Von Büchern, Naphtha, verbotenen Tänzen, Zeitungen und Zigaretten
Wir saßen an Deck des „Ignati Sergejew", an der „Reling", wie es im Matrosenjargon unvergessener Seemannsgeschichten hieß (in der Botanikstunde unter dem Pult gelesen: - bis heute weiß ich den Unterschied zwischen Sporen- und Samenpflanzen nicht, wohl aber, was eine Ankerklüse, ein Oberbootsmannsmaat, ein Fallreep und eine Kombüse ist!) -, wir saßen also an der Reling, ließen uns von der Sonne bescheinen und von Garben feinster, durch die schnelle Bewegung des Bugs empor geschleuderter Tröpfchen übersprühen; wir blinzelten zu den Delphinen hinüber, die das Schiff schon seit Stunden begleiteten- immer in Zickzackbahnen unter dem Kiel durch und wieder zurück, dabei von Zeit zu Zeit über die Wasseroberfläche emporschnellend; wir knabberten an kleinen Stückchen unsagbar harten, unsagbar geschmacklosen Schiffszwiebacks; schätzten die Schnelligkeit des „Ignati Sergejew" an der Geschwindigkeit ab, mit der ein grüner, kaum kilometerweit von uns entfernter Uferstreifen sich vor uns abrollte; lasen eine Weile, ließen aber sehr bald das Buch sinken und blinzelten wieder zu den Delphinen hinüber, zu dem grünen Uferstreifen, zu den kaum merklichen Wellenstrichen auf der grünsilbernen Platte, die eigentlich Schwarzes Meer hieß und gestern Abend noch - in Batum — ein grollendes, unheimliches, dunkles Abenteuer gewesen war, das Seekrankheit und Schiffbruch verheißen hatte... Rundherum Stille.
Nur das Wasser zischt unter dem Messer des Bugs. Es ist noch früher Morgen - wenige Menschen an Deck. Nach und nach tauchen immer mehr Passagiere aus den Luken empor, räkeln sich, lehnen sich an die Reling, schauen den Fischen zu.
Vorn, unter dem Sonnensegel, baut ein Kolporteur seinen Stand auf. Passagiere schlendern hin, kommen wieder zurück, in den Händen Zeitungen, Bücher. Eine ganze Menge von Leuten sitzt schon lesend um mich herum. Ich stehe auf und gehe nach vorne. Da ist der „Buchladen". Auf zwei Tischen hat der Kolporteur seine Bücher und Zeitungen ausgelegt. „Wünschen Sie etwas Bestimmtes, Genosse?" Er trägt einen enganliegenden, kaukasischen Rock mit vielen kleinen Täschchen für Patronen. Am Gürtel hängt ein kleiner Dolch. „Die richtige Ausstaffierung für einen Buchhandlungsgehilfen!" fährt es mir durch den Kopf, während ich dankend ablehne.
„Nein, ich suche nichts Bestimmtes, möchte nur ein bisschen in den ausgelegten Büchern herumblättern. Darf ich...?"
Er macht eine einladende Handbewegung, die gleiche Handbewegung, die der Pariser Bouquiniste am Seineufer, gegenüber von Notre Dame, macht, wenn ein Fremder mit schüchterner Frage an ihn herantritt. Seltsam, was es da in dem „Buchladen" an Bord des „Ignati Sergejew" alles gibt. Neben Lenins „Imperialismus" und Marxens „Kapital" liegt ne alte Scharteke über die Schädlichkeit des Tabakgenusses und eine Jargonbroschüre über „Juden und Krimprojekt". Und mitten unter den russischen ein deutsches Buch - „Die Leiden des jungen Werther". Ich schlage das Buch auf, lese auf der ersten Seite eine halbverwischte Widmung: „Meinem lieben..." das Weitere ist unlesbar. Dann noch ein Datum... „Juni 1913". „Sie sind Deutscher?"
Ich blicke auf. Neben mir steht ein junger, hochgewachsener Mann mit orientalisch geschnittenem Gesicht. Er weist auf das Buch in meinen Händen und meint erklärend, entschuldigend:
„Ich sah, wie Sie nach dem deutschen Buch griffen... da habe ich etwas wie Heimweh nach Deutschland bekommen..." Er lacht. Ich lache.
Bald ist ein Gespräch im Gange.
Er ist Türke, aus der Gegend von Trapezunt, also nicht Sowjetbürger. Arbeitet hier als „Spez", als Bergingenieur, im kaukasischen Naphthagebiet. Nicht lange, ein Jahr erst. Vorher war er in Deutschland: Berlin, Frankfurt, Darmstadt. Hat dort studiert und wollte dort bleiben, aber... „Aber in Deutschland gibt es viel zu viele stellungslose Bergingenieure... und dann: mein Spezialfach ist Erdölbohrung, und damit ist in Deutschland nicht viel zu machen. Nach Amerika aber wollte ich nicht." Warum er dann nicht ins türkische Ölgebiet gegangen sei. Nach Mossul. Dort müsste es doch für einen türkischen Ingenieur Arbeit in Fülle geben...
Gäbe es auch, wenn nur die Engländer nicht die ergiebigsten Quellen an sich gebracht hätten und überhaupt „Alles gehört ihnen: Quellen, Bohranlagen, Röhrenleitungen, Kesselwagen, Eisenbahnen, Ölgesellschaften... Alles, und sie lassen keinen Türken hochkommen... in
Mossul nicht und in Südpersien, wo sie ebenfalls auf den weichsten Plätzen sitzen, auch nicht... offenbar fürchten sie sich vor uns..." Er lacht.
Aber in dem Lachen klingt ein fremder Unterton mit, und seine Augen haben einen drohenden, harten Glanz. Einen Glanz, der nicht misszuverstehen ist, der „Hass" heißt. Ich kenne diesen Glanz und diesen drohenden Unterton in der Stimme. Ich kenne ihn von dem chinesischen Studenten aus der Provinz Hobee her, den wir in der Sun-Yat-Sen-Universität getroffen haben, von den vielen anderen Chinesen, mit denen ich über ihre Heimat und England gesprochen habe, von den indischen Emigranten, denen ich in Berlin begegnet bin - sie hatten die Heimat verlassen, um in der fremden Kälte nordischer Städte Nationalökonomie zu studieren -, ich kannte ihn von den Arabern her, mit denen ich im Vorjahre einige Tage lang zusammen gereist war. „Ja, England..." Und dann fragt er plötzlich: „Glauben Sie an einen neuen Weltkrieg?" Antwortet selbst, bevor ich noch den Mund auftue: „Ich, ja..., ich und alle bei uns zu Hause..." Dann - nach einer Weile Schweigens - wechselt er das Thema. Fragt, ob ich vor kurzem in Deutschland war. Wie es dort aussehe, was es Neues gebe. Ich versuche, so gut ich kann, seine Wissbegier zu befriedigen.
Dann frage wieder ich:
Wo er denn arbeite. Ob hier etwa, in der Sowjetunion. Vielleicht in Baku selbst? Ja, in Baku.
„Die Bolschewiken brauchen immer noch ausländische Ingenieure, decken den Bedarf an Ingenieuren noch immer nicht aus eigenem, obwohl es jetzt mehr Hochschulen und Studenten gibt, als zur Zarenzeit, viel mehr..., aber der Bedarf ist zu groß, überall braucht man Ingenieure. Und dann - die Produktion wächst sehr schnell. Wir in Baku zum Beispiel, in der Naphthaindustrie..."
Und er sprudelt eine Zahlenkaskade hervor, die selbst mein während des Aufenthaltes in der Sowjetunion an Zahlen und Statistiken gewohntes Ohr überrumpelt.
Als er endlich - erschöpft - innehält, frage ich ihn, ob er Kommunist sei.
Er antwortet mit einer Gegenfrage: warum ich glaube, dass er einer sei.
Nur so..., weil er mit solcher Begeisterung von den Fortschritten der Sowjetindustrie gesprochen habe. Da lacht er:
„Habe ich das...? Aber das war keine kommunistische Begeisterung, das war lediglich Freude am technischen Fortschritt, an zielsicherer Leitung, an großangelegtem Aufbau, an Energie, Ausdauer, Tüchtigkeit und dass die Bolschewiki energisch, ausdauernd und tüchtig sind, wird selbst ihr Feind zugeben... aber Kommunist bin ich darum noch lange nicht..."
Dass er wirklich keiner war, merkte ich bald darauf selbst, als er - dem Gespräch eine neue Wendung gebend - darüber zu jammern begann, wie langweilig es hier sei: „Wissen Sie, wenn man lange in Europa war und lustig gelebt hat nicht einmal tanzen kann man hier, sie haben die modernen Tänze verboten..." Er macht ein so trübseliges Gesicht, dass ich lächeln muss. „Und wie unterhalten sich die Leute denn hier, wenn das Tanzen verboten ist?" kann ich mich nicht enthalten zu fragen.
Er aber merkt den Spott nicht und antwortet mit verbissenem Eifer:
„Wie sie sich unterhalten?... Sie debattieren oder lesen, trinken Tee und debattieren die Nächte durch; nirgendwo wird so viel debattiert und gelesen wie hier... Schauen Sie sich doch nur die Passagiere auf dem Hinterdeck an, zum Beispiel: jeder hat ein bedrucktes Papier vor der Nase..."
Und nach einer Weile:
„Es ist manchmal zum Verzweifeln..."
Ich kann das Lachen nicht mehr zurückhalten und platze los. Er bricht kurz ab, scheint verstimmt. Gleich darauf aber lacht er selbst mit.
„Kommen Sie, kommen Sie mit nach hinten. Wir wollen den Delphinen zuschauen, - die wenigstens dürfen noch tanzen..."
Zwischen Vorderdeck und Heck gibt es noch einen zweiten „Verkaufsstand". Auch hier: Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, daneben aber auch Zigaretten, Ansichtskarten und Marken. Mein türkischer Freund bleibt vor dem Tischchen stehen.
„Hier, hier sehen Sie am besten, mit welcher Ehrfurcht man bedrucktes Papier behandelt... Zigaretten verkauft man zu höheren als den staatlich festgesetzten Preisen, und selbst für Briefmarken, wenn man sie beim Straßenhändler und nicht auf dem Postamt kauft, wird oft ein Agio gefordert. Aber Zeitungen... Zeitungen kosten nie mehr, als sie kosten sollen. Niemals. Ich habe in dieser Sache meine speziellen Forschungen getrieben, und das Ergebnis war in allen Fällen gleich: Marken musst du oft teuerer bezahlen, Zeitungen aber nie..."
Sprach's und zahlte für eine „Prawda" fünf Kopeken, wie sich's gehörte, und für eine Schachtel Zweikopekenzigaretten fünfundfünfzig statt fünfzig...
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