Abc und Einmaleins
Die schmalkörperigen Zypressen auf den Hängen der Uferberge von Synope - schlanke Pfeiler, höher als unsere Pappeln - neigen ihre Spitzen unter dem Streicheln des landeinwärts wehenden Abendwindes. Die breitkronigen Fächerpalmen - gravitätische Fliegenwedel orientalischer Märchensultane - werden griesgrämig grau. Die glutroten, heißen Blüten der mannshohen Kakteen - wollüstige Augen missgestalteter Ungetüme -, schließen sich langsam. Die exotische Pracht des subtropischen Parks -früher streng bewachter, dem gewöhnlichen Sterblichen verschlossener Großfürstenbesitz, jetzt allen zugänglicher, von Kindern und erholungsbedürftigen Arbeitern bevölkerter Nationalpark der abchasischen Sowjetrepublik -verschleiert sich mit den Schatten der Dämmerung. Dunkel liegen die Hänge da, und du unterscheidest nicht mehr die ewig unruhigen, immer sich wiegenden Rohre des Bambuswäldchens, die metallisch schimmernden Eukalyptusstämme, die phantastische Vielfältigkeit der Farnwedel (bald breitlappig, bald gefiedert), die weißen, aus reifen Fruchtkapseln hervorquellenden Rübezahlbärte der Baumwollstauden, die weichhaarigen Büschel japanischer Sumpfgräser...
Unten am Strand ist es noch verhältnismäßig hell, wenn auch der milchige Smaragd des Wassers zu dunkelfarbenem Erz geworden ist. „Hallo!"
Pjotr Ossipowitsch, der den ganzen Tag mit uns hier draußen verbracht hat, der uns den Park zeigte und mit
uns badete, steht oben auf der Straße, die zwischen Strand und Uferbergen dahin läuft, und winkt uns.
„Hallo! Seid ihr fertig? Es wird regnen..."
Wir stehen auf. Die trunkene Müdigkeit eines in Sonne und Meerwasser verbrachten Tages liegt im Blut und macht die Glieder schwer. Die Sohle tritt erst auf die knirschende Härte unzähliger rundgewaschener Steine, dann auf die mehlige Weiche des spannhoch liegenden Straßenstaubs. „Es wird regnen..."
Pjotr Ossipowitsch weist auf die kleine Wolke im Osten, die allmählich wächst und näher kommt. Vom Strand her klingt der - schneller gewordene - Rhythmus des mit den runden Steinen spielenden Wellenschlages herüber. Die Straße mündet nach beiden Seiten in dunkle Unbegrenztheit. Irgendwo in der Ferne glimmen die Lichter von Suchum-Kaleh. „Vorwärts...!"
Die Wolke beschleunigt ihren Flug und frisst immer mehr von dem helleren Blau des Himmels.
„Ob wir trocken nach Hause kommen?"
Ein zweirädriger Karren überholt uns.
„Hallo...!"
Vorn sitzt ein Alter mit verfilztem Bart, eine junge Frau, ein kleiner Junge. „Ach...?"
Der Karren verlangsamt die Fahrt. „Fährst du nach Suchum, Onkelchen?" „Suchum... ja..."
„Und hast nichts aufgeladen... könntest uns mitnehmen... es wird regnen."
Der Alte brummt etwas, fährt noch ein Stückchen weiter, so dass wir schon glauben, er wolle uns nicht mitnehmen, hält dann. Wir kommen heran.
„Wie viele seid ihr denn?... Vier?... Na, auf einen mehr kommt es nicht mehr an... Klettert herauf...!" Der Raum ist klein, aber wir finden doch alle Platz. Ich sitze hinter dem Alten. Meine Beine baumeln über die Seitenwand des Karrens hinunter.
„Ohu..."
Die Pferde - zwei zottige, kleine Tiere - setzen sich in Trab. Der Karren rüttelt und schüttelt.
Schweigen. Nur von Zeit zu Zeit ein rauer, aufmunternder Laut, ein Klatschen der langen, gleichzeitig als Peitsche dienenden Zügel.
Die Kegel der Zypressen zu beiden Seiten der Straße rauschen im Wind.
„Das sind Bäumchen, was..." sagt der Alte, zum ersten mal das Schweigen brechend, „das sind Bäumchen... was?... Höher als Kirchtürme... ja..." Die Hänge der Uferberge rücken näher an die Straße heran. Aus dem Dunkel des Laubes leuchten die hellen Fenster der Erholungsheime hervor, der Bauernsanatorien, der Gewerkschaftssanatorien. „Hou... schneller...!"
Ein erster, schwerer Tropfen zerstiebt klatschend auf dem Holz des Karrens.
Der Alte wendet sich mir wieder zu:
„Das sind noch Bäume... aber wer pflanzt so was heute noch?... Wer gibt sich heute noch mit so was Mühe...?
Früher, ja... da hat man noch ehrlich gearbeitet... etwas zustande gebracht... aber jetzt...?"
Die Pfeife ist ausgegangen und muss neu gestopft werden.
Der Alte verstummt, klopft sie umständlich aus, säubert sie und stopft sie wieder. Dann erst setzt er das Gespräch fort.
Ja, das sei eine andere Art Arbeit gewesen, damals, als er noch jung war... da habe er selbst Bäume gepflanzt...
kaum mannshoch waren sie damals -, die jetzt so groß seien, wie die, an denen wir eben vorüberfuhren.
Damals - das ist sechzig Jahre her.
Und - meiner Frage zuvorkommend:
„Sechsundsiebzig bin ich heute..."
Damals war er sechzehn. Aber arbeiten konnte er schon wie ein Erwachsener. Es war auch notwendig. Der Vater war erst kurz zuvor aus dem Archangelsker Gouvernement hierher ausgewandert, aus dem kältesten Norden in den sonnigsten Süden... und es musste tüchtig geschuftet werden, um das Anwesen in die Höhe zu bringen. „Aber wir haben es geschafft... War das schönste Anwesen im Bezirk..."
Der Alte erwärmt sich, beginnt schneller zu sprechen. Da kommt wieder etwas dazwischen. Er muss die Pferde anhalten. Ein Weg kreuzt die Straße, und ein seltsamer Zug, der auf diesem Wege aus einer unbekannten, schwarzen Ferne gekommen ist, hat soeben die Straße erreicht und überquert sie. Zuerst kommen zwei kleine Jungen mit Holznäpfen in den Händen (Salz und Korn ist darin, wie ich später erfahre); dann ein paar alte Weiber in zerfetzten Kleidern, heulend und jammernd; dann eine kleine Musikbande, die unbekannten Instrumenten langgezogene, wimmernde Töne entlockt; dann - auf Menschenschultern schwankend - ein Sarg, und hinterher, im dichter werdenden Regen nur undeutlich sichtbar, weinende Kinder, Frauen, stumme, gravitätische Männer in enganliegenden Röcken und breiten Pelzmützen. Das ganze wie ein Spuk, wie ein Geisterzug aus Regen und Dämmerung auftauchend und in Dämmerung und Regen verschwindend. „Oho...! ... Hou...!"
Die Pferdchen ziehen an, der Karren rollt weiter. Auch das Gespräch kommt wieder in Fluss.
„Und schließlich... Fast war die ganze Plackerei, alle Arbeit für die Katz... die ganze Arbeit..."
„?"
Ja... die Soldaten seien gekommen, hätten geplündert und dann Feuer gelegt. „Im Bürgerkrieg?" „Ja..."
Ein Glück nur, dass sie so wenig Zeit hatten, nicht nach Vergrabenem suchen und auch gar nicht ordentlich Feuer legen konnten. „Weiße?"
„Ja... die Bolschewiken waren hinter ihnen her, wie die Teufel... wir konnten löschen, bevor es zu spät war."
„Also mit einem blauen Auge davongekommen?"
„Ja, so halbwegs..."
„Und jetzt... wie geht es jetzt...?"
„Es würde ja gehen..."
Er unterbricht sich, misstrauisch, vielleicht auch etwas abergläubisch (nur nicht sagen, dass es einem gut geht! Und überhaupt: warum will der Kerl wissen, wie es mir geht?), entscheidet sich dann aber für die Annahme, dass ich ein unschädlicher Fremder sei und er seine „Unvorsichtigkeit" ja noch gutmachen könne und legt los: „Es würde ja vielleicht ganz gut gehen, wenn nur nicht..." Kurzum: erstens seien die letzten Ernten nicht besonders gewesen, dann die Steuern, drittens die teueren Industrieartikel, viertens... fünftens... sechstens... „Und endlich die Bolschewiki..."
Das letzte Wort ist ihm sichtlich wider seinen Willen herausgerutscht. Er verstummt.
Da dreht sich die junge Frau, die bisher schweigend neben ihm gesessen hat, um und sagt mit leichtem Spott in der Stimme: „Vater ist mit den Bolschewiki unzufrieden, weil sie die armen Bauern im Dorf aufhetzen, wie er sagt." Der Alte macht eine erschrocken-ärgerliche Bewegung, als wolle er sie unterbrechen, protestieren, widersprechen. Sie aber lässt es nicht zu, duldet keinen Widerspruch, redet hastig weiter - jetzt ist schon kein Spott mehr in der Stimme, sondern Eifer, Erregung:
„Lass! - Ich weiß, was du sagen willst: dass du gar nicht gegen die Bolschewiki bist, sondern nur dagegen, dass sie so viele Versammlungen abhalten - die Leute von der Arbeit weglocken, pflegst du zu sagen -, dass sie ihre Agitatoren in die Dörfer schicken und die armen Bauern organisieren, dass sie im Dorfsowjet gegen die Kulaken auftreten und eine Kooperative gegründet haben, dass sie euch mehr Steuern abnehmen, als den Kleinbauern, und dass sie, dagegen bist du am meisten, eine Schule für Erwachsene aufgemacht haben und sie lesen lehren... ja, dagegen bist du am meisten, weil du Angst vor der Zeitung hast und fürchtest, dass die Kleinbauern und Knechte, wenn sie lesen gelernt haben und allein Zeitung lesen können, alle Bolschewiki werden..." Sie bricht ab, schweigt.
Der Alte hat sich gleichsam zusammengerollt wie ein Igel. Wieder kreuzt ein Weg die Straße. Wieder hält der Karren.
„Wir fahren rechts weiter... Wenn ihr nach Suchum wollt, müsst ihr hier absteigen..."
Wir klettern vom Wagen. Ich gehe um ihn herum, um das Gesicht der Frau zu sehen: ihre Worte haben mich neugierig gemacht. Sie ist jung, ein Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt. Wie ich nähertrete, sehe ich das Komsomolabzeichen auf ihrer Bluse. „Auf Wiedersehn, Genossin...!" „Wie? Sie sind Kommunist...?" Der Alte schnalzt mit der Zunge.
„Auf Wiedersehn... und sehen Sie zu, dass die Leute bald das Zeitunglesen lernen..." „Unbesorgt... werden sie!"
Und dann, während der Wagen schon auf den Nebenweg einbiegt:
„Übrigens, wenn sie auch das Alphabet noch nicht alle können, das Einmaleins können sie alle... wissen, dass acht Stunden Arbeit weniger sind als zwölf, und dass die Sowjetsfeuern nur halb so hoch sind wie die früheren..." Der Wagen verschwindet in der Dunkelheit. Auch das Rasseln wird bald von ihr verschluckt. Unfern blinzeln verschlafen durch den Regen die Lichter von Suchum-Kaleh.
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