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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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„Wir sind hier nicht in Amerika!"

Einer dieser neuen Menschen heißt Jakow Slessarenko und arbeitet im Hochofenwerk bei den Bunkern. Als ungelernter Arbeiter. Eine schwere und schmutzige, wirklich keine unterhaltsame Arbeit. Hier eine Ladung Koks umschaufeln, dort einen Rest verstreuter Erzbrocken zusammentragen. Wir fragen ihn, warum er vom Dorf hierhergekommen ist.
„Shit chotelos!" gibt er zur Antwort. „Ich wollte leben!" Auf dem Dorf sei das kein Leben gewesen. Und das hier, die Arbeit im Bunker, sei denn das ein Leben, wie er es sich gewünscht habe?
Er blickt auf die Kokshalden, auf die Erzhügel rundum und dann zum Hochofen hinüber und sagt: „Ich gehe schon in den Likbespunkt (Anm.: Schule zur Liquidierung des Analphabetentums.). Und wenn ihr in einem Jahr wieder herkommt, bin ich schon ganz anderswo. Oder glaubt ihr vielleicht, die drüben beim Hochofen haben gleich dort zu arbeiten angefangen?" Nein, sie haben alle ähnlich angefangen wie Slessarenko. Katja Barjanowa beispielsweise, die in der Bude sitzt, von der aus man den Förderaufzug bedient, hat auf dem Kokereibau angefangen, als Erdarbeiterin.
Sie kam vom Dorf. Die Eltern waren in den Kolchos eingetreten, sie hatten die Einzelwirtschaft satt bekommen. „Man lebt ruhiger dort", hatte der Vater gesagt, „man hat weniger Sorgen. Wir werden hier unser Leben zu Ende leben. Aber du geh in die Stadt, Katjuscha, lern etwas, ein Handwerk oder sonst was!"
Sie fuhr in die Stadt Kamen. Dort war gerade Markttag. Sie fragte viele Menschen nach Arbeit, aber die hatten entweder keine Zeit, ihr zu antworten, oder rieten ihr, sich als Kindermädchen zu verdingen. Aber das wollte sie nicht, dann wäre sie besser im Kolchos geblieben. Sie fuhr weiter, nach Nowosibirsk. Dort hatten es die Menschen noch eiliger; auch machten ihr die hohen Häuser Angst. Ihr wurde ganz schwindlig, wenn sie an ihnen hochsah. Sie fürchtete sich in der Stadt, wie sie sich als Kind im Wald gefürchtet hatte. Durch Zufall erfuhr sie, dass man in Stalinsk Arbeitskräfte brauchte, fand eine ganze Gruppe von Mädchen, die auch hin wollten, und schloss sich ihnen an. In Stalinsk gefiel es ihr besser als in Nowosibirsk. Die meisten Menschen hier waren wie sie aus dem Dorf; sie bewegten sich so, wie Katja sich bewegte, und sie redeten so, wie sie zu reden gewohnt war. Man sagte ihr zwar, es werde hier eine Stadt entstehen, größer noch als Nowosibirsk, aber sie sah vorläufig nur Holzhäuser, Baracken und Erdhütten wie auf dem Land. Sie arbeitete als Erdarbeiterin. Dann wurden Handlangerinnen für den Ziegelaufzug gesucht, und sie meldete sich, weil die Arbeit dort nicht so schmutzig war, man hafte mit weißen, feuerfesten Ziegeln zu tun; es gab ihrer viele verschiedene Sorten, jede hatte einen besonderen Namen, aber den musste sich nur die Brigadeführerin merken. Einmal wurde die Brigadeführerin jedoch krank, und Katja sollte sie vertreten. Von oben schrie man herunter: „Hundert Stück IIb", sie wusste aber nicht, welche Sorte „IIb" war; man schrie herunter: „Schau nach, es sieht auf den Ziegeln!", aber sie konnte nicht lesen, und man musste eine andere an ihren Platz stellen. Am nächsten Tag ging sie zum Likbespunkt und meldete sich für einen Lese- und Schreibkursus an. Sie lernte sehr gut. Als sie mit dem Kursus fertig war, sagte man ihr, sie könne noch ganz andere Dinge lernen, Rechnen und wie man eine Lore mit elektrischem Antrieb lenke und wie man an der Drehbank arbeite. Sie fragte, ob man auch für den Aufzug ausgebildet werden könne, der hatte ihr gefallen. Man teilte sie jedoch nicht einem Ziegelpaternoster zu, sondern schickte sie zum Förderaufzug im Hochofenwerk. Der Obermechaniker erklärte ihr alle Hebel und Signale; dann sah sie ein paar Tage lang dem Mann zu, dessen Arbeit sie übernehmen sollte. Sie passte scharf auf, aber als sie dann zum ersten Mal die Hebel selbst in der Hand hatte, stoppte sie zu scharf, und ein „Hund" kippte um. Sie war sehr erschrocken, doch der Mechaniker tröstete sie; er sagte, das könne vorkommen, und sie solle doch einmal hinauf auf die Hochofengicht klettern und sich ansehen, wohin sie die „Hunde" fahren lasse und was mit der Ladung geschehe. Sie kletterte dann ein paar Tage lang nach der Arbeit hinauf auf die Gicht, sah sich den Fülltrichter und die Mischvorrichtung an und ließ sich genau erklären, wohin der Koks und das Erz und der Kalk fielen und was mit der Mischung geschah. Dann sah sie sich eine Woche lang beim Gussloch um, dann beim Gas, dann ging sie hinüber in die Kokerei, bis sie genau wusste, was für eine Arbeit alle Maschinen rundum zu leisten hatten und wie sie funktionierten. „Im Anfang war mir alles hier fremd und unheimlich, aber jetzt sehe ich in die Dinge hinein. Es ist gut zu wissen, wozu die Maschinen da sind und wie man mit ihnen umzugehen hat. Man wird so sicher und fürchtet sich nicht mehr. Im nächsten Monat will ich jeden Abend einen Mechanikerkursus besuchen. Ich möchte später gern im Elektrizitätswerk arbeiten, dort ist es so schön ruhig und sauber, und es ist alles so blank, ganz so wie in den großen Hotelküchen, die man im Film sieht. Vielleicht mache ich aber auch die Prüfung für Gasmechaniker. Fjodor Pogrebnikow, auch einer aus unserm Dorf, sagt, dass es beim Gas sehr gut ist; wenn ich hinkomme, sagt er, ist er schon Obermechaniker und hilft mir beim Einarbeiten." Fjodor Nikolajewitsch Pogrebnikow, der beim Gas arbeitet, hat die Mechanikerprüfung schon abgelegt. Er war früher Dorfschmied, aber auf die Dauer langweilte es ihn, immer die gleichen verbeulten Samoware und verbogenen Pflugschare zurechtzuklopfen, und als er im Sommer neunundzwanzig hörte, dass man bei Kusnezk ein großes Werk baue und dafür Arbeiter brauche, beschloss er, hinzufahren.
„Aber da kamen die Kulakenweiber zu meiner Frau und sagten: ,Hat dein Alter den Verstand verloren? Ihr werdet alle verhungern in dieser neuen Stadt!' Es war nicht möglich, die Alte umzustimmen; ich musste sie mit den Kindern zurücklassen; nur den ältesten Jungen nahm ich mit. Er besucht jetzt die Arbeiterfakultät in Nowosibirsk. Augenblicklich ist er hier, macht sein Praktikum; heute vertritt er den Ingenieur vom Dienst." Als sie in Nowokusnezk ankamen (so hieß das heutige Stalinsk damals), sahen sie sich erst einmal drei Tage lang auf allen Bauplätzen um. Keine einzige Werkabteilung war fertig, nur der Schlot des Kraftwerks war schon ohne Gerüst.
„Wir standen vielleicht eine Stunde vor dem Schlot und wunderten uns in einem fort, dass er nicht zusammenstürzte. Heute kommt er mir gar nicht mehr so hoch vor; man könnte glauben, er sei eingeschrumpft!" Sie fanden beide Arbeit in der Reparaturwerkstätte. Sie bauten eine Erdhütte und kauften zwei Betten und einen Schrank. Fjodor Nikolajewitsch schrieb seiner Frau, sie solle packen und mit den Kindern nachkommen, das Handwerkszeug möge sie den Leuten aus dem Kolchos schenken, er brauche es hier nicht. „Aber die Alte schrieb zurück:
,Kuma Awdotja sagt, es gibt bei euch viele Kirgisen, und die Kirgisen stehlen die Kinder; sie meint auch, es wird bald wieder Krieg geben, und dann wird in den Betrieben Hunger und Elend sein! Ich komme nicht!' Ich schrieb einen zweiten Brief:
,Komm oder bleib, wo du bist; ich gehe nicht mehr ins Dorf zurück!'
Nach einem Monat war die Antwort da: ,Kuma Awdotja ist verschickt worden; sie wollte die Kolchosscheune anzünden lassen. Mir ist jetzt alles gleich. Ich komme!'
Vierzehn Tage später war sie da. Gleich ging das Gejammer los:
,Eine Hütte habt ihr gebaut, aber den Hühnerstall und den Schweinekoben habt ihr vergessen! Und ein Backofen ist auch nicht da; wo werde ich Brot backen?' ,Du brauchst kein Brot zu backen, wir holen es uns!' ,Wie das: holen? Wer bäckt denn für dich? Hast du am Ende schon eine andere gefunden?'
Ich führte sie in den Kooperativladen und erklärte ihr, wie man dort einkauft. Zuerst brummte sie immer, wenn sie einholen ging, aber jetzt hat sie sich schon daran gewöhnt. Sie sagt: ,Selbst wenn man Schlange stehen muss, ist es noch bequemer, als selbst Brot zu backen!' Jetzt will sie auch nicht mehr ins Dorf zurück. Und in der Erdhütte will sie auch nicht länger bleiben. ,Man müsste in eines von den Arbeiterhäusern übersiedeln', meint sie, ,schau zu, Alter, dass wir eine Wohnung kriegen!' Na, im September kriegen wir eine. Dafür muss die Alte dann in den Likbeskursus gehen, das hat sich der älteste Junge von ihr versprechen lassen."
Wie er zum Gas gekommen sei? Der Junge habe sich beim Komsomol angemeldet und sei auf die Fortbildungsschule geschickt worden.
„Na, und da konnte ich doch nicht zurückstehen, da musste ich doch auch etwas lernen. Man brauchte damals gerade Mechaniker für die Gaswirtschaft der Hochöfen und richtete Abendkurse ein, da meldete ich mich eben an. Lesen, schreiben und rechnen konnte ich schon, die Dreherprüfung hatte ich auch abgelegt, so nahmen sie mich gleich in den Kursus auf. Manchmal war es nicht ganz leicht, mit den Jüngeren Schritt zu halten, aber ich sagte mir einfach, ich muss mitkommen, und wenn ich die halbe Nacht nachlernen müsste, und ich kam auch mit. Jetzt bin ich schon ein volles Jahr hier beim Gasregulator. Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause gehe und an dem neuen Kulturpark vorbeikomme, den sie jetzt anlegen, denke ich daran, was die im Dorf wohl gerade machen; aber zurück möchte ich nicht. Ich bin kein Dörfler mehr, ich gehöre hierher. Hier lebt es sich gut für unsereins. Es passt alles so schön zueinander, weil alles gleich neu ist: das Werk ist neu, und unsere Arbeit ist neu; ich bin ein neuer Mechaniker, und mein Sohn Pjotr wird ein neuer Ingenieur. Da kommt er gerade!"
Pjotr ist verschwitzt und rußig, er hat eben erst die Kühlanlage kontrolliert. Er hat große Pläne. Zwei Jahre noch, dann will er nach Ostsibirien gehen, auf den Bau des Angara-Jenissejsk-Kombinats, das anderthalbmal so groß werden soll wie Ural-Kusbass-oder nach Karaganda in Kasachstan, wo sie einen Buntmetallgiganten bauen werden.
„Und wenn Angara und Karaganda fertig sind, dann..."
„Halt!" unterbricht ihn der Vater. „Halt! Für die nächste Zeit genügen die zwei!"
Er will noch etwas sagen, aber der Junge ereifert sich: „,Genügen die zwei.' Was ist das für ein Opportunismus, Vater? Das klingt ja fast so, als wolltest du sagen, wir bauten zu viel Fabriken und würden einmal gar nicht wissen, wohin mit den Maschinen, die sie erzeugen! Aber wir sind doch nicht in Amerika! Dort, habe ich neulich gelesen, wissen sie tatsächlich nicht, was sie mit ihren Fabriken und Maschinen anfangen sollen; dort verwenden sie beim Kanalbau jetzt wieder Schippe und Haue wie früher einmal und lassen die Bagger und Sprengmaschinen verrosten; dort schreiben sie jetzt in Büchern und Zeitungen, dass die Maschinen wilde Tiere sind, die den Menschen umzingeln und vernichten!" Er ist in Hitze geraten; er steht da und spricht laut und mit lebhaften Gesten wie in einer großen Versammlung, obwohl nur wir drei ihm zuhören. „Aber wir sind hier eben nicht in Amerika! Bei uns kann die Maschine nie zum wilden Tier werden, bei uns wird sie immer nur ein Gehilfe des Menschen sein. Wenn wir erst einmal so weif sind, dass wir jedem lebendigen Arbeiter zehn oder zwanzig eiserne an die Seite stellen, dann können wir den Arbeitstag auf sechs, auf fünf Stunden hinunter setzen; dann können wir alle schwere und eintönige Arbeit von den eisernen Gehilfen verrichten lassen; aus jedem Arbeiter wird ein Organisator, ein Kontrolleur der Maschinen, gewissermaßen ein Ingenieur."

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