Einsame Einsperrung. Dieselbe kann bestehen:
a) in einfachem Arrest bis auf die Dauer von 6 Wochen. Derselbe wird in einer Zelle unter Entziehung der Arbeit und Bücher weltlichen Inhalts verbüßt. Die etatmäßige Portion der warmen Mittags- und Abendkost wird auf 3/4 Liter und 1/2 Liter herabgesetzt. Der Bestrafte darf die Zelle nur zur hausordnungsmäßigen Bewegung im Freien verlassen;
b) in Mittelarrest bis auf die Dauer von 6 Wochen. Derselbe wird in den Strafgelassen der Anstalt ohne Arbeit und Lektüre, geschärft durch harte Lagerstätte (Pritsche) und Beschränkung der Kost auf Wasser und Brot, verbüßt. Am vierten, achten, elften und von da ab an jedem dritten Tag sind die geminderte Kost, wie unter a, sowie Strohsack, Kopfkissen und Lagerdecke auf der Pritsche zu gewähren. Der Bestrafte darf die
Arrestzelle nur zur hausordnungsmäßigen Bewegung im Freien verlassen;
c) in strengem Arrest bis auf die Dauer von vier Wochen. Derselbe wird wie der Mittelarrest, jedoch unter Verdunkelung des Strafgelasses, die an den schärfungsfreien Tagen in Wegfall kommt, vollzogen. 10. Körperliche Züchtigung bis zu 30 Hieben.
Die Strafen unter 1 bis 4 können miteinander verbunden werden. Mit der Arreststrafe kann der Verlust der Arbeitsbelohnung (Nr. 2) und die Fesselung (Nr. 8) und muss die Entziehung der Verfügung über die Arbeitsbelohnung mindestens für die Dauer des Arrestes verbunden werden.
Sicherungsmaßregeln. Als Sicherungsmaßregeln gegen einzelne Gefangene sind zulässig:
1. Absonderung bis auf die Dauer von drei Monaten, die auch verhängt werden kann, wenn der Gefangene schon drei Jahre seiner Strafe in Einzelhaft verbüßt hat.
2. Einsperrung in ein Strafgelass bis auf die Dauer von 14 Tagen.
3. Einsperrung in die Tobzelle bei Wutausbrüchen mit Toben und Schreien oder Zerstören von Gegenständen bis zur Beruhigung.
4. Fesselung wie in §14,8 nach einem Flucht- oder Selbstmordversuche oder nach einem tätlichen Angriffe auf Beamte oder andere Personen bis auf die Dauer von drei Monaten. Die Fesselung ist auch zulässig wenn der Gefangene auf dem Transporte einen Fluchtversuch oder tätlichen Angriff gemacht hat.
5. Anlegung der Zwangsjacke zur Bewältigung augenblicklichen tätlichen Widerstandes bis zur Dauer von 6 Stunden.
§ 15. Gottesdienst und Schule.
An allen Sonn- und Festtagen findet evangelischer und katholischer Gottesdienst statt... An den Gottesdiensten haben sämtliche Gefangenen teilzunehmen...
Abends, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage, findet eine Abendandacht statt in der Weise, dass vom Sängerchor in der Zentralhalle ein Lied gesungen und danach ein stilles Gebet verrichtet wird. Die Gefangenen haben während der Zeit still an ihrem Tisch in der Zelle zu sitzen, das Gesicht nach der Zellentüre, und dürfen ihren Platz erst dann verlassen, wenn das Signal mit der Glocke zum Abtreten der Sänger gegeben ist.
Während des Gottesdienstes und der Schule hat der Gefangene gerade und ordentlich zu sitzen. Ausspucken in den Einzelsitzen ist verboten.
Ehe der Gefangene zur Kirche oder Schule die Zelle verlässt, hat er sein Bedürfnis zu verrichten.
§16. Bibliothek.
Aus der Bibliothek wird den Gefangenen in der Regel einmal wöchentlich durch den Lehrer ein Buch zum Lesen in den Mußestunden verabreicht.
...Im Einzelfalle kann der Direktor die Benutzung von Büchern gestatten, die nicht der Anstaltsbibliothek entstammen.
§17. Verhalten bei besonderer Veranlassung.... Der Gefangene soll keine Krankheit, auch nicht aus falscher Scham, verheimlichen, aber auch keine Krankheit übertreiben oder erdichten; das letztere wird streng bestraft....
§18. Entlassung der Gefangenen.
Die Entlassung der Gefangenen erfolgt zu der Tageszeit, welche nach der von der Staatsanwaltschaft als Beginn der Strafe bezeichneten Stunde berechnet ist...
Es wird darauf gesehen, dass der Gefangene in reinlicher, seiner künftigen Lebensstellung entsprechender Kleidung ins bürgerliche Leben zurückkehrt und dazu in erster Linie sein Guthaben verwendet...
Am Entlassungstage wird dem Gefangenen das aus seinem Guthaben unumgänglich nötige Reisegeld behändigt.
Etwa sechs Wochen vor Ablauf der Strafzeit werden die Gefangenen ausdrücklich von dem Sekretär befragt, wohin sie entlassen werden wollen und ob sie Fürsorge wünschen. Der Direktor und die Geistlichkeit übernehmen die Vermittlung dieser Hilfe.
In allen Provinzen sind Fürsorgeeinrichtungen getroffen, um den Gefangenen Arbeit und Unterkommen zu beschaffen in Verhältnissen, die ihn vor Rückfall bewahren. Die Fürsorgetätigkeit liegt den kirchlichen Organen (Gemeindekirchenräte, Presbyterien) und den eigentlichen Fürsorgevereinen ob.
Das dem Gefangenen bei der Entlassung zuteil werdende Geschenk aus dem Arbeitsertrage ist im Interesse der Fürsorge zu verwenden; dasselbe kann gegen den Willen des Gefangenen nicht in Anspruch genommen werden zur Bezahlung von Schulden oder zur Deckung von Ausgaben, welche die Kommunalverbände für die Gefangenen selbst oder deren Angehörige geleistet haben. Das Geschenk ist vorzugsweise zu verwenden zur Bezahlung der Reisekosten des Entlassenen nach seinem demnächstigen Aufenthaltsorte, zur Beschaffung von Kleidern, Wohnung Unterhalt, Arbeitsgerät usw. sowie in geeigneten Fällen zur Unterstützung der Familie des Entlassenen.
Tritt Fürsorge ein, so sendet der Direktor das Geschenk entweder dem Fürsorgeorgane oder der Polizeibehörde des Ortes ein, wohin der Gefangene entlassen wird. Mit der Verwendung wird erst begonnen, wenn der Entlassene sich bei der Ortspolizei vorschriftsmäßig angemeldet hat.
Nur dann kann das ganze Geschenk bei der Entlassung ausgezahlt werden, wenn dasselbe so gering ist, dass es nur zur Bestreitung der Reisekosten und des Unterhalts für wenige Tage ausreicht.
Weigert sich ein Gefangener, die für nötig erachtete Fürsorge anzunehmen, so behält die Anstaltsverwaltung von dem nach Abzug der Reise- und Zehrungskosten für einige Tage am Entlassungsort noch verbleibenden Reste des Geschenkes die Hälfte zurück; die andere Hälfte wird der Polizeibehörde des Entlassungsortes übersandt, um für den Entlassenen in geeigneter Weise verwandt zu werden.
Wenn ein Entlassener sich weigert, die von den Fürsorgeorganen in Betreff der Verwendung des Geschenkes getroffenen Anordnungen anzuerkennen oder wenn er sich der Fürsorge entzieht oder eine strafbare Handlung begeht, so ist unter Mitteilung der Tatsache der noch vorhandene Rest des Geschenkes der Ortspolizeibehörde zu übersenden, welche dann geeignete Verwendung eintreten lässt.
Weigert sich aber ein Strafentlassener, die von der Polizeibehörde über die Verwendung des Geschenkes getroffenen Anordnungen anzuerkennen, so wird der Rest des Geschenkes, soweit derselbe nicht für die Familie des
Entlassenen Verwendung findet, mit einer Abrechnung der Anstaltsverwaltung zurückgeschickt.
Der Gefangene, der zu der Einsicht gekommen ist, dass die Strafe nicht den Zweck hat, ihn aus der bürgerlichen Gesellschaft auszustoßen, sondern ihn zu einem nützlichen Gliede derselben zu machen, wird willig die von der Kirche oder besonderen Vereinen geübte, die Rückkehr zu einem geordneten, ehrbaren Leben anbahnende Fürsorge annehmen.
Münster i./W., den 18. Juni 1903.
Der Strafanstalts-Direktor I.A. Fliegenschmidt
Genehmigt
Münster i./W., den 29. Juni 1903.
Der Regierungs-Präsident v. Gescher
I.-Nr. 4789. I.B. 10.« |
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