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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Der Sturz des Zaren

„Sie wissen gar nicht, wie viel uns der Zar noch zu schaffen macht!" sagte Stanislaw Petrowitsch, der „rote Direktor", und schob einen Haufen schwarz- und rotbekritzelter Tabellen von sich. „Der Zar—?"
„Ja, - das heißt: nicht eigentlich der Zar, sondern sein Sturz..."
Und über mein nicht sehr geistreich aussehendes Gesicht in lautes Lachen ausbrechend, erklärt er: „Also die Sache ist so: die Arbeitsdisziplin..." Und er beginnt ein langes Klagelied über die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich dem „roten Direktor" in den Weg stellen, wenn er den vom Lande kommenden Arbeitern auch nur die primitivsten Anfangsbegriffe von Arbeitsdisziplin, Ordnung und Methode beibringen will. „Ich war manchmal am Verzweifeln! Ja, ganz im Ernst gesprochen: ich habe mehr als einmal das Gefühl gehabt, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen. Wir haben hier eben nicht jenen Stock alter, erprobter, disziplinierter Industriearbeiter, wie man ihn in den Leningrader Putilowwerken zum Beispiel findet; was bei uns in den neuen Fabriken arbeitet, ist gestern noch auf dem Dorfe gewesen, auf dem Dorfe und inmitten eines betulichen, geruhsamen und ganz und gar nicht mit Dampf, Elektrizität und Maschinen vertrauten Daseins..."
Und Stanislaw Petrowitsch erzählt von den Dekreten und Aufrufen, Plakaten und Filmen, Versammlungsreden und Propagandaaktionen gegen den Schlendrian und für die Hebung der Arbeitsdisziplin, die Vorbedingung des Aufbaus und der „Amerikanisierung" (Anm.: in den zwanziger Jahren Bezeichnung für die technische Rekonstruktion der Betriebe und die Einführung moderner Arbeitsmethoden.).
„Und doch kommt es immer wieder vor, dass sie - kaum dass sie sich unbeobachtet fühlen — von der Maschine weglaufen, sich in einem Winkel schlafen legen, oder rauchend und schwatzend herumstehen. — Und der ,rote Direktor, und die Kommunisten überhaupt erscheinen in ihren Augen als schäbige Antreiber oder gar Ausbeuter, weil sie diesen Schlendrian nicht dulden wollen." „Ja, aber..." „Was aber?"
„Aber was hat das alles mit dem Sturz des Zaren zu tun; ich begreife..."
„Nur Geduld; ich bin schon dabei!
Kürzlich haben wir, um die Arbeitsdisziplin zu heben, ein neues Werkzeugbrett angeschafft. Ein schönes, schwarzes Brett mit Messinghaken - weiß der Teufel, wo unser Werkmeister die Dinger hernahm -, auf dem der Platz für jedes Werkzeug dadurch kenntlich gemacht war, dass man seine Umrisse mit gelber Farbe um die betreffenden Haken gemalt hatte.
Und drei Tage nach Anbringung dieses Breites, nach einem Propagandavortrag vor der Belegschaft und nach Vorführung des Films: ,Die Musterfabrik' starrten die Messinghaken arbeitslos in die Luft und die Werkzeuge waren alle verstreut und verlegt, genau wie vor der Anbringung der neuen Errungenschaft. Aber das Schönste kommt noch. Höre ich da zufällig, wie Wassili Kapitonowitsch, der Meister, einen Arbeiter zur Rede stellt, weil er sein Werkzeug nicht ordentlich aufgehängt hat, worauf der Gute in einem Ton schmerzlicher Entrüstung und nachsichtigen Besserwissens antwortet: So, Wassili Kapitonowitsch, und weshalb - glauben Sie wohl -haben wir die Bourgeoisie zertreten und den Zaren gestürzt?! He?!
Doch nicht etwa deshalb, um uns nachher von irgendwelchen dämlichen gelben Figuren auf schwarzen Brettern tyrannisieren zu lassen?—" Stanislaw Petrowitsch macht eine kleine Pause. „Sie lachen, lieber Genosse, aber wir..." Dann jedoch hellt sich sein Gesicht auf, er greift zu den Tabellen, die er vornhin beiseitegeschoben hat: „Immerhin, - einige Erfolge haben wir schon erzielt; nichts Überwältigendes zunächst, beileibe nicht, aber..." Das Telefon schrillt. Stanislaw Petrowitsch wird im Werk dringend verlangt. Ob ich mitkommen will? Nein, ich möchte lieber hier warten; darf mir wohl inzwischen die Tabellen näher ansehen? „Aber gewiss." Und schon ist er draußen. Rot und schwarz wimmeln die Zahlen durcheinander, springen über Linien und Doppellinien, drängen sich zwischen die Buchstaben.
„Produktionsziffern für die ersten sieben Monate des Wirtschaftsjahres 1925/26." „Statistik der Ausschussware." „Qualitätsindex".
„Ergebnisse der Maßnahmen zur Erhöhung der Intensität und Produktivität der Arbeit in Prozenten des Standes vom 1.10.1924."
Das regellose Gewimmel der Zahlen ordnet sich. Ich lese:
„Die Arbeitsintensität hat sich im ersten Quartal des Wirtschaftsjahres 1925/26 gegenüber dem Vorjahre um durchschnittlich 0,7% gehoben; im zweiten Quartal betrug die Steigerung 0,9%; im April erreichte sie 1,1%..." Kleine Erfolge, winzige. Aber immerhin ein Anfang. „Gleichzeitig war eine Abnahme der Ausschussware um etwa 1/2 % zu konstatieren..."
Rot und schwarz marschieren die Ziffern auf, jede Zahl trägt den schiefen Strich des Prozentzeichens wie eine
Flinte geschultert; Glieder, Reihen, Kolonnen, - eine ganze Armee.
Eine Armee, auf deren Panieren die Losung des sozialistischen Aufbaus steht und deren Feldgeschrei lautet: „Platz der Zukunft! Fort mit den Schatten einer verruchten Vergangenheit! Licht in alle Winkel, in denen sie noch haust! Sturz der Vergangenheit! Sturz dem Zaren...!"

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