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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Missglückter Befreiungsversuch

Kurz vor Weihnachten 1923 wurde ich aus der Irrenabteilung in den Hauptbau der Anstalt verlegt.
Mir wurde eine Zelle mit Steinfußboden zugewiesen. Durch den Aufenthalt in der Tobzelle in Münster hatte ich mir Rheumatismus zugezogen, und sehr bald spürte ich, dass er sich durch den Steinfußboden in der Zelle erheblich verschlechterte. Ein Jahr lang musste ich darum kämpfen, dass der Fußboden mit Holz belegt wurde. In der Zwischenzeit aber hatte sich die Krankheit im Körper verbreitet, und ich konnte monatelang meine Gymnastik nicht durchführen. Die Gelenke waren so steif, dass ich tage- und wochenlang auf der Pritsche liegen bleiben musste, zitternd vor Kälte. Die Zellen hätten im Winter wenigstens geheizt sein müssen. Aber die Heizung, die erst um neun Uhr warm wurde, war schon um ein Uhr mittags wieder abgestellt. Bis nachts zwölf Uhr saß ich in der eiskalten Zelle über meinen Büchern, da ich wegen der grellen Nachtbeleuchtung nicht einschlafen konnte.
Vor den Zellenfenstern waren außerhalb der Gitter besondere Blenden angebracht, die verhinderten, dass selbst bei geöffnetem Fenster auch nur annähernd genügend Luft in die Zelle kam, und die den Gefangenen auch nicht das kleinste Stück Himmel sehen ließen.
Auf den Blenden, die aus zentimeterstarkem, grauem gerippten Glas bestanden, hatten sich seit Jahren Staub und Dreck festgesetzt, da sie weder von außen noch von innen gereinigt werden konnten. Kein Sonnenstrahl drang durch sie in die Zelle. Das einfallende Tageslicht war von fahler Tönung, so dass dem Gefangenen die Zelle wie eine Totenkammer erschien.
Schon die Zelle in Münster hatte auf mich einen totengruftähnlichen Eindruck gemacht, aber die Zellen hier in Breslau waren noch um vieles trister und niederdrückender. Die kahlen Wände waren weiß gekalkt, der Steinfußboden war mit einer Mischung von Öl und Russ geschwärzt und stank unbeschreiblich. Dazu kam das düstere Licht. Der jahrelang in diesem Loch vegetierende Gefangene verfällt hoffnungsloser Verzweiflung.
Die Blenden waren erst einige Jahre zuvor angebracht worden, weil ein paar Gefangene an Sonntagen, an denen die Ausflügler auf der an der Anstalt vorbeiführenden Straße ins Freie pilgerten, ihre Geschlechtsteile durch die Fensterluken den Passanten gezeigt und dabei Zoten gemacht hatten. Weil zwei oder drei Gefangene ihre durch jahrelange Haft vergewaltigten Sexualgefühle auf diese ungewöhnliche Weise abzureagieren versucht hatten, mussten nun siebenhundert ganz unbeteiligte Gefangene jahraus, jahrein dafür büßen und auf jeden Sonnenstrahl, jeden Hauch frischer Luft und den Anblick des Himmels verzichten. Sogar an den Zellenfenstern, die nicht nach der Straße gingen, waren die Blenden angebracht worden.
Wiederholt versuchte ich durch Eingaben an die Behörden zu erreichen, dass die Blenden entfernt würden. Der Präsident des Strafvollzugsamts, Dr. Egon Humann, der den Ruf eines aufrichtigen Förderers humanerer Gefangenenbehandlung genoss, sah ein, dass die Blenden abgeschafft werden mussten; trotzdem verschwanden sie nicht. Sollten diese Blenden heute noch die Anstalt in Breslau
»zieren«, so wäre es Pflicht der gesamten Öffentlichkeit, ihre Entfernung zu verlangen.
Im Breslauer Gefängnis gab es außer mir noch 15 bis 20 kommunistische Gefangene, die wegen der Oktoberkämpfe 1923 oder im Zusammenhang mit dem Parteiverbot in Untersuchungshaft saßen. Im Januar 1924 erfuhren die Genossen und ich vom Tod Lenins. Am Tage seiner Beisetzung verweigerten wir kommunistischen Gefangenen die Nahrungsaufnahme, um unserer Trauer und unserer Ungebrochenheit Ausdruck zu verleihen.
Während meines Aufenthaltes in der Irrenabteilung war ich von der Außenwelt so abgeschlossen gewesen, dass ich die politische und wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr hatte verfolgen können. In der Hauptanstalt erfuhr ich, dass ein ungeheurer Umschwung eingetreten war. Die Inflation hatte viele Reiche zu Armen gemacht, und den kleinen Beamten hatte sie ihre ganzen Sparpfennige geraubt. Selbst Menschen wie die Aufseher, die sich sonst nie um Politik und Parteien gekümmert hatten, schimpften jetzt über die unhaltbaren Zustände und das herrschende System. Früher hatten die Beamten kaum gewagt, sich mit mir zu unterhalten; jetzt sagten sie ganz offen, dass sie eine Erhebung von links begrüßen würden und sich nicht nur passiv dabei verhalten, sondern aktiv helfen würden.
Soviel ich aus der bürgerlichen Presse ersehen konnte - kommunistische Zeitungen durfte ich nicht lesen -, herrschte unter den Arbeitern eine ausgesprochen revolutionäre Stimmung, und ich hatte den Eindruck, dass das Bürgertum und die Regierung sowohl mit einer Erhebung von links als auch von rechts rechneten. In diesen aufgeregten Tagen wurde mir von meinen Freunden durch Kassiber mitgeteilt, ich müsse aus der Anstalt entfliehen, weil man mich jetzt unbedingt draußen brauche und weil meine Befreiung zugleich wie ein Fanal auf die Aktivität der revolutionären Arbeiter wirken würde. Meine Antwort war ein Befreiungsplan, der mit Hilfe meiner Freunde von außen durchgeführt werden sollte. Ich legte eine genaue Zeichnung der Anstalt mit allen Türen, Toren, Telefonapparaten und Zellen bei und schmuggelte das Ganze aus der Anstalt. In Kassibern erläuterte ich meinen Freunden den gut ausgearbeiteten und alle Eventualitäten vorsehenden Befreiungsplan.
Die Ausführung des Vorhabens schien gut zu klappen. Sechs Genossen aus dem Vogtlande und Berlin kamen nach Breslau, nahmen am Bahnhof eine Autodroschke, in der sie vor der Strafanstalt vorfuhren. Zwei der Genossen wiesen sich an der Eingangspforte bei dem Pförtner als Gefängnisaufseher in Zivil aus und erklärten, dass sie mit einem Gefangenentransport aus Görlitz kämen.
Der Pförtner ließ die vermeintlichen Kollegen in sein Stübchen treten, um dort die Ablieferungspapiere über die angeblichen Gefangenen zu übernehmen. Im selben Augenblick entrissen ihm die Genossen die Schlüssel, stellten ihn mit dem Gesicht an die Wand und erklärten, wenn er einen Laut von sich gebe, sei er ein toter Mann.
Da er Pistolen in ihren Händen blitzen sah, glaubte er an den Ernst dieser Drohung und hielt es für ratsam, sich still zu verhalten. Zwei Mann blieben mit Pistolen bei dem Beamten, die anderen stürmten in das Innere der Strafanstalt. Ich hatte den Plan so ausgearbeitet, dass ich gerade um diese Zeit meine Runde im Hofe machte. Ich hörte das Eindringen der Genossen, sie waren nur noch etwa vier Schritt von mir entfernt. Es trennte uns nur eine Hoftür, von der sie bereits den Schlüssel hatten.
Plötzlich aber machten sie kehrt und verließen in wilder Hast die Anstalt, obwohl kein Mensch ihnen Widerstand entgegengesetzt hatte.
Dieser Befreiungsversuch am helllichten Tage erregte viel Aufsehen; er war gut arrangiert: Keiner der Beteiligten wurde je verhaftet.
Ich konnte mir nicht erklären, warum die- Genossen plötzlich umgekehrt waren. Erst nach meiner Freilassung erfuhr ich, dass einer der Genossen im letzten Augenblick eine falsche Parole ausgegeben hatte.
Ich wusste, dass die Befreiung glücken musste, wenn sie genau so ausgeführt wurde, wie ich das in allen Einzelheiten angegeben hatte. Deshalb drückte mich ihr Misslingen sehr nieder. Zudem wurde meine Bewachung nach dem Scheitern der Befreiungsaktion so scharf, dass ich es kaum noch ertragen konnte. Tag und Nacht standen besonders ausgewählte Beamte zu meiner Bewachung bereit. Für alle anderen Zellen gab es einen Einheitsschlüssel, für meine Zelle wurde aber ein besonderer
Schlüssel angefertigt. Ich durfte mit keinem anderen Gefangenen zusammenkommen. In den Freistunden musste ich ganz allein im Kreise herumlaufen.
Die Einzelhaft erzeugt in allen Gefangenen eine übersteigerte Empfindlichkeit. Ich spürte an mir selber und merkte später auch an anderen Gefangenen, wie verheerend lange Einzelhaft und die damit verbundene sexuelle Enthaltsamkeit auf Menschen wirkt. Der Gefangene in Einzelhaft ist ganz und gar auf sich selbst angewiesen. Wohl gibt es in den Bestimmungen des »modernen Strafvollzugs« einen Hinweis, dass die Beamten nach Möglichkeit mit den Gefangenen sprechen sollen, um sie von trüben Gedanken abzulenken und sie näher kennen zu lernen. Das steht jedoch nur auf dem Papier, denn es ist den Beamten bei dem Mangel an Kräften, bei ihrer Dienstüberbürdung überhaupt nicht möglich, sich auch nur ein paar Minuten lang mit einem Gefangenen zu unterhalten. Meistens muss der Stationsbeamte noch ein oder zwei, oft auch drei Stationen mit übernehmen, z. B. nach der Mittagsablösung. Ich habe ausgerechnet, dass an manchen Tagen ein einziger Beamter 160 Zellen insgesamt mehr als 1400mal auf- und zuschließen muss. Dazwischen läuft er treppauf und treppab und hat Dutzende Gefangene den einzelnen Inspektionsbeamten und dem Direktor vorzuführen, Meldungen zu schreiben und Eintragungen in Bücher zu machen.
Aber auch, wenn die Beamten nicht in dem Maße, wie es meistens der Fall ist, überlastet sind, hüten sie sich, mit Gefangenen Gespräche zu führen. Sie haben Angst vor den Vorgesetzten.
Den Beamten in Breslau war es strengstens verboten, mit mir zu sprechen. Ein paar hielten sich nicht an dieses Verbot. Sie sprachen hin und wieder verstohlen mit mir, sehr besorgt, dabei nicht von anderen Gefangenen oder Beamten beobachtet zu werden.
Eines Tages sah der Direktor Vaupel, als ich zu einer Besprechung vorgeführt wurde, dass zwei Beamte mit mir sprachen. Ich hatte die beiden Beamten nur gefragt, wie lange ich denn noch vor der Tür des Direktors warten müsse, und sie wollten mir eben die Frage beantworten, als der Direktor mit vor Erregung rotem Kopf aus seinem Zimmer herausstürzte und mit überschnappender Stimme nach dem Hauptwachtmeister schrie. Als der erschien, rief der Direktor: »Herr Hauptwachtmeister, Herr Hauptwachtmeister, es ist unerhört, die Beamten sprechen mit Hoelz!« Dann lief Vaupel auf die beiden Beamten zu, wies mit Fingern auf sie und brüllte sie an: »Gehen Sie sofort nach Hause, Sie sind unzuverlässig, ich kann Sie nicht gebrauchen!«
Aber nicht nur mit mir, sondern auch mit vielen anderen Gefangenen durften die Beamten nicht sprechen; taten sie es dennoch, so machten sie sich nicht nur bei der Direktion, sondern auch bei den anderen Beamten missliebig.

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