Gelbes Dynamit
Steppe.
Weit und breit Dunkelheit.
Durch die Nacht fährt der Zug, ein dünnes Kettchen feuriger Perlen, eine glitzernde Bewegung in der schwarzen Unbewegtheit.
An den Waggons Tafeln: „Mandschuria-Stolpcy." Eine kleine Station. Der Zug hält für wenige Augenblicke, fährt weiter. Du bist eingestiegen und gehst jetzt durch die Waggons in den Speisewagen. Die Leute im Zuge sind wie Passagiere eines Schiffes auf hoher See. Sie kennen einander (fahren schon den zehnten Tag in diesem Zug, begegnen einander immer wieder im Speisewagen, auf den Bahnsteigen der wenigen Stationen), blicken sich nach dir um, der du erst jetzt unter sie gekommen bist, der du ihnen fremd bist.
Du setzt dich an einen der Tische. Der Kellner stellt einen Teller mit rotem Borschtsch (Krautsuppe) vor dich hin -auf dem Teller steht: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" -, du siehst dich um, horchst auf fremde Worte in zwanzig verschiedenen Sprachen, siehst eine phantastisch buntgemischte Gesellschaft: Engländer, Amerikaner, Polen, Deutsche, Japaner, Perser, Chinesen... Der Zug „Mandschuria-Stolpcy" ist ein Schiff, auf dem ein Stückchen des gelbsten Asiens und ein Stück Europas und Amerikas über das ungeheure Meer UdSSR fährt. Die Passagiere des Schiffes „Mandschuria-Stolpcy" fahren über eine unbekannte See, sitzen hinter dem Glas der Fenster und blicken mit erstaunten Augen auf das, was draußen ist: Städte, Dörfer, Steppen, Wälder, Menschen... Mit erstaunten Augen, in denen Nichtverstehen, Unbehagen, Angst, Hass und Freude sitzt. Freude aber nur bei ganz wenigen, denn der Zug „Mandschuria-Stolpcy" ist ein
Schiff, auf dem ein kleines Stückchen jener fernen (ach, wie fernen) kapitalistischen Welt quer über den Ozean UdSSR fährt.
Du sitzt da und hörst zwanzig verschiedene Sprachen. In einer Ecke des Speisewagens, der eigentlich eine geräumige Gaststube auf Rädern ist, in der es sogar eine Bibliothek gibt, sitzt eine Gruppe junger Chinesen in hochgeschlossenen, weißen Hemdblusen. Ob sie übrigens jung sind? Wer weiß es? Es scheint so, weil ihre Art zu reden jugendlich wirkt. Sonst aber könntest du nicht sagen, ob es 20jährige Studenten oder 40jährige Professoren sind, die dort in der Ecke hitzig debattieren. Mit einem Mal wird das Durcheinander ihrer fremdklingenden scharfen Worte lauter, übertönt alle anderen Geräusche.
Du lässt den Löffel voll roter Suppe sinken, drehst dich um und versuchst vergeblich, auch nur ein einziges Wort aufzufangen, das an Bekanntes anklingt, das dir die Möglichkeit gibt, etwas von dem Inhalt der Debatte zu erraten, die dort hinten so hitzig geführt wird. Wovon sie wohl reden?
Und in diesem Augenblick fängst du das Bruchstück eines Gespräches auf, das am Nebentisch zwei unendlich lange, unendlich korrekte, unendlich englisch aussehende Gentlemen führen:
„Die dort...?" und die Shagpfeife des einen macht eine kaum merkliche Bewegung, als wollte sie zu den Chinesen hinüber weisen. „Yes..."
„Nach Moskau..." „Yes..."
„ ... an einer eigenen Universität..." „Yes... die Bolschewiken trichtern ihnen dort den Kommunismus ein ... haben eine eigene gelbe Universität..."
„So...?!"
Das Gespräch reißt ab. Auch die Debatte der Chinesen bricht ab. Aus dem Teller vor dir steigt verführerisch der Duft des Borschtsch empor. Du unterliegst und beginnst wieder zu essen.
Und nach einer guten Weile - du hast schon ganz das Gespräch der beiden Gentlemen am Nebentisch vergessen -hörst du den einen von ihnen sagen, als beendige er eigentlich erst jetzt die Konversation:
„Gelbe Universität... Fabrik zur Erzeugung gelben Dynamits, wollen Sie wohl sagen... wie?..." Und wieder macht die Shagpfeife eine fast unmerkliche Bewegung zu den Chinesen hinüber. Die „Fabrik zur Erzeugung gelben Dynamits" steht mitten in Moskau auf der Wolchonka. Das große, gelbbraune Gebäude trägt eine weithin leuchtende Aufschrift:
UNIVERSITÄT DER ARBEITENDEN CHINAS Dem Andenken an SUN YAT SEN
Im Garten vor der Universität, auf den Stiegen, in den Korridoren, lauter Rohmaterial für Dynamiterzeugung, lauter chinesische Studenten und Studentinnen. Lauter künftiges „gelbes Dynamit".
Genosse Hendryk Segaila, der administrative Direktor der Universität, spielt den Führer, zeigt uns die Universität. Im ersten Stock sind die Kanzleien der Verwaltung, des Rektorats, der Professoren; dann die Hörsäle, Klubräume und Bibliotheks- und Lesezimmer. Im zweiten Stock dann die Wohnräume der Studentinnen. Die Universität ist nämlich eine Art Internat: die Studenten lernen dort nicht nur, sondern werden dort auch beherbergt und beköstigt. Und Genosse Segalla öffnete die Türen zu den Schlafsälen
und lässt uns die weißen, hellen Räume, die sauberen Betten, die bunten Vorhänge, die Blumen in den kleinen Vasen auf dem Fensterbrett sehen.
„Wir haben hier 200 Betten für 200 Studentinnen. Die Studenten - 600 - wohnen zum größten Teil in unserem Haus auf der lljinka. Außerdem haben wir noch zwei Wohnhäuser in der Stadt..."
Wir gehen durch die Korridore, sehen die Wandzeitungen
an den Wänden hängen: bunte Teereklameplakate. Vor
der Wandzeitung ein Knäuel debattierender Studenten.
Durch die halboffene Tür eines Vortragssaals dringt der
Gesang junger Stimmen hervor:
„Von der Taiga bis zur britischen See ist nichts stärker als die Rote Armee ..."
„Sie singen! Haben schon russisch gelernt. Sind unglaublich fleißig: lernen vom frühen Morgen bis zum späten Abend..."
„Und was lernen sie?"
„Nationalökonomie, Geschichte der Revolutionen, historischen Materialismus usw. Neben den Universitätsvorlesungen gibt es eine ganze Menge von Klubvorträgen, von Seminaren, von Extravorlesungen. Der Klub arbeitet sehr gut, hat eine ganze Reihe von Sektionen, eine marxistische, eine leninistische, eine Musik-, Schach-, Literatur-, Esperantosektion und noch eine Menge anderer Sektionen. Außerdem arbeitet auch die Parteizelle auf dem Gebiete der Bildungsarbeit..."
„Wie? Sind denn nicht alle Studenten Kommunisten?" „Nein, die Mehrzahl von ihnen sind Kuomintang-Mitglieder. Nur eine Minderheit ist kommunistisch. Gerade gestern ist eine ganze Gruppe von Kuomintang-Leuten frisch aus China hier eingetroffen... geradenwegs aus Kanton."
Wir gehen weiter. Wir sehen die Bibliothek mit ihrem Schatz moderner China-Literatur, mit ihrer großen marxistischen Abteilung. Im Vorübergehen lesen wir einige Buchtitel: neben der deutschen Ausgabe des Kapitals steht das englische Statesman Yearbook und der französische Larousse Illustre. In einer Abteilung der Bibliothek zeigt man uns wertvolle alte chinesische Bücher und Manuskripte, in einer anderen Broschüren und Bücher, die vom Universitätsverlag herausgegeben wurden. „Hier borgt sich der Student die Bücher aus, die er zum Studium braucht, und die er von der Universität nicht geliefert bekommt; jeder Student bekommt bei uns nämlich eine ganze Anzahl von Büchern, die er zum Studium braucht, umsonst." „Umsonst?"
„Ja, selbstverständlich umsonst. Und nicht nur Bücher. Auch Hefte, Bleistifte, Papier, alles, was er zum Studium braucht. Und natürlich auch Kost, Wohnung und Kleidung..."
Und Genosse Segalla führt uns in das Magazin, wo es Tuchballen, Wäschekisten, Kisten voller Bleistifte und Hefte, Körbe voller Essbestecke gibt.
„Da... fühlen Sie mal. Ein guter Stoff, wie?" Sein Gesicht leuchtet vor Stolz, während er uns das Tuch für die Winterröcke „seiner" Studenten zeigt. Dann führt er uns in die Küche. Hier wird für 800 Personen gekocht. In großen, blinkenden Kesseln und Töpfen. Die Köche haben hohe, weiße Schürzen umgebunden. Hantieren mit langen Gabeln, zerlegen Fleisch.
Dann geht es in den Speisesaal. Viele kleine Tische, weiß gedeckt, mit Blumen geschmückt.
Dann weiter ins Ambulatorium, wo einer der beiden Universitätsärzte gerade eine kleine Operation vornimmt. Dann in die Rasierstube, in die Wäscherei... „Alles umsonst... alles umsonst!"
Und angesichts unseres Staunens:
„Sie wundern sich? Aber eine proletarische Universität kann doch von proletarischen Studenten nicht Geld dafür verlangen, dass sie lernen, um später ihrer Klasse nützlich sein zu können!"
Weiter geht es durch das Universitätskino, die Klubräume, die Krankenzimmer.
In einem der Zimmer sitzt ein Student und macht sich Notizen, schreibt etwas aus einem dicken russischen Buch ab. Die Füllfeder läuft hurtig über das Papier: von oben nach unten, von oben nach unten. Welch ein Kontrast: die amerikanische Watermanfeder und die bizarren, krausen Schriftzeichen, die da untereinander stehen! Dynamit! Dynamit für das gelbe Reich der Mitte. In einem anderen Zimmer begrüßt uns ein hagerer, langer Chinese mit den russischen Worten: „Sdrawstwujte towarischtschi...!" Lädt uns zum Sitzen ein. Wir setzen uns und beginnen ein Gespräch. Es geht nur mühsam vorwärts. Der Chinese spricht gebrochen russisch und sehr schlecht englisch. Aber wir verstehen einander doch.
Er fragt, woher wir kommen. Als er hört, dass wir Tschechoslowaken sind, sagt er langsam, mit fragendem Ton in der Stimme: „Pra-ga?" „Ja, ja ... und Sie?" „Hobee."
Die schmalen, schiefgesfellten Augen beginnen zu lächeln, als sie unsere höfliche Ratlosigkeit bemerken, die eifrig nickt:
„Hobee ... aha, ja natürlich: Hobee ..." „Hobee ... das Provinz sein in mittelchinesisches Reich ... jawohl, mittelchinesisches Reich noch ... aber bald schon wird gehören südchinesischen Republik ... Kanton ..."
Und in gebrochenem Russisch erzählt er von Hobee, wo gerade die Kämpfe zwischen Wu Pee-fu und der Kantonarmee im Gange sind. Er selbst war noch vor kurzem dort. „Wu Pee-fu viel Geld ... viel Geld von Engländern ... aber Kantoner haben gute Armee ... bessere als Geld ..." Er war Soldat in der Kantonarmee, hat gegen Wu Pee-fu gekämpft. Jetzt und auch früher schon. Gegen Wu Pee-fu und gegen die Engländer.
Zweimal haben die ihn gefangen und wollten ihn erschießen.
„So ... puff..." und er macht eine Handbewegung, als wolle er schießen.
„Aber nicht geschossen tot ... weggelaufen ..."
Und jetzt ist er nach Moskau geschickt worden, um zu lernen. Zwei Jahre soll er hier bleiben. Dann wird er
zurückkehren.
„Und dann ..."
Die schmalen, schiefgestellten Augen sind voll von Hass. Dann aber lacht er wieder: „Die laufen uns nicht davon ..."
Wir sitzen noch ein Weilchen, verabschieden uns dann. „Do swidanja towarischtschi ... auf Wiedersehen, Genossen!"
Wie wir schon auf der Schwelle stehen, fragt er:
„Ihr ... Kommunisten?"
„Ja ... und Sie? Kuomintang?"
Da zieht sich das breite Gesicht noch mehr auseinander, die weißen Zähne beginnen zu lachen und lassen ein chinesisches Wort hervorzischen, ein chinesisches Wort: „Ko-Mu-Nist."
Wirklich: ein chinesisches Wort.
Ein chinesisches Wort, das noch tausendmal chinesischer klingt, wie wir auf die Straße kommen und die kleinen Zeitungsverkäufer ausrufen hören:
„Wetschernaja Moskwa ... ! Rabotschaja Moskwa ... ! Iswestija ... ! Prawda ... ! Pobjeda kantoncew w Kitaje... Sieg Kantons in China! Die Kantonesen stürmen Hankou ... !"
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