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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Gericht über schmutzige Stiefel

Der große Saal des Klubs im Barackenlager II ist bis zum letzten Platz gefüllt.
Wie wir eintreten, setzen sich gerade drei Männer und zwei Frauen hinter den mit einem roten Tuch bedeckten Tisch, der oben auf der kleinen Saalbühne steht. „Wir sind gerade noch zurechtgekommen!" sagt Ilja Alexejewitsch. „Man hat eben erst die Richter gewählt!" Wir erfahren noch, dass die Kollektivgerichtsverhandlung auf Wunsch des Gesundheitsamtes einberufen wurde; dass man die Richter nach einem Vorschlag des Gewerkschaftskomitees aus der Mitte der Versammlung gewählt hat und dass Zeugen und Angeklagte durch die Miliz vorgeladen wurden: „Die Kollektivgerichte sind nämlich nicht bloße Agitationsveranstaltungen, sie haben auch regelrechte Justizbefugnisse!"
Da steht der Vorsitzende auf, und es wird ganz still im Saal; er brauchte nicht einmal zu läuten, aber er läutet doch, recht ausgiebig sogar, und erklärt dann: „Die Gerichtssitzung ist eröffnet. Genossen und Genossinnen, wir treten sofort in die Behandlung des ersten Falles ein. Angeklagt ist der Bürger Tschernyschewski, Pawel Porfirjewitsch, Erdarbeiter auf dem Hochofenbau, Inwohner der Baracke 47. Er wird beschuldigt, trotz wiederholter Verwarnungen durch die Barackensanitätskommission, durch das Barackenkomitee und die Lagersanitätskommission, den gemeinschaftlichen Schlafraum Nr. 2 mit schmutzigen Stiefeln betreten, den Fußboden bespuckt und das Trinkwasserfass verunreinigt zu haben. Als Zeugen sind geladen: die Bewohner der Baracke 47, die Mitglieder der Lagersanitätskommission und der Führer der Erdarbeiterbrigade, in der Tschernyschewski arbeitet. Weitere Zeugen sowie alle diejenigen, die zu diesem Fall zu sprechen wünschen, mögen sich schriftlich zu Worte melden. Ich erteile jetzt dem öffentlichen Ankläger das Wort!"
Der öffentliche Ankläger, der Sanitätsarzt des Barackenlagers, beginnt seine Rede mit einer Schilderung der vorjährigen Typhusepidemie: welche Opfer an Geld, Gesundheit, Energie und Leben sie gefordert habe, warum der Kampf gegen sie so schwer gewesen sei und wie man den ,Typhuskrieg' schließlich gewonnen habe. Die Gebote der Hygiene, gegen die der Angeklagte ständig verstoße, seien von einer allgemeinen Lagerversammlung aufgestellt worden, in der richtigen Erkenntnis, dass man sich nur durch vorbeugende sanitäre Maßnahmen vor neuen Epidemiewellen schützen könne. Der Angeklagte habe sich also nicht nur gegen den Willen der Allgemeinheit aufgelehnt, seine Handlungsweise gefährde auch die Gesundheit und das Leben seiner Kameraden und Mitbürger. Erschwerend falle ins Gewicht, dass er sein gemeinschädliches Verhalten trotz wiederholter Belehrungen und Warnungen nicht geändert habe; als Milderungsgrund könne der geringe Bildungsgrad und das „frische Erbe des Dorfes" (der Angeklagte sei noch vor vier Monaten Einzelbauer gewesen) gelten. In Ansehung dieser Umstände beantrage der öffentliche Ankläger: erstens, Erteilung einer strengen, öffentlichen Rüge mit Anschlag an den Schwarzen Tafeln der Baracke, des Lagers und der Baubelegschaft; zweitens, Verurteilung zu einer Geldstrafe von zehn Rubeln. Der Angeklagte, ein großer, breitschultriger Mann mit kleinem Kopf und den Bewegungen eines gefangenen Bären, antwortet auf die Frage des Vorsitzenden, was er zu seiner Verteidigung vorbringen könne, indem er den Kopf schüttelt. Er steht unbeholfen da, weiß nicht, wohin er schauen soll, scharrt mit dem rechten Fuß. Wie der Vorsitzende ihm bedeutet, dass er sich wieder setzen könne, macht er so schnell kehrt, dass er dabei fast hinfällt. Die Zeugen machen nicht nur ihre Aussage, sie äußern sich auch zu dem Strafantrag des öffentlichen Anklägers. Den Bewohnern der Baracke 47 ist er zu milde. Sie haben im Vorjahre zwei Kinder durch den Typhus verloren, sie sind sehr aufgebracht, sie verlangen, dass ein Exempel statuiert werde. Der Vorsitzende der Sanitätskommission ist der gleichen Ansicht. Auch zwei Frauen aus der Zuhörerschaft fordern eine härtere Strafe: zwanzig Rubel und zehn Tage Kittchen! Der einzige, der für den Angeklagten eintritt, ist sein Brigadeführer; er bittet in Betracht zu ziehen, dass der Mann seiner Frau, die noch auf dem Lande lebe, Geld schicken müsse, und er gibt zu bedenken, dass die Arbeitskräfte aus dem Dorf durch exemplarische Bestrafungen eher abgeschreckt als erzogen werden. Er plädiert dafür, von einer Geldstrafe abzusehen und es bei einer Rüge bewenden zu lassen; er selbst verpflichte sich, über den Angeklagten die Patenschaft zu übernehmen und ihn auf den rechten Weg zu bugsieren: „Auf mein Wort als Stoßarbeiter!"
Das Gericht entfernt sich nicht zur Beratung, es berät im Saal. Seine Entscheidung wird dann von der Versammlung bestätigt, abgelehnt oder ergänzt. Der Vorsitzende läutet.
„Das Gericht schlägt der Versammlung vor, auf Erteilung einer strengen öffentlichen Rüge mit Anschlag an den Schwarzen Tafeln und auf eine Geldstrafe von fünf Rubeln zu erkennen; die Versammlung möge ferner das Versprechen des Brigadeführers Semjon Semjonowitsch Michailow zur Kenntnis nehmen und ihn verpflichten, aus dem Angeklagten ein seiner Pflichten gegen die Allgemeinheit bewusstes Mitglied der Sowjetgesellschaft zu machen. Ich schreite zur Abstimmung. Wer ist dafür?... Danke! Ist jemand dagegen?... Niemand. Ich stelle fest, dass die Versammlung den Spruch des Gerichts einstimmig gutgeheißen hat. Wir kommen zum nächsten Fall..." Der nächste Fall betrifft die Nichtmeldung einer ansteckenden Krankheit. Die Bürgerin Ljubow Nikiforowna Anjenkowa hat die Erkrankung ihres zweijährigen Sohnes nicht nur nicht gemeldet, sondern ihn sogar vor dem Arzt zu verstecken versucht, als der, von Nachbarn verständigt, kam, um nachzusehen, was dem Kind fehle. Motiv: „Ich hatte Angst, man wird mir das Kind nehmen und es ins Krankenhaus stecken; im Krankenhaus, habe ich gehört, werden die Kinder vertauscht."
Auch die Angeklagte Anjenkowa ist noch vom „Erbe des alten Dorfes" belastet: in dem Dorf, aus dem sie kommt, gibt es noch einen Popen und drei Kulaken. Die Angeklagte erklärt, sie sehe ihr Unrecht ein und wolle, um künftighin nicht mehr durch Unwissenheit zu einem schädlichen „Element oder wie das Zeug heißt" zu werden, einen Kursus zur Liquidierung des Analphabetentums besuchen. Der öffentliche Ankläger beantragt, diese Erklärung zur Kenntnis zu nehmen, darüber hinaus aber der Bürgerin Anjenkowa die Pflicht aufzuerlegen, auch noch einen Hygiene- und Sanitätskursus zu besuchen. Einstimmige Annahme.
Der letzte Fall: Anklage gegen den Bürger Gerassim Maximowifsch Tschurin wegen Sabotage der Impfaktion des Gesundheitsamtes. Gerassim Maximowitsch hat weder seine Kinder zur Impfung geschickt noch sich selber impfen lassen. Da die allgemeine Impfung gegen Typhus auf Beschluss des Stadtsowjets durchgeführt wird, muss die Handlungsweise des Beschuldigten als Sabotage einer Sowjetanordnung angesehen werden. Er wird, weil er auch andere zum Boykott der Impfung angestiftet hat, zu drei Wochen Haft verurteilt. Da er Mitglied der Partei ist (was sein Vergehen doppelt schwer macht, weil er als Kommunist den andern mit gutem Beispiel voranzugehen hat), wird sein Fall außerdem noch der Partei-Kontroll-Kommission übergeben.
„...das Urteil des Kollektivgerichts soll in den Zeitungen veröffentlicht werden. Ferner hat die Versammlung beschlossen, die Zentralsanitätskommission, den Gewerkschaftsrat und das Gesundheitsamt aufzufordern, in allen Lagern öffentliche Diskussionen über das Vergehen und die Verurteilung des Bürgers Tschurin abzuhalten. Wünscht noch jemand das Wort zu einer Erklärung oder zu einem Antrag?... Nein? Dann schließe ich die Versammlung!"

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