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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Roter Weizen

Söhne der Taiga
Auf den Vorbergen des Altai stirbt das Abendrot. Im braunvioletten Zwielicht der Dämmerung, die rasch zunimmt, scheint die Steppe noch weiter und kahler zu werden, als sie es tagsüber schon war. Alles verändert sich: die Büsche, das Gras, die Wolken, der Wind - nur das dröhnende Rattern des Motors bleibt, wie es gewesen ist. Aber auf einmal setzt es aus. Der Wagen hält.
„Was ist?"
„Kann es noch nicht sagen, muss erst mal nachsehen." Kurgali  Koschkarbajew,  der Chauffeur, ein kleiner, säbelbeiniger Kirgise (aber Kirgise - das hat er uns erst heute Mittag beim Schaschlykbraten erklärt - darf man jetzt nicht mehr sagen, das war der russische Spottname für jene türkischmongolischen Stämme, die sich seit der Oktoberrevolution Kasachen, „freie Menschen", nennen), also der Kasache Kurgali steigt aus, geht nach vorn, werkt eine Weile am Motor herum und verschwindet dann unter dem Wagen, einem jener hochrädrigen Fords, die - zwar schon in Nishni Nowgorod (Anm.: heute Gorki) und nicht mehr in Detroit hergestellt und mit allen Errungenschaften modernster Automobiltechnik ausgestattet - in den Steppen Sibiriens doch wieder zu dem werden, was ihre Vorfahren vor mehr als einem Menschenalter im damaligen Fernen Westen waren: richtige Prärievehikel, für die Bach und Tümpel ebenso wenig Hindernisse sind wie Sturzacker und Buschgelände. „Wird es lange dauern?"
„Weiß nicht, aber sicher so lange, dass ihr ein bisschen Wasser holen könnt. Der Eimer muss irgendwo vorn liegen, ihr werdet ihn schon finden." „Den Eimer schon, aber wo sollen wir das Wasser herkriegen?"
Kurgali kommt unter dem Wagen hervorgekrochen und pflanzt sich grinsend vor uns auf.
„Augen habt ihr, und Brillen, und seht doch nichts! Dort!" Er zeigt nach links hin, in die Steppe hinaus. Wir starren in die Richtung, die er weist. Ich kann nichts entdecken, aber Alex sagt:
„Wartet mal... ich glaube... ich sehe dort... etwas wie... Rauch?"
„Richtig", lobt sie Kurgali, „dort lagert jemand!"
„Ich sehe keinen Rauch", wende ich ein, „und selbst wenn dort jemand lagert, so heißt dass doch noch nicht, dass auch Wasser..."
Doch Alex unterbricht mich.
„Komm!" ruft sie und packt den Eimer. „Blamier dich nicht noch einmal! Hast du denn deinen Lederstrumpf und Winnetou schon so vergessen, dass du nicht mehr weißt, wie unsichtbar ein richtiges Lagerfeuer zu sein hat?... Los, du Greenhorn."
„Pshaw", will ich, wegwerfend, wie es sich gehört, sagen, aber da zieht sie mich schon mit sich fort. Jetzt sehe auch ich den feinen, bläulich-weißen Rauchfaden. Er scheint geradewegs aus der Erde emporzusteigen, aber dann stehen wir mit einem mal am Rande eines Abhangs und sehen, dass das Feuer unter uns, auf der Sohle einer kleinen Mulde brennt, die zur Hälfte von dem dunklen Spiegel eines eiförmigen Wasserlochs ausgefüllt ist.
Um das Feuer liegen sechs Männer herum, trinken Tee und rauchen. Weiter hinten, im Schatten, sieht man undeutlich die Umrisse von Karren und weidenden Pferden. Wir grüßen und werden wiedergegrüßt. Dann fragen sie uns nach dem Woher und Wohin, und wir richten an sie die gleichen Fragen.
Sie sind Bauern. Aus der Taiga. Sie fahren nach Stalinsk, bringen Lauch, Zwiebeln, Eier, Brot und Wurst zu Markt und wollen Tuch und Geschirr einkaufen. Zwei Tage sind sie schon unterwegs, morgen müssen sie noch einen halben Tag lang fahren, und übermorgen Nachmittag geht es dann wieder zurück.
„Es lohnt sich fast nicht", meint einer von ihnen, ein Langer, Dürrer mit einem Pferdegesicht, „sieben Tage verlierst du mit der Fahrt; eine ganze Woche bleibt alle Arbeit zu Hause liegen, und du kannst dich nachher krumm und lahm schinden. Nein, es lohnt nicht!" „Früher ist man ja auch nicht zu Markt gefahren", sagt ein anderer, ein verhutzelter Alter, von dessen Gesicht man vor lauter Bart nur die hellen Augen und die rote, spitze Nase sieht, „früher ist man schön zu Hause geblieben." Ein Dritter, Junger, mit einer Stupsnase, bemerkt: „Früher konnte man aber auch nirgendwohin fahren. Da gab's doch die Stadt noch gar nicht." Der Alte widerspricht.
Nein, das sei es nicht. Man habe doch früher nach Alt-Kusnezk fahren können, und sei doch nicht gefahren. Die Sache liege einfach so: seitdem jeder zweite Mann aus dem Dorf in einer Fabrik oder einem Sowchos arbeite und als richtiger Städter, in Stiefeln und mit Hut, auf Urlaub komme und „so Zeugs, Spiegel und Uhren und neulich sogar eine singende Maschine" mitbringe, wolle eben niemand mehr in Bastschuhen herumgehen und Selbstgewebtes tragen.
Der Bauer schiele nach der Stadt. Das sei es. Und das sei schlecht.
Ein Vierter, auch ein Alter, pflichtet ihm bei: „Ja, sie schielen nach der Stadt. Sie wollen nicht mehr auf dem Dorf bleiben. Vor drei Jahren waren wir noch hundertachtzig Seelen, heute werden wir nicht mehr als siebzig sein. Und in einem Jahr...?" Der Stupsnasige wirft ein: „Sie wollen eben verdienen."
„Verdienen", sagt der mit dem Pferdegesicht. „Aber ist das ein Leben für einen, der immer nur Brot gebaut hat? Jetzt auf einmal muss er Ziegel karren oder Eisen hämmern oder an der Maschine stehen. Ist das ein Leben für einen Bauern?... Eh?" Der Verhutzelte wendet ein:
„Gut, das sind die in der Fabrik. Die sind Städter geworden, die leben nicht mehr auf dem Land. Aber die andern? Die auf den Sowchosen? Die leben noch auf dem Land und sagen von sich, dass sie Bauern sind, und dabei säen sie, ohne dass sie das Saatkorn in der Hand spüren, und dreschen, ohne dass sie einen Flegel auch nur zu Gesicht bekommen. Und erst die Ernte! Was ist das für eine Ernte? Du sitzt den ganzen Tag auf einer Maschine und hast die Ohren voller Lärm und die Nase voller Gestank! Das Herz muss dir weh tun, wenn du dabei an die Taiga denkst." Er verstummt.
Da meint das Pferdegesicht:
„Was willst du? Sie sind eben doch keine Bauern mehr. Sie sagen es ja selbst, ihr Sowchos ist eine Getreidefabrik." Der Verhutzelte nickt. Dann sagt er, während er seine lange, dünne Messingpfeife ausklopft - und in seiner Stimme schwingt dabei etwas von der Trauer, die in der biblischen Legende vom geschorenen Simson wohnt: „Ja, sie sind keine Bauern mehr. Sie arbeiten in einer Getreidefabrik, und auch den Bart haben sie sich schon abnehmen lassen..."
Die Hupe ertönt laut und ungeduldig. Wir greifen hastig nach dem Eimer und laufen zurück.

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