Das Dorf der Gerüchte
Trofim Terentewitsch, der Iswostschik, mit dem wir immer fahren, wohnt im Dorf der Spezperesilenzi, das sind die von ihren Mitbürgern wegen aktiven Vorgehens gegen die Kollektivierung ihrer Bürgerrechte entkleideten und mit Konfiskation des Grundeigentums und Aussiedelung bestraften Kulaken, von denen mehr als 15000 in Stalinsk leben, wo sie als Erdarbeiter, Handlanger und Kutscher arbeiten.
Jeden Tag erzählt er uns, was man sich im Kulakendorf zuflüstert und zuraunt. Oh, er glaubt nicht etwa an die „von den Feinden unserer teuren Sowjetmacht böswillig in die Welt gesetzten" Gerüchte, nein, wenn er uns davon berichtet, so bloß darum, weil man doch mit seinen Fahrgästen über irgend etwas sprechen muss, - und worüber soll man mit diesen Leuten sprechen, die den ganzen Tag über die Menschen ausfragen oder sich Fabriken und Bauplätze ansehen, oder Berichte und Artikel lesen, worüber soll man mit ihnen sprechen, wenn nicht über etwas, das sie nicht kennen?!
Und so erfahren wir das eine Mal, dass die Kirgisen schon wieder ein paar Russenkinder gestohlen haben; und ein anderes Mal, dass die Hochöfen von Magnitogorsk gar nicht existieren; und das nächste Mal, dass die Hochöfen von Magnitogorsk wohl existieren, aber kein Eisen liefern; und dann wieder, dass die Bolschewiken das Stalinsker Werk auf zwanzig Jahre den Amerikanern verpachtet haben, weil sie es allein nicht zu Ende bauen können; und heute, heute erfahren wir sogar, dass eine japanische
Armee schon seit zwei Wochen Nowosibirsk besetzt hält und demnächst auf Kusnezk marschieren wird. „Man müsste es sich unbedingt einmal ansehen, dieses Dorf der Gerüchte", meint Alex. „Könnten wir eigentlich nicht jetzt hinfahren? Sprich doch mit Trofim Terentewitsch! Aber er soll uns nicht nur hinbringen, er soll uns auch bei seinen Leuten einführen!"
Trofim Terentewitsch ist gar nicht entzückt von unserem Vorhaben. Er bietet seine ganze Redekunst auf, um uns davon abzuhalten: erstens sei es bei den Spezperesilenzi nicht interessant; zweitens würde man uns dort nicht gerade herzlich empfangen; drittens bringe ein Fremder aus den Leuten dort nichts heraus; viertens solle man sich als guter Staatsbürger oder loyaler Ausländer nicht mit solchen, der Bürgerrechte entkleideten Elementen einlassen; fünftens...
Aber wir bleiben unbelehrbar, und so fährt er uns schließlich in das Kulakenlager, nicht ohne uns unterwegs nochmals - zum wievielten Male schon? - die Geschichte von dem grausamen und ihm völlig unverständlichen „Zufall" zu erzählen, der ihn, den ergebenen Freund des sozialistischen Aufbaus und der landwirtschaftlichen Kollektivierung, ihn, der „eigentlich niemals ein richtiger Kulak" gewesen ist, in einen Topf mit ein paar „echten Kulaken" geworfen hat, die an einer Brandlegung im Nachbarkolchos nicht ganz unbeteiligt waren. Das Lager des Spezperesilenzi, in dem Trofim Terentewitsch wohnt - es gibt übrigens, wie wir nachher erfahren, in Stalinsk außer diesem großen noch drei kleine - unterscheidet sich jetzt, bei Tag, nicht von den anderen Arbeitersiedlungen.
„Nachts freilich sieht es hier anders aus", belehrt uns Trofim Terentewitsch, „da sind die Gassen tot. Die Bewohner dürfen die Baracken nicht verlassen!"
„Und tagsüber dürfen sie sich frei bewegen?" „Ja, in Stalinsk. Das Stadt- und Werksgebiet dürfen sie jedoch nicht ohne Erlaubnis verlassen. In den Betrieben werden sie so behandelt wie alle anderen Arbeiter; sie werden nicht überwacht und bekommen vollen Lohn." Im Gemeinschaftsraum der Baracke, in der Trofim Terentewitsch haust, sitzen ein paar Männer, langbärtige Bauern, um den Tisch herum und rauchen.
Anfangs will kein richtiges Gespräch aufkommen; sie sind mürrisch und misstrauisch; aber nachdem Trofim Terentewitsch erklärt hat, er kenne uns gut, wir seien „goldene Menschen" und würden, zum Beweis dafür, gleich einmal eine Flasche Wodka auf dem Tisch erscheinen lassen (oh, er wisse sehr gut, dass wir keine Flasche bei uns haben, aber ein Dreirubelschein tue es auch; wenn der da sei, finde sich die Flasche schon); und nachdem sie sich wirklich gefunden hat, tauen sie auf.
Wie es ihnen gehe? Schlecht gehe es ihnen, natürlich, meint ein Alter mit einem Vogelgesicht.
„Muss es einem Bauern nicht schlecht gehen, wenn er nicht wirtschaften kann?!"
Warum er dann nicht um Ansiedlung in einem der Landbezirke angesucht habe, in denen ausgesiedelte Kulaken Land zugewiesen erhalten?
Statt einer Entgegnung zuckt er nur mit den Achseln. Sein Nachbar, ein dicker Mann mit einem Leberfleck unter dem rechten Auge, antwortet für ihn: „Man kriegt nicht mehr Land, als man allein bearbeiten kann. Soll er jetzt, auf seine alten Tage, den Kleinbauer spielen, wo er den schönsten Hof im ganzen Dorf gehabt hat? Sechs Pferde, acht Kühe, eine eigene Sämaschine!" Ein dritter, Rothaariger, fügt hinzu:
„Und dann: man will dort wirtschaften, wo man den Boden kennt, wo man aufgewachsen ist, wo der Vater und Großvater gewirtschaftet haben. Dort... oder eben gar nicht!" Der mit dem Leberfleck ist nicht einverstanden: „Ach was, hier oder dort, das ist mir gleich. Aber du kommst heutzutage als Einzelbauer nicht mehr gegen die Kollektive auf; die haben Maschinen und Kunstdünger und Silos und Traktoren. Wenn ein schlechtes Jahr kommt, bringen die immer noch etwas in die Scheuern ein, unsereiner aber liegt auf dem Bauch und muss sich von den Sowjets das Saatgut geben und den Anbauplan vorschreiben lassen. Nein, nein, dann schon lieber auf einem Werkbau arbeiten!"
„Ja", stimmt das Vogelgesicht zu, „lieber keine Felder mehr zu Gesicht bekommen! Lieber hier sitzen und..." Er verstummt.
„Und?" fragt Alex, „Was: und?"
Wieder zuckt der Alte nur mit den Achseln und wieder antwortet der mit dem Leberfleck für ihn: „Und warten!" „Warten? Worauf denn?"
„So... Die Erde ist rund... Es kann vieles kommen..." „Was kann schon kommen? Die Japaner vielleicht? Aber die sind ja gar nicht in Nowosibirsk. Wir waren vor ein paar Tagen dort und haben von ihnen nichts bemerkt!" Trofim Terentewitsch mischt sich ein. Zu dem Alfen gewandt:
„Sie sagen auch, die Magnitogorsker Hochöfen geben Eisen! Sie sagen, sie waren dabei, wie der zweite Ofen angestochen wurde!" Der Alte wiegt den Kopf:
„Sie sagen, sie haben das Eisen gesehen. Aber ich habe das Eisen nicht gesehen. Wo ist es? Gerassim Markowitsch hat mir erzählt, er wollte eine Rasierklinge kaufen, aber man hat ihm gesagt, dass es keine gibt. Wo ist also das Eisen, frage ich!"
Einer, der bisher noch nicht den Mund geöffnet hat, einer, der schon halb städtisch aussieht mit seinem gestutzten Bart, bemerkt:
„Also es gibt doch Traktoren, wohin man schaut, meine ich. Bei uns zu Hause haben sie im Kolchos doch mindestens dreißig neue Traktoren bekommen, das ist doch Eisen, meine ich!"
„Ach du!" sagt der mit dem Leberfleck verachtungsvoll. „Was redest du da mit? Es wird gar nicht lange dauern, und du findest noch, dass dir recht geschehen ist, wie sie dich ausgesiedelt haben. Du gehst ja schon zu ihnen!"´
Stille.
Das Gespräch kommt nicht wieder in Gang. Wir gehen.
Draußen fragen wir Trofim Terentewitsch:
„Was sollte das heißen: ,du gehst schon zu ihnen'? Wohin geht er?"
„In den Kurs. Er will Betonmischer werden, qualifizierter Arbeiter."
„Gehen viele in Kurse?"
„Nein, nur ein paar von den Jüngeren."
„Und die andern, die Älteren?"
„Die warten. Ihr habt es ja gehört!"
Ja, die Alten warten. Auf die Japaner, auf die Amerikaner, auf ein Wunder - darauf, dass das Heute wieder zum Gestern wird.
Aber während sie warten, üben draußen, auf dem freien Platz vor der Schule, ihre Kinder und Enkel, die halbwüchsigen Burschen und Mädchen einen seltsamen Tanz und ein seltsames Lied. Sie klatschen in die Hände, sie drehen sich zu zweit, zu viert, sie singen - wir trauen unseren Ohren nicht - aber es ist so: „Schmiert die Guillotine, Schmiert die Guillotine..."
Im Lager der Spezperesilenzi, in diesem Dorf der giftigen Gerüchte, des stumpfen Wartens und der verzweifelten Hoffnung, singen und tanzen die Kinder der ausgesiedelten Kulaken den Reigen der Komsomolzen — die Carmagnole!
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