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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Drei Drahtverhaue und ein Mann

Platt und weit liegt das Land im Scheine der untergehenden Sonne: eintönig, traurig, Heide, hie und da ein kümmerlicher Acker, Gebüsch, Baumgruppen, Telegraphenstangen.
Der Zug nähert sich der polnisch-sowjetischen Grenze. Eine unbestimmte Unruhe ergreift alle Reisenden. Alle: uns, die wir zum ersten Male „hinüber" fahren, den russischen Genossen, der aus Warschau kommt und den Weg über die Grenze schon dutzende Male gemacht hat, den deutschen Professor und seine Frau, die auf der Durchfahrt sind (sie reisen nach Schanghai, ohne Aufenthalt, sechzehn Tage lang), die Gesellschaft französischer Kaufleute, die nach Persien fahren, alle... alle... auch den rotwangigen, blondhaarigen amerikanischen Journalisten, dessen gleichmütiges Gesicht sonst nur durch die Bewegungen in Unruhe versetzt wird, die notwendig sind, um die kurze Pfeife ohne Zuhilfenahme der Hände von einem Mundwinkel in den andern zu schieben. Du überprüfst zum zehnten Male das Gepäck (es ist vollzählig da, ordentlich verschnürt), du nimmst die Mütze vom Haken und hängst sie wieder auf, du trittst zum Fenster und siehst immer wieder dieselbe Heide, die gleichen Büsche vorübergleiten. „Noch eine halbe Stunde bis Stolpcy..." Da setzt du dich wieder und lässt die Bilder der Vierundzwanzigstundenreise durch Polen nochmals an dir vor-
überziehen: die Gesichter im Zug die Gestalten auf den Bahnhöfen... Du erinnerst dich an die Gendarmen mit den Nummern an den Kappen und den Sturmriemen unter den martialischen Schnurrbärten (als müssten sie jeden Augenblick eines Überfalls auf die „Rzeczpospolita Polska" gewärtig sein); an die mildlächelnden Geistlichen mit den violetten Binden um das andächtig gerundete Bäuchlein; an die Grundbesitzer mit klirrenden Sporen an ihren hohen, glänzend schwarz gewichsten Reitstiefeln; an die kaftantragenden Juden mit unterwürfig nach vorn gebogenen Schultern und den Bewegungen geprügelter Hunde; an die zerlumpten Streckenarbeiter mit den stumpfen Augen, in die nur ein unbestimmtes, feindseliges Glänzen kommt, wenn der Speisewagen vorüberrollt; an die betressten, verbrämten, versilberten, vergoldeten Offiziere, deren Mützenschilder einen Blechrand haben, damit das viele Salutieren der Eleganz des Kappenschirmes nicht allzu sehr schade...
An all dies erinnerst du dich und wirst plötzlich durch das Kreischen gebremster Räder aufgestört. „Stolpcy! Polnische Pass- und Zollrevision!" Klingelnd und klirrend kommt es durch die Waggons gegangen; voran ein Offizier mit Säbel und Revolver, dahinter zwei Soldaten im Stahlhelm, das Gewehr in der Hand.
Das Licht der kleinen Waggonlampe spiegelt sich in den aufgepflanzten Bajonetten.
Sind wir im Krieg? Irgendwo an der Front?
Der Offizier nimmt die Pässe, reicht sie einem der Soldaten, klirrt vorbei.
„Aussteigen, bitte... zur Zollrevision!" Nur die zweite und dritte Klasse drängt sich in den Zollraum, die Herrschaften der ersten Klasse dürfen im Waggon bleiben. Hinter den im Kreise aufgestellten Bänken
erwarten die Zollbeamten die Reisenden. In der Mitte des Kreises sitzt - oder vielmehr: liegt fast - ein Offizier und erteilt lässig Befehle.
Spielerisch schlägt er mit der Reitgerte auf seine blanken Stiefelschäfte.
Wieder im Waggon.
Das Gepäck hast du neben dir liegen, die Mütze behältst du auf: es ist nur noch ein kurzes Stück bis „hinüber", nur noch die neutrale Zone.
Der Zug setzt sich in Bewegung. Auf den Trittbrettern fahren polnische Soldaten in Stahlhelmen mit. Gewehre, Bajonette, Handgranaten.
Draußen huscht die Trostlosigkeit der neutralen Zone an den Fenstern vorbei: braune, steppenähnliche Heide, Wald. Die Menschen, die hier wohnen - und es gibt außer den Schmugglern auch andere Bewohner dieses die ganze Grenze entlang laufenden, dreißig Kilometer breiten Landstreifens - gehören weder zu Polen, noch zur Sowjetunion, sie sind staatenlos. Die eigentliche Grenze läuft in der Mitte der Zone.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Rechts und links tauchen lange Reihen von Drahtverhauen auf: bis knapp an den Bahndamm reicht ihr dorniges Gestrüpp und zieht sich zu beiden Seiten weit hin, bis dorthin, wo die Umrisse der Büsche und Bäume unklar werden und mit dem Dunkel des Bodens zu einer einzigen verschwommenen, schwarzen Masse verschmelzen.
Vor den Drahtverhauen ein Wachthaus: das polnische. Der Zug hält für eine Minute. Die Soldaten springen zu Boden, formieren sich, erstarren beim Klang eines Kommandos zu Puppen. Ein Pfiff schrillt. Der Zug fährt weiter. Noch eine Kette von Drahtverhauen, noch eine und dann, dann rollt die Lokomotive - dreimal pfeifend - langsam durch einen aus Balken gezimmerten Torbogen, von dem rote, im trüben Dämmerlicht nur schwer lesbare Buchstaben die Reisenden grüßen:

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Sowjetrussland!

Vom Wachthaus weht eine rote Fahne.
Wieder hält der Zug ganz kurz. Ein Mann springt auf das Trittbrett des ersten Waggons. Winkt. Die Maschine zieht an.
Wo sind die Soldaten? Die Drahtverhaue? Die Handgranaten?
Im Vorübergleiten siehst du einen einzigen Mann vor dem Wachthaus stehen: dunkel, lang. Unendlich lang in dem bis an die Absätze reichenden Soldatenmantel. Den dreifachen Drahtverhauen der Polen gegenüber steht an der Grenze bei Negoreloje - ein langer Rotarmist. Einer! Allein. Doch tausend Kilometer ostwärts, bis nach Japan, -gibt es keine Grenze mehr, erstreckt sich die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken.
1926

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